ESAU (Minidrama in fünf Akten)
Personen: Rebekka, Jakob, Diener Jakobs, Esau, Isaak
In den Zelten Isaaks, in dessen hundertstem Jahr
„Der Riese, das ist der nicht durch Fehler der Welt eingeschränkte Mensch.“ (Peter Hacks, 1965)
I. Akt
In der Mitte des Zelts ein Feuer, daran Rebekka. Etwas abseits, vor sich Zeichen in den Boden ritzend, Jakob. Isaak sitzt im Hinterzelt, man hört ihn husten.
DIENER (tritt auf) Jakob, Herr! Sachen gibts, die gibt es nicht und die passieren!
JAKOB (blickt auf)
DIENER Herr, die Knechte bei der Löwenjagd, sie hatten die Bestien eingekreist, da zieht ein Sandsturm auf. Und wie der sich legt, sind die Löwen weg und Säcke liegen da. Getreidesäcke.
JAKOB Getreidesäcke. Ein Transportsturm.
DIENER Herr, im Ernst.
JAKOB Und die Säcke?
DIENER Herr, die Jäger werfen sich nieder in den Staub, sie fürchten Gott. Da kommt der Sturm zurück und danach sind die Säcke weg.
JAKOB Die Löwen zu Säcken, die Säcke zu Nichts. Gott ist wahrhaftig allmächtig. Aber ich finde, die Jäger hätten doch etwas mehr aufpassen dürfen. Wie viele Säcke, sagst du, waren es?
DIENER Die Jäger sagen zehn, zwölf. Oder mehr.
JAKOB Du ziehst ihnen ein Dutzend Sack Getreide vom Lohn ab. Dafür, dass sie die Löwen haben entkommen lassen. – Zwischen all den Stürmen, meinen Bruder Esau haben sie nicht gesehen?
DIENER Keine Meldung, Herr.
JAKOB Er ist schwer zu übersehen.
DIENER Herr, es stürmte immerhin.
JAKOB Gut. Schick den Trupp nach Saba. Bei den Herden dort sind Schafe gerissen worden. (Handbewegung, Diener ab) He! (Diener zurück) Bevor die Schatten sich nur eine Handbreit verschoben haben, bist du zurück! (Diener ab. Jakob notiert:) Verlust, zwölf Sack Getreide. Geht zu Lasten der Jäger.
II. AKT
Die Vorigen. Riesenstaubwolke.
ESAU (wird sichtbar, als die Staubwolke sich senkt) Ah, der heimatliche Duft. Ich grüße froh die altvertrauten Ziegenhäute, Isaaks Zelt und Feuerstätte! Hier riecht es gut.
ISAAK (Stimme aus dem Hinterzelt) Esau? Ist es Esau, der gekommen ist?
ESAU Esau. Hier bin ich Vater. Wie fühlst du dich?
ISAAK Mein Sohn, ich bin recht munter.
ESAU Noch munterer wirst du! Dein Sohn, heut früh als Bauer losgelaufen, als Löwentöter kommt er mittags heim.
ISAAK Allmächtiger Gott!
ESAU (stolz, indem er langsam zum Hinterzelt abgeht, Jakob und Rebekka zugewandt:) Ich sollte nämlich dem Elon heute morgen Getreide liefern. Nun, das Feld ist nass – ich blas es trocken. Die Schnitter sind bei Jakob – mähe ich eben allein. Das Dreschen nachher – mit den Händen. Und in die Säcke – so. Mit denen losgerannt, bekomme ich es mit den Löwen. Die Waden jucken mir, und ich fange an, mal auf dem und mal auf dem andern Bein zu springen, um mich zu kratzen mit dem freien Fuß. So kam es zum Kampf. Dumm war nur, ich habe dabei Säcke und Löwen durcheinander geworfen und durfte wegen der Säcke noch mal laufen. Elon wollte keine Löwen.
ISAAK Großer Gott, dein Geist treibt aus in meinem Sohn!
ESAU (lacht, wendet sich um, ins Hinterzelt ab)
REBEKKA (erhebt sich, geht zur hinteren Zeltwand und lauscht dort)
DIENER (tritt auf) Herr?
JAKOB Schick zu Elon. Der hat Löwenkadaver vorm Zelt liegen. Wie vielen Löwen, sagst du, wart ihr auf der Spur?
DIENER Dreien.
JAKOB Gut, gib den Männern pro Löwe ein Böcklein mit, falls Elon einfällt, etwas zu verlangen. Sie sollen es ihm aber nicht gleich anbieten. Die Löwen lass Duma bringen zum Häuten. Verkauf an die Syrer, ein Fell drei Maultiere. (Handbewegung, Diener ab)
ESAU (kommt aus dem Hinterzelt, wirft Jakob eine Kusshand zu, Riesenstaubwolke, ab)
III. AKT
Jakob und Rebekka.
REBEKKA (läuft zu Jakob) Jakob, jetzt ist es soweit, Isaak schickt Esau, Esau geht Wild jagen, Isaak will es essen und Esau dann den Segen geben, die Felder, Herden, Weinberge. Du musst Esau sein, Jakob. Esau hat es dir für einen Teller Linsen verkauft.
JAKOB Mutter, das war vor langer Zeit. Ein Scherz.
REBEKKA Eben, genau das ist es! Für Esau ist alles nur Scherz!
JAKOB Wie soll ich das anstellen, Mutter, wie soll ich soll Esau sein?
REBEKKA Du besorgst dir Fell für Hals und Hände, ganz einfach, Wo er rau ist, bist du dann rau. Du besorgst dir Wild, du besorgst einen, der es zubereitet. Du wirst schneller sein als Esau. Wo er für zwanzig arbeitet, befiehlst du vierzig.
JAKOB Aber was ich nicht kann, ist Sandsturm sein. Esau ist ein Riese und Vater wird riechen, dass ich keiner bin.
REBEKKA Du vergisst, ich bin die Mutter auch dieses Riesen. Natürlich habe ich ein Hemd von ihm im Haus. (geht, holt ein Hemd, gibt es Jakob, es ist riesig)
JAKOB (nimmt das Hemd, es staubt. Er schüttelt es: Riesenstaubwolke. In der Wolke Jakob und Rebekka kichernd ab)
IV. AKT
Die Wolke senkt sich, auf einem großen Kissen sitzt, würdig, Isaak. Er trägt eine Augenbinde.
ISAAK (dreht sein Ohr dem Zelteingang zu)
JAKOB (tritt auf, Fell auf Brust und Händen, in Esaus übergroßem Hemd, mit einer dampfenden Pfanne) Vater?
ISAAK Hier bin ich. Wer bist du, mein Sohn?
JAKOB Ich habe es gemacht, wie du gesagt hast. Vater, Wild wie du es magst.
ISAAK Esau. Du bist kaum fort. Wie hast du es so schnell gefunden?
JAKOB Dein Herr, der Gott gabs.
ISAAK Ich will dich anfassen, Esau, ob du Esau bist oder nicht.
JAKOB (setzt die Pfanne ab, geht zu Isaak)
ISAAK (betastet ihn) Die Hände sind Esaus Hände. Esau ist rau wie Fell. Bist du es, Esau?
JAKOB Ich bin es.
ISAAK Bring mir von deinem Essen. Ich werde essen und meine Seele wird dich segnen.
DIENER (tritt auf)
JAKOB (macht ihm ein Zeichen, er solle warten, bringt Isaak das Essen; zurück, nickt)
DIENER (füsternd) Elon gab zwei Böcklein zu, um die Kadaver loszuwerden.
JAKOB (ebenfalls flüsternd) Es läuft, wies laufen muss. – Sag, ein Sandsturm ist dir nicht begegnet?
ISAAK (unterbricht die Mahlzeit) Aber die Stimme. Es ist Jakobs Stimme. – Esau, komm und küss mich! Dass ich riechen kann, ob du mein Sohn Esau bist oder nicht.
DIENER (flüsternd) Ein Sandsturm, Herr, zieht auf.
JAKOB (flüsternd) Gut, Befehle später. (Handbewegung, Diener ab. Laut:) Hier bin ich, Vater! (geht zu ihm, schüttelt das staubende Hemd und küsst ihn)
ISAAK (hält Jakob bei sich fest. Feierlich:) Esau. – Der Geruch meines Sohnes, das ist der Geruch des Feldes, das der Herr für den Jäger üppig mit Wild versehen hat. Die Üppigkeit sei auf den Feldern, die dein sein sollen; deine Herde soll wachsen, dein Weinberg überquellen. In deine Hand komme es; Völker sollen dir dienen, Leute dir zu Füßen fallen. Sei ein Herr über deinen Bruder, deiner Mutter Sohn, verflucht sei, wer dich verflucht, gesegnet, wer dich segnet.
JAKOB (umarmt Isaak, der gerührt schnauft. Still ab)
V. AKT
Der Vorige. Riesenstaubwolke.
ESAU (wird sichtbar, als die Staubwolke sich senkt. In der Hand hält er eine dampfende Pfanne) Isaak, mein Vater, hier bin ich. Wie fühlst du dich?
ISAAK Ich bin glücklich jetzt.
ESAU Noch glücklicher wirst du. Esau, dein Sohn, als Jäger ist er losgelaufen, als fliegender Koch kehrt er zu dir zurück. Das Wild nämlich fand ich schnell, dein Gott, der Herr gabs. Da riss ich, um keine Zeit zu verlieren, aus einem heißen Töpferofen der Philister einen glühenden Brocken Stein und bereitete darauf das Essen im Laufen. Dumm war nur, man muss rückwärts laufen, damit einem der Rauch nicht in die Augen schlägt, und dreimal bin ich vom Weg abgekommen.
ISAAK Herr im Himmel, hilf! Wer bist du?!
ESAU Esau bin ich, dein Sohn.
ISAAK Wer bist du?! Und wo ist dann der Jäger, der mir dies hier gebracht hat? Und ich habe von allem gegessen. Und ich habe ihn gesegnet.
ESAU (lässt die Pfanne aus der Hand gleiten)
ISAAK Und er wird gesegnet bleiben müssen. Er ist mit List gekommen und hat deinen Segen weggenommen. Und ich habe ihn zum Herren über dich gemacht, die Felder hat er, die Herde, mit allem hab ich ihn versehen, deiner Mutter Sohn: Jakob. Was soll ich dir noch tun, Esau? Esau!
ESAU (schreit. Der Staub fliegt von ihm in dicken Wolken, der Sandsturm rast durch das Zelt)
Schluss. Gewinn für Jakob innerhalb dieses kleinen Dramoletts: 12 Sack Getreide (eingesparte Lohnkosten), 2 Böcklein von Elon, 3 Löwenfelle (Wert: 9 Maultiere), 1 Erbschaft. Berlin, anlässlich der kommenden Wunder der deutschen Wiedervereinigung, Anfang November 1989.