vonkirschskommode 12.01.2021

Kirschs Kommode

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10.01.2021: In der Chrismon 01-2021 ein Interview mit Friedmann und Czollek, in dem der letztere sich, völlig zu Recht, über das deutsche Gedächtnistheater mokiert, in dem inzwischen fast ein Fünftel der Deutschen auftreten, um von sich zu geben, ihre Vorfahren hätten Juden versteckt oder ihnen geholfen. Bei einer Reichsbevölkerung von rund 55 Millionen kommen so etliche Judenretter zusammen, am Ende mehr als in Europa Juden ermordet wurden und erst recht viel viel mehr, als die 550 000 Juden, die bis 1933 im Deutschen Reich gelebt hatten. Das Ganze ist für mich umso absurder, als ich mich sehr genau daran erinnere, wie es noch Mitte bis Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger zumindest in Westdeutschland und Westberlin war, wenn man tatsächlich einen antifaschistischen Opa hatte. Einen, wohlgemerkt. Mein anderer war aus Überzeugung und mit Lust Nazi-Offizier.

Mein antifaschistischer Opa hat keine Juden versteckt. Aber er hat Hitler und die Seinen von Anfang an gehasst, hat sich später geschickt dem Kriegsdienst entzogen, sehnsüchtig auf die Befreiung gewartet und Feindsender gehört, wofür er denunziert und ins Zuchthaus gesteckt worden ist. Meine Klassenkameraden, sieben- oder achtjährig viel zu jung, um zu verstehen, worum es überhaupt ging, hatten aus ihren respektablen Elternhäusern für so einen nur ein Wort: Vaterlandsverräter. Mit einem antifaschistischen Opa konnte ich als Kind nirgendwo punkten.

Hätten tatsächlich so viele Menschen sich den Nazis widersetzt oder ihre Maßnahmen unterlaufen, wie meine Landsleute heute behaupten, dann hätte es in meiner Klasse von 35 doch fünf, sechs andere Kinder geben müssen, deren Opas, Omas, Großonkel oder Großtanten ebenfalls Vaterlandverräter gewesen wären und wir hätten uns gegen die Verachtung unserer mutig menschlicheren Familienangehörigen durch die Mehrheit zusammenschließen können. Es gab jedoch nicht ein einziges anderes Kind mit einer vergleichbaren Geschichte. Ich habe so früh gelernt, dass man in Deutschland eines besser nicht ist: Antifaschist über ein blumiges Lippenbekenntnis zu Toleranz und Demokratie hinaus. Für eine übergroße Mehrheit der Westdeutschen war und blieb ein Nazigegner zur Nazizeit bis lange nach dem Krieg ein Vaterlandsverräter. Und dass die nichts besseres verdienen als den Strick oder die standrechtliche Erschießung, schwang in diesem Wortgebrauch immer spürbar mit.

Um das Zahlenverhältnis von Mehrheit zu Minderheit, von den in Treue Festen zu den Verrätern, einmal zu verdeutlichen: Ich kann nur grob überschlagen, wie viele Leute man im Lauf seines Lebens kennenlernt, und halte eine nicht allzu große, vierstellige Zahl für wahrscheinlich. Wie auch immer, ich bin sechzig Jahre alt und hatte Zeit und Gelegenheit, bestimmt ein paar tausend Menschen zumindest flüchtig kennenzulernen, davon sicherlich ein bis zweitausend ungefähr Gleichaltrige. Aber ich kann nicht sagen, dass ich je viele andere deutsche Antifaschisten meines Alters getroffen hätte, die wie ich Angehörige hatten, welche schon während des Faschismus Antifaschisten gewesen waren und deshalb Repressalien zu erleiden hatten. Ich komme mit vielem Nachdenken auf zwei, Cousin und Cousine, bei einer dritten Person bin ich mir nicht ganz sicher. Es tut mir Leid, aber die Vorfahren der restlichen ein bis zweitausend werden, genau wie mein zweiter Opa, eben doch keine Vaterlandsverräter gewesen sein, sondern mit unendlich viel größerer Wahrscheinlichkeit eher Raubmörder oder mehr oder minder stille Komplizen von Raubmördern, entweder aus Lust und Überzeugung, oder weil es die Polizei erlaubt hatte, es somit legal war, und man ja schön blöde gewesen wäre, nicht dort zuzugreifen, wo alle zugriffen. Das ist die ganze niederschmetternde Wahrheit, auf 1000 gleichaltrige Deutsche, die ich getroffen habe, kommen keine zwei mit Vorfahren, die im Nazireich nachweislich gegen die Nazis agiert haben. Woran kein Gedächtnistheater je irgendetwas ändern wird.

11.01.2021 Immer wieder fällt mir der Trump ein, der seinen Mob die Treppen des Kapitols hinauf hetzt. Dass jemand zum Sturm auf ein Parlament oder ein Regierungsgebäude aufruft, ist daran nicht das Ungewöhnliche, das ist  Kraftmeierei. Viel merkwürdiger ist, dass es jemand tut, der selbst repräsentiert, was diese Gebäude repräsentieren; eine Regierung ruft dazu auf, den Staat zu übernehmen, den sie regiert, ein symbolischer Putsch in eigener Sache. Dem entspricht das Verhalten der zu Bewachung der Gebäude abgestellten Polizisten, sie wissen nicht, wem ihre Loyalität zu gelten hat. Einer schießt, die anderen stammeln ihr Aber-aber! Nicht wenige begrüßen die Mannen ihres obersten Dienstherren freundlich und lassen sich mit ihnen fotografieren.

Gewusst haben werden die Polizisten allerdings, dass ihnen nichts passieren kann. Nichts, wenn der Operettenputsch gelingt, nichts, wenn er scheitert. Nach seinem Scheitern jetzt wird man einige der Eindringlinge ins Kapitol symbolisch strafverfolgen und ein paar Bewährungsstrafen aussprechen. Aber die Polizisten, die mit auf den Selfies der Putschisten zu sehen sind, werden wohl völlig ungeschoren davonkommen. Sie haben gezeigt, dass sie auf der richtigen Seite stehen: auf jeder, der hier in Frage kommenden.

Der Sturm auf das Kapitol ist in den letzten Tagen oft mit dem Reichsfahnenschwenken auf Reichstagstreppe bei der letzten großen Querdenkerdemonstration in Berlin verglichen worden. Aber das ist nicht die Parallele. Die liegt vielmehr im Verhalten der Polizisten, in der, eben auch in Deutschland immer wieder sichtbar werdenden, doppelten Loyalität, sowohl gegenüber dem Staat und Dienstherren als auch, mehr oder weniger offen, gegenüber den Rechtsradikalen, als wäre an dieser Stelle gar kein Gegensatz. Und aus der Sicht des Apparats, also vieler Verwaltungen und erst recht der Ordnungskräfte, ist da vielleicht auch gar keiner: Die bestehende Ordnung kann demokratisch verändert oder gewaltsam aufrecht erhalten werden. Am Verhalten der Polizei zeigt sich, dass Teile des Apparats ihre Wahl längst getroffen haben könnten: Veränderungen, wie sie jetzt (und seit 30 Jahren) anlägen – ökologischer Umbau, Klimagerechtigkeit, Verzicht auf Reisen, Autos, Fleisch und Profite, soziale Umverteilung, Schutz von Minderheiten und Schwächeren – kommen nicht in die Tüte. Sie sind weder gut fürs MAGA noch für den (Ex-)Exportweltmeister und die von ihm dominierte EU. Der Mob ahnt es und hält sich bereit, die Polizei ist Freund und Helfer.

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