28.11.2022
Die Gräuel der ursprünglichen Akkumulation, das Bauernlegen, die Vertreibung der unproduktiven Landbevölkerung von ihren Äckern, die unbarmherzige Verfolgung der Vertriebenen als Landstreicher und Tagediebe mittels Gefangennahme, Brandmarkung, Versklavung, Verkrüppelung oder Hinrichtung, all das spielt im kollektiven Gedächtnis eine kleine Rolle, obwohl es sich um Geschichten handelt, die sich seit gut und gern siebenhundert Jahren wieder und wieder abspielen, und obwohl diese Geschichten Geschichten von Erfahrungen der Bevölkerungsmehrheiten sind. Am deutlichsten spürbar wird etwas von ihnen, wenn man die Merze und Lindners hört, die das Lohnabstandsgebot gegenüber den Sozialleistungen beschwören und die es für völlig selbstverständlich halten, dass Arbeitsdisziplin mit Strafen und Androhung von Strafen hergestellt werden muss. Sie haben eine ganze lange, überaus blutige Tradition auf ihrer Seite, königliche Dekrete großer europäischer Monarchen, in denen sadistisch genau festgelegt wird, was denen zu blühen hat, die sich nicht nutzbringend verkaufen können, nachdem man sie der Mittel ihrer Subsistenz beraubt hat. Eine umfassende Chronik mit verlässlichen Zahlen über die Todesopfer des aufblühenden west- und mitteleuropäischen Kapitalismus und der einsetzenden Industrialisierung ist noch nicht geschrieben worden, arme Leute zählen nicht und darum zählt man sie nicht.
Es sei denn, es handelt sich um arme Leute als Opfer des geopolitischen Gegners, dann addiert man sie auf; in Deutschland liebend gern zu möglichst mehr als sechs Millionen. Am kommenden Mittwoch, dem 30. November 2022, wird der deutsche Bundestag auf Antrag der bürgerlichen Gesamtfraktion von CDU, FDP, SPD und den Grünen beschließen, dass es sich bei der dem Bauernlegen folgenden Hungerkatastrophe in der Sowjetunion der frühen dreißiger Jahre um einen gezielten Völkermord an den Ukrainern gehandelt habe, dem sogenannten Holodomor. Diese verheerende Hungersnot, die außer der Ukraine auch Russland selbst, insbesondere die Wolgaregion, und außerdem Kasachstan schwer getroffen hat, ist propagandistisch immer wieder zum Herstellen antisowjetischer Munition verwendet worden. Keinesfalls nur zu Unrecht, denn ein zentrales Motiv für die Oktoberrevolution war der Wille, den Grausamkeiten des Umbruchs in das Industriezeitalter, wie Marx sie in dem berühmten 24. Kapitel seines Hauptwerks eindrücklich schildert, möglichst zu entgehen. Doch mit dem Beschluss des Bundestages wird der Schrecken gleichsam nationalisiert, wenn nicht geradezu verrasst. Nicht die Kommunistische Partei der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bringt in einer spezifischen historischen Situation mit politischen (Fehl-)Entscheidungen Unheil über Länder und Menschen, die sie regiert, sondern Russen, weil sie eben Russen sind, vernichten Ukrainer, weil sie eben Ukrainer sind. Das nenne ich Nutzbarmachung geschichtlicher Ereignisse für den Augenblick – auf Biegen und Brechen zur momentan passenden Sicht auf die Dinge! Es gab und es gibt nur Eingeborene gegen Eingeborene, die einen sind böse, die anderen gut, es lässt sich nichts daraus lernen. Und, solange es Waffen gibt, die Bösen in Schach zu halten, muss auch niemand daraus lernen.
Nun liegt es mir fern, den Bundestagsabgeordneten das Auskosten ihres moralischen Hochgefühls zu verdrießen. Sie stehen auf der Seite der Guten und feiern sich dafür. Ich frage mich aber, was die Amtsrichter machen werden, falls mal ein Melnyk oder ein anderer Botschafter der ukrainischen Sache als findiger Kläger auftaucht. Schließlich haben nicht wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Hungersnot in der Sowjetunion nach dem Ende der leninschen Neuen Ökonomischen Politik untersucht und längst nicht alle können mit ihren Forschungsergebnissen die Wahrheit bestätigen, die der Bundestag am Mittwoch für sich und den Rest der Welt demokratisch beschließt. Was passiert, wenn sie der Resolution des Parlaments unter Berufung auf ihre Forschungsergebnisse widersprechen? Würden sie sich damit, nach der jüngst erfolgten Reform des Volksverhetzungsparagraphen, der Leugnung eines Völkermordes schuldig machen, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gehörten dafür also bestraft und ihre Untersuchungen ab jetzt in den Giftschrank?
Auch ich selbst, freilich ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch, habe mich schon zur Hungersnot in der Sowjetunion geäußert, nämlich in diesem Blog, in der Folge 4 meines Krimis Keine Kunst und, vor allem, im darauffolgenden Beitrag mit dem Titel Zweierlei Maß. Warum, wagte ich damals zu fragen, werden eigentlich die Opfer des Marktwirtschaftens nicht genauso als Opfer einer ideologisch motivierten Wirtschaftspolitik wahrgenommen wie die Opfer der Kollektivierungsmaßnahmen in der Sowjetunion unter Stalin? Und umgekehrt, eingedenk offenbarer Schwierigkeiten, denen sich die Sowjetunion auf dem Weg zur Industrienation ausgesetzt sah, warum diese Opfer nicht auch nur ein einziges Mal und nur ein ganz wenig als Opfer tragischen Geschehens? Warum dürfen in der Marktwirtschaft, über ihre ganze lange Geschichte hin bis heute, Menschen ins Elend geraten, von perfiden bis martialischen Strafmaßnahmen in Schach gehalten und verfolgt und getötet werden, oder auch verhungern, und es ist eben so oder es ist eben tragisch, während bei allem, was Kommunisten und Sozialisten, abgesehen vom Paradies auf Erden, nicht auf Anhieb gelingt, von Stümperei, Mangelwirtschaft, Unfreiheit, Diktatur, Regime, Schreckensherrschaft, blutiger Unterdrückung usw. die Rede ist?
Bei den feinen Gesetzen, die die Republik seit kurzem nun einmal hat: Ist meine damals gestellte und hier erneut zitierte Frage nicht für jeden, der will, übelster Whatsaboutism (Wasistmitismus), sehr geeignet, die Leiden der Ukrainer und Ukrainerinnen gröblich zu relativieren (nämlich: historisch anders einzuordnen)? Denn legt das Parlament fest, was historisch die Wahrheit ist, werden die Amtsrichter sich später daran orientieren, um das davon Abweichende als Ableugnung und Verhetzung zu bestrafen, schon deshalb, weil sie ja selbst so wenig Historiker sind wie die meisten Parlamentarier auch. Und ich mit meinen vielen Fragen zur Historie, bekomme, wenn ich nur ein bisschen zu viel Pech habe, noch eine zur Gegenwart dazu, nämlich, ob ver.di im Fall des Falls mir wohl Rechtsschutz gewähren würde.
Was mich angeht, sind das Gedankenspiele. Mein Blog ist ein Versteck. Ich kann in ihm immer gern so tun, als legte ich es darauf an, den öffentlichen Frieden stören, niemand bekommt es mit. Also stänkere ich mal weiter, nur für den Fall, dass ein weiterer Straftatbestand ergänzt, neu definiert oder reaktiviert wird, selbstverständlich nicht unter seinem alten Namen: Feindbegünstigung. Und ganz zweckpessimistisch – um mich zu freuen, wenn ich nicht Recht behalte – mache ich eine Vorhersage: Der Krieg des Westens gegen China wird, nach einigen Scharmützeln, in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 2024 endgültig vom Zaun gebrochen. Die Zutaten sind angerührt und es muss nur noch das Feuer unter dem Topf weiter geschürt werden. Es gibt Wahlen in Taiwan im Früh- und Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika im Spätherbst des Jahres 2024. Der Wahlkampf in Taiwan eignet sich vorzüglich für eine Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegung nach dem Hongkonger Modell, eine energische, entschlossene Kriegs-Regierungspartei hat im patriotischen Amerika im Wahljahr Vorteile. Die chinesische Volksrepublik kann dabei machen, was sie will, sie ist der Aggressor. Denn das Land hat seine Erfahrungen mit westlichen Kanonenbooten, die Wunde Hongkong, seit 1841, rührt genau daher; keine chinesische Regierung wird mit passivem, gewaltfreiem Widerstand auf ein unabhängiges Taiwan zu reagieren. Und der Westen ist nur allzu bereit, den weiteren wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik bis zum letzten Taiwanesen zu bekämpfen. Die ganze Angelegenheit ist so widerlich vorhersehbar, wie es schon der jetzige Ukrainekrieg war, dessen Ausbruch eigentlich nur Leute überraschen konnte, die bis dahin geträumt hatten oder die, ganz gespannt auf Neuigkeiten, vom Verzehr überraschender Nachrichten als breaking news leben. Jedoch, im Gegensatz zum Krieg in der Ukraine, der von allen Seiten angestrebt und sorgfältig vorbereitet wurde, bei dem sich also die Mächte untereinander und über die Bande spielend um Einflusszonen und Marktanteile schlagen, drängt mich beim kommenden Krieg gegen China nichts zur Neutralität. Denn hier verteidigt der vereinigte Westen sein alleiniges herrenmenschliches Recht auf Welt und Reichtümer gegen den Parvenü, der sich anmaßt, Ich zu sagen anstelle von Euer Diener. Und, mögen die Chinesen nun Erzkapitalisten sein oder Kommunisten auf Umwegen, ich bin Partei. Ich werde, egal, wer den ersten Schuss abgibt, einen Krieg des Westens gegen China immer für die Forstsetzung des kolonialistischen Unrechts halten, für die Fortsetzung der europäischen Barbarei.