28.02.2022
Es ist Krieg und ich begehre, nicht schuld daran zu sein: In der Parlamentsdebatte gestern wurde es nicht ausgesprochen, aber es war spürbar, ampelicherseits war man erleichtert. Russland war, wie zuvor immer behauptet, der Aggressor. Die Linke kroch zu Kreuze, ertrug alle Häme als gerechtfertigte Kritik und bat um Vergebung für die Fehleinschätzung ihres vormaligen Freundes. Die Freude der Regierenden, wie über einen gelungenen Coup, glänzte durch alle ihre Reden, man genehmigte sich künftige, noch viel größere, Geld für die Rüstung in nie erhofften, schwindelnden Höhen vor allem, und sprach sich insgeheim aller anderen Verpflichtungen ledig. Es gibt keine Klimakatastrophe und keine Kinderarmut mehr, es gibt nur noch die Wertegemeinschaft der Demokraten, die es, auch unter Opfern, militärisch zu verteidigen gilt.
Russland ist in die Falle gegangen, die Kriegspartei hat es jetzt da, wo sie es haben wollte. Ich halte mich bei dieser Frage nicht mit Psychologie auf, ich sehe auf die Zahlen. Seit Jahren und Jahrzehnten liegen die Ausgaben für Militär und Rüstungsgüter in der Nato, sowohl pro Kopf gerechnet als auch absolut, um ein Vielfaches höher als die Russlands oder Chinas. Selbst wenn ich mit einrechne, dass nordamerikanische oder deutsche Bombenbauer teurer sein könnten als russische oder chinesische, sowie sämtliche Nato-Heere so ineffektiv, wie das die Bundeswehr, nach Mitteln greinend, von sich behauptet, selbst dann zeigen die Zahlen überdeutlich, wer wen bedroht. Der Rest ist Propaganda.
Wer noch irgendetwas will von der Ampelregierung, Schritte zur Klimagerechtigkeit gar, hat nur eine Chance: den Kampf für eine möglichst rasche, möglichst umfassende Abrüstung aufzunehmen, fridays for disarmament. Der Kapitalismus ist eine Weltverbrennungsmaschine, die angehalten werden muss. Der Krieg ist dasselbe, in Reinform.
Es ist dabei nicht so, dass der Krieg unsichtbar, unhörbar herangezogen wäre. In meinem Arbeitstagebuch fand ich diese, Jahre alten Einträge:
„So wie die Politik läuft, ist es schwer, nicht paranoid zu werden. Immer, wenn etwas passiert, ist die Antwort der Regierungen schon fix und fertig. Und sie geht immer in die gleiche Richtung: Beschneidung bürgerlicher Freiheiten, militärische Aufrüstung nach außen, und nach innen Nationalismus. Es wird keine Absicht, keine Planung dahinter stecken, sondern sich um das Ergebnis sich selbst erfüllender Prophezeiungen handeln, zum Beispiel der, dass ein Krieg unvermeidlich sei. Unvermeidlich ist der Krieg allerdings nur im Rahmen der für alternativlos gehaltenen Wachstumsfixierung, in der Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten militärisch gesichert werden muss, eben weil diese Art des Wirtschaftens immer größere Teile der Menschheit ins Elend stößt und dieses Elend dann zu Piraterie, Bürgerkriegen und anderen den Welthandel gefährdenden Erscheinungen führt. Die Wut, die Erde zu einem unbewohnbaren Ort zu machen, ist dem Kapitalismus eingeschrieben.“ (19.11.2015)
„Politisch ist es merkwürdig ruhig, die Geflüchteten ersaufen in aller Stille, die AfD scheint es gar nicht mehr zu geben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass das Geschäft mit der Angst wieder fallen gelassen wird. Und auch nicht, dass die Kriegstreiberei abgeblasen oder auch nur einen Grad leiser gestellt wird. Das würde kaum ins Bild passen. Ein großer, weltumspannender Krieg wäre einfach der Ausweg aus der ökonomischen Stagnation, aus der Überproduktion und Absatzflaute. In fünf Jahren gegen Russland und China.“ (05.03.2017)
Nachtrag aus meinem Arbeitsjournal vom 01.03.2022
Die Stadt München hat den Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker entlassen, weil der, trotz Aufforderung, sich nicht von Putin und dessen Einmarsch in die Ukraine distanziert habe. Ich kann nur vorschlagen, dieses Verfahren zur Norm zu machen und vorsorglich sämtlichen in öffentlichem Auftrag Tätigen ein solches Distanzierungsschreiben abzuverlangen. Um auf ihre weiteren Dienste zu verzichten, im Fall, dass ihr Schreiben nicht eintrifft oder nicht eindeutig genug ausfällt, vom städtischen Busfahrer angefangen über die Honorardozent*innen an der Volkshochschule bis ganz hoch zur Staatssekretärin. Das würde die Demokratie, die „wir“ im Augenblick so entschlossen „gegen Putin“ verteidigen, sicherlich ganz ungeheuer stärken.
Nachtrag aus meinem Arbeitsjournal vom 07.03.2022
Ich sehe weiter den Veränderungen der geopolitischen Lage zu, sehr beunruhigt selbstverständlich, aber allmählich zeichnet sich mir in ersten Umrissen ab, worauf das Desaster vermutlich hinauslaufen wird, auf die Formierung eines russisch-chinesischen und eines Nato-Blocks. Russland wird im Augenblick, nicht zuletzt mit den Mitteln des groben Raubes, nämlich der Konfiszierung seiner Devisenreserven, vom Westen finanziell so geschädigt, dass es im Rückblick, anstelle des Waffenganges, wohl die bessere Option für das Land gewesen wäre, dem Westen die Öl- und Gashähne zuzudrehen. Leider: Vor die Wahl gestellt, ein Geschäft zu riskieren oder etliche tausend Menschenleben im Krieg zu opfern, fällt die Entscheidung üblicherweise zugunsten des Krieges. Doch seine westlichen Öl- und Gasmärkte ist Russland jetzt ohnehin los und muss sich andere Käufer suchen, solche, mit denen es sich ohne Zuhilfenahme von Dollars handeln lässt. Nun hätten zwei Drittel aller Staaten der Erde aber schon länger nichts lieber, als sich den finanziellen Schlingen des Westens entziehen zu können, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie freedom and democracy im Handel sehr schnell links liegen lassen, sobald Russland und vor allem China anfangen, im größeren Umfang Alternativen zum Dollar anzubieten. Und das wird kommen. Die Welt als Ganzes wird deshalb kaum länger auf Seiten der Ukraine stehen, als die diplomatische Höflichkeit es gebietet; der Westen kann die kriegerisch-ökonomische Auseinandersetzung sicherlich wie gewöhnlich um viele desaströse Jahre verlängern, aber nicht gewinnen. Das Schlimme dabei ist nur, dass die westlichen, wertebasierten Ex-Kolonialherren äußerst schlechte Verlierer sind. Sie denken, kraft ihrer Wassersuppe gehöre die Welt ihnen und müsse nach ihrer Pfeife tanzen. Und wer sich daran nicht hält, der ist ihnen ein höchst vernichtungswürdiger “Feind der Freiheit.”
Nachtrag aus meinem Arbeitsjournal vom 21.03.2022:
Freilich, in den Krieg zu ziehen, beim derzeitigen Stand der Bewaffnung und Industrialisierung zumal, ist immer auch mörderisch-selbstmörderisch. Die Kriege des Westens der letzten Jahrzehnte hatten nie auch nur einen annähernd gleich starken Gegner, es war westliches HighTec-Arsenal gegen mit automatischen Gewehren und Raketenwerfern bewaffnete Gruppen in unwirtlichen Umgebungen. Und schon diese Kriege konnten nicht gewonnen werden. Ein Krieg, wie ihn Russland jetzt begonnen hat, zwischen Atomkraftwerken und Industrieanlagen in einem Land mit großen Städten und zwischen zwei hochgerüsteten Gegnern dürfte gleichfalls nicht zu gewinnen sein, kann aber jederzeit katastrophal entgleisen, weit über die Katastrophe hinaus, die er bis dahin ohnehin schon ist. Das ist das Unwägbare der jetzigen Situation. Und ich fluche allen, die meinen, eine Politik militärischer Stärke führe irgendwo anders hin als in den Tod. Was passiert, wenn die Amokschützen die Oberhand gewinnen?
***
Exposé: Die Seelen, Komödie nach Motiven des Stücks Der Frieden (Eirene) von Aristophanes
Kurzer Abriss der Handlung:
Im Himmel, dem Ort aller Toten, gibt es keinen Platz für Liebende; er ist hoffnungslos überfüllt. Die Seele Möllingers hat nicht nach den Ursachen dieser Überfüllung geforscht. Ihr Ausweg war, von der Wolkenmatte, auf der dicht gedrängt die Seelenmassen stehen, ein winziges Teil für sich allein abzutrennen. Das Eigenwölkchen soll der Ort der Wiedervereinigung mit Irene werden, Möllingers Frau, die noch auf der Erde lebt. Die Komödie Die Seelen beginnt mit Möllingers Schlaf. Mithilfe eines von ihm gefangenen Windes hatte er sich himmlischen Wein beschafft und getrunken. Um – in der Hoffnung, eine dort von ihm getränkte Pflanze würde als Leiter bis zu ihm in den Himmel wachsen – in Irenes Garten zu pinkeln. Die Sache geht schief, Irenes Haus stürzt ein, die stürmisch wachsende Pflanze, eine Bohne, fegt Möllinger von seiner Individualwolke und trägt ihn geradewegs vor Gottes Thron. Er findet ihn verwaist und, nur Minuten später, vom Krieg okkupiert vor. Derart über die Ursachen der Überfüllung des Himmels belehrt, errät Möllinger schnell die Methode, ebendieser Überfüllung Herr zu werden: Zusammen mit den ihn begleitenden Seelen schließt er das Himmeltor zu und lässt nur noch Tote passieren, die glaubhaft versichern, dass sie sie nach einem erfüllten Leben an Altersschwäche gestorben sind. Möllingers Neuerungen bleiben auf der Erde nicht ohne Folgen. Sie werden aber, nachdem Möllinger den Tod überlistet hat, sämtlich ratifiziert, weshalb die Komödie, nach Aufnahme der Irene in den Himmel, völlig zu Recht mit den Worten „Frieden auf Erden“ enden kann.
Hintersinn:
Ich habe mich mit einer alten literarischen Aufgabe beschäftigt, der, den Krieg abzuschaffen. Sie kommt von Aristophanes her, der sie zweimal vorbildlich gelöst hat. Seine Tricks, den Krieg zu besiegen, sind absolut solide. Ein Beischlafstreik, das fühlt jeder, gäbe es nur eine Lysistrate, ihn zu organisieren, er wäre erfolgreich. Und auch ein Trygaios zaubert nichts aus dem Hut, sondern fliegt auf seinem Mistkäfer dahin, wo die Entscheidungen wirklich getroffen werden: zu den Göttern in den Himmel. Das Fürchterliche des Krieges und die Stärke der Mittel, es zu bannen, entsprechen sich bei Aristophanes. Dennoch lässt sich fast nichts davon auf die heutige Welt übertragen. Rund drei Milliarden Frauen zu organisieren, überfordert auch die tüchtigste Lysistrate. Und die Götter – haben Götter noch irgendwo irgendetwas zu melden?
Was sich von Aristophanes ablernen lässt, ist eine Haltung. Sein Personal beklagt den Krieg nicht, weil er Krieg ist, schlimm, unmoralisch, unmenschlich, grausam, verbrecherisch. Es beklagt ihn, weil er stört. Die kleinen Geschäfte, das Liebesleben, die Behaglichkeit, das sind die Dinge, die leiden. Was die Menschheit derweil macht und warum, ist dagegen ziemlich wurscht. Eine einzige Atombombe versaut einem den ganzen Tag. Mir war klar, sobald ich das Kollektiv gefunden hätte, das auf diese Weise dem Krieg sein Dasein krumm nimmt, würde ich auch zu dem starken Mittel gelangen, mit dem er aus der Welt zu schaffen wäre. Ich habe mich nicht geirrt.
Es war nicht leicht, dorthin zu kommen. Die grausame Wahrheit ist, der Krieg, einschließlich des Bandenkriegs in den Städten und des Terrorismus, stört heute niemanden mehr. Er ist eine Form, die Masse der Überflüssigen zu bewirtschaften, deren Arbeitskraft wertlos und deren Produkte unverkäuflich geworden sind. Und die Leute fügen sich drein, von irgendetwas müssen sie schließlich leben. Wer will schon für den Frieden verhungern. Soldaten, bewaffnete Räuber, ihre Prostituierten und kindlichen Handlanger mit einbegriffen, sind die, die unter diesen Umständen noch am besten leben. Anders gesagt, die an ihren Kapazitäten erstickende Industrie entlässt immer mehr Menschen in das Hordenwesen der Steinzeit. Dass diese Steinzeit besser bewaffnet ist als jede vorangegangene, schafft der Industrie einen der letzten Absatzmärkte, der noch Wachstum verheißt.
Immerhin: Sterben bleibt lästig, das ist so sicher, wie jeder einzelne Krieger die Waffe nimmt, um nicht als erster dran zu glauben. Aber einmal fertig gestorben, ist es auch überflüssig geworden, sich gegen die Zumutung des Sterbens zu wehren. Wer tot ist, ist aus dem Spiel.
Zwangsläufig?
Ich begann, mich mit dem Jenseits zu beschäftigen, Himmel, Hölle, Geisterwelt. Gegenden, in die sich sogar ab und an ein Autor verirrt hat. Das Jenseits ist nicht jenseits der Literatur. Und selbstverständlich verändert es sich, wenn die Zahl der Kriegsopfer im gleichen Schritt mit der Weltbevölkerung zunimmt. Es füllt sich. Es füllt sich wahrscheinlich zu sehr. Es entsteht eine Enge, die noch die Toten belästigt. Derjenige jenseitige Gegner der unkontrollierten Zuwanderung, der es schafft, den Eingang zum Jenseits gegen die Kriegsfolgen abzuschotten, der also systematisch und massiv Kriegstote ausweist, würde, ohne darauf abzuzielen, aus egoistischen Motiven den Krieg abschaffen. Weil er die Bequemlichkeit stört. Oder das Liebesleben. Ich hatte gefunden, was ich benötigte, um meine literarische Aufgabe lösen zu können. Ein Gegenwartsstück ist entstanden, von dem ich hoffe, dass es die Ängste und Nöte, das Unbehagen und die Ressentiments eines breiten Publikums aufzugreifen und kathartisch zu bearbeiten vermag. (Frühjahr 2013)
Chorlied aus: Die Seelen (Umgekehrt schwingt der Tod seine Sense)
Dem Leben entgegen fallen sie,
Genau an die Stelle, wo eben sie starben,
Ihre Bahn aufwärts ist auch die wieder hinab,
Rückwärts nun rollt das Geschehen,
Unerbittlich, zum zweiten Mal ab:
Wir sehen sie fliegen, ihre Fetzen
Im Schein der Explosionen, brennen
In weißen Flammen, wirbeln
In schwarzem Rauch, aber:
Es hebt das Blut vom Boden sich auf,
Fließt durch die Luft der Wunde zu,
Welche es gierig verschluckt,
Die Hand fährt an den Arm,
Der Fuß tritt unter sein Bein,
Die Augen rollen zurück in die Höhlen,
Der zerbrochene Kopf setzt Stück
Für Stück sich wieder zusammen und
Der Bauch saugt ein sich die Därme,
Ein gieriger Esser Spaghetti, es schließt
Die Klinge den Schnitt, den sie verlässt:
Umgekehrt schwingt der Tod seine Sense!
Als Nachbarn wieder stehen sich gegenüber,
Verdattert, intakt in den Uniformen, Soldaten,
Hilflos in ihrem Hass, der keine Entladung
Im Kampf mehr findet, im Tod
Keine Erlösung, sie stehen, heben
Die Waffen, lassen sie sinken, Tränen
Schießen ihnen in die Augen, Tränen
Ohnmächtiger Wut: So lange kennen sie sich,
So lange verfolgen sie sich, Leben um Leben,
Und nun das: Umgekehrt
Hat der Tod seine Sense geschwungen!
Sie raufen das eigne Haar in Büscheln vom Kopf,
Beißen sich in die eigenen Hände,
Sie brechen zusammen, liegen am Boden,
Schluchzend, verlassene Kinder, vom Krieg
Verwaist und ausweglos ausgeliefert
Ihrem grausamen Dasein. Was,
Tod, hast du ihnen getan? Sie werden
Nur trauern, sich grämen, innerlich schwelen,
Unerlöst ist ihr Leben, unerlöst ist
Für immer ihr Hass.
(Frühjahr 2013)
Chorlied aus: Die Seelen (Schlussgesang der Engel)
In dem von zu vielen Toten gelichteten Himmel
Bleibt auf immer zugewandt der Verstorbenen Auge
Zärtlich der alten Heimat nun,
Der befriedeten Erde: Kein Hammer wiegt dort sich
Jemals mehr in einer Hand und wägt
Den Kopf eines verabscheuten Andern, kein Messer,
Aus dem Brotlaib gezogen, sucht
Das unter den Rippenbögen schlagende,
Gehasste Herz. Werkzeug
Ist Werkzeug geworden, die Arbeit
Erleichtert, den Reichtum vermehrt es. Ruhig
Nimmt Abschied von der Erde die Seele,
Lehnt sich zurück und spürt
Im Rücken die Wärme des Himmels,
Des sanften Vergessens.
Ein geht sie schließlich,
In unsere Arme, geht ein
In das Lächeln des Höchsten,
Das hinter ihr aufging,
Von ihr unbemerkt,
Über den Frieden auf Erden.
(Frühjahr 2013)