vonkirschskommode 19.12.2019

Kirschs Kommode

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Was bisher geschah: Um 1994, der ungefähren Handlungszeit von Keine Kunst, hat Kriminalkommissar Wengath ihn schon gesehen: den Super-SUV. Auf der Fahrt zu dem kurz zuvor verschwundenen und dann wieder aufgetauchten Gerichtsmediziner Dr. Siechner behindert der überdimensionierte Geländewagen ihn bei einem Spurwechsel. Wengath möchte von Siechner wissen, was es mit der Patronenhülse auf sich hat, die am Tatort, Ludwig Erhards frisch in die Luft gesprengtes Grab in Bonn, neben der Leiche des Polizeihauptmeisters Dellmann gefunden worden war. Für den Abend hat Wengath einen Theaterbesuch mit seiner Kollegin Marcks geplant, um dort mehr zu den Affenkostümen zu erfahren, in denen die mutmaßlichen Täter aufgetaucht waren, als sie sich die Zeitzünder für ihre Sprengsätze organisiert hatten. Aber jetzt betritt der Kommissar erst einmal das düstere Souterrain der Gerichtsmedizin. Und damit, jedenfalls in seinem Kopf, die ganze vervögelte Antike:

Der Schatten des alten Sehers Theresias soff vom Blut des geopferten Widders und damit war er überredet, dem Odysseus am Tor der Unterwelt mit ein paar Auskünften zu dienen. Aber hier im Vorraum der Gerichtsmedizin versagten solch klassische Mittel. Dabei hatte er der MTA, theatralisch genug, für einen Moment die Hand über den Tresen gestreckt. Damit sie die verschorften Schrammen sehen konnte, die er sich beim Versuch, ihren Chef zu verteidigen, zugezogen hatte:
Und mich in den Dreck geschmissen, ehe ich irgendwas machen konnte. Da!
Soso. Wurde Dr. Siechner also entführt.
Immerhin hörte sie auf, in den zerschlagenen Knochen herum zu kramen, die vor ihr auf dem Tisch lagen: Ineinander schwimmendes Weiß auf transparenten schwarzen Vierecken. Hielt mit ihren knallig violetten Fingernägeln noch einen Brustkorb gegen die Lampe – links, die vierte Rippe von unten arg in Splittern – dann sah sie endlich unter ihren grüngelben Igelfransen hervor, zu ihm nach oben:
Sie sind doch von der Kriminalpolizei, oder?
Was ein Gedächtnis: Er war bestimmt zwei Jahre nicht hier gewesen. Aber war wohl das Startzeichen die Frage. Also den Ellbogen vom Tresen genommen. Und das ganze Körpergewicht wieder auf die Beine gestellt. Die Marke aus der Tasche:
Ganz recht, Kommissar Wengath, Mordkommission Dellmann.
Aber war das eigentlich günstig, sich gut an Gesichter zu erinnern, wenn man in der Gerichtsmedizin arbeitete? Lieber nicht fragen. Er hatte mal einen Fleischer beim Bulettenmachen gefragt: Na, wie fühlt man sich dabei? Der Hackflatschen hatte ihm den ganzen Anzug ruiniert.
Dellmann ist raus. Den habe ich gestern gegen zwölf freigegeben. Und schon um vierzehn Uhr hat Firma Eichelkraut ihn geholt. Da kommen Sie also zu spät. Und für jeden anderen Dellmann kommen Sie zu früh. Wenn noch einer von denen tot sein sollte, ich habe hier noch keinen neuen aufgenommen.
Ich komme auch nicht wegen Dellmann, ich komme, wie schon gesagt, wegen der Entführung von Dr. Siechner.
Eben noch hat Dr. Siechner mich von zu Hause aus angerufen, dass er krank ist. Das müssen Sie mir erklären.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es gibt auch kurze Entführungen. Dr. Siechner hat sich knappe fünf Stunden später wieder zurückgemeldet. So nah von hier, dass ich wissen will, ob er davor oder danach noch in seinem Büro war.
Sie schien nicht im Mindesten beeindruckt. Also noch einmal aufmuskeln:
Wenn Ihnen das lieber ist, kann ich auch ganz offiziell die Tür zu seinem Büro versiegeln und mit einem Durchsuchungsbefehl wiederkommen. Den muss ich mir allerdings erst besorgen. Das dauert. Und wenn Sie dann mal was aus seinem Zimmer brauchen –
Kunstpause. Und wirken lassen.
Wirkte: Stand plötzlich zwei Kopf größer als er neben ihm. Der normale Krankenhauskittel saß an ihr wie ein Bolerojäckchen, hatte seinen unteren Saum ungefähr auf der Höhe, wo bei ihm der Nabel sich befand. Und drunter meterweise Beine, tempelsäulenrund in grauer Jeanspelle. Sah ihn sehr kurz von sehr oben herab an:
Aber Sie versprechen mir, dass Sie nichts anfassen werden.
Nicken, folgen. Die Gänge entlang: Pallas Athene + Satyr = große Göttin + Witzfigur. Was war es ihm heute eigentlich so klassisch zumute? Hatte das mentale Bad in gutem Wein ihm die standesgemäße humanistische Bildung reaktiviert? Was würde erst passieren, wenn er einen der alten St. Emilion aus der Erbmasse entkorkte? Könnte er dann wieder Latein? Mal probieren.
Aha: Seinen höheren Angestellten gestattete Unterweltbeherrscher Hades durchaus Tageslicht. Nicht überwältigend viel, ein Fenster, ein bisschen tiefer als zu ebener Erde gelegen. Mit Blick in einen Graben, dessen Wand mit einem Betonsteingitter befestigt war: Grasbüschel, rhombisch gerahmt jedes einzelne. Dran anschließend Rasen und jahreszeitlich kalte Füße von Büschen und pubertär mageren Bäumen, alles nass glänzend. Schwer zu entscheiden, ob sich die Ödnis draußen nach drinnen oder die drinnen nach draußen fortpflanzte. Siechners Büro war ein nüchterner Schreibplatz ohne jede Spur persönlicher Gestaltung, keine Topfpflanze, kein Wandkalender, kein Maskottchen. Immerhin der Schreibtisch in Unordnung, dem Auge wohltuend, nur rechte Winkel mag der Mensch nicht haben: Ablagen, überquellend von schlecht geschichteten Papieren und Röntgenbildern, Holzständer mit Reagenzgläsern, Probentütchen verschiedener Größen, Rollen mit Klebetiketten, Plastikdöschen, Stifte aller möglichen Stärken und Sorten, sogar ein eingedellter Tischtennisball. Aber das war doch – !
Er sah zu der grünhaarigen Riesin im Türrahmen. Fragend sah sie zurück – verdammt! Da lag ein Männchen auf dem Tisch, Beine und Arme Stifte, der Leib eines der Plastikdöschen, Kopf der eingedellte Ball: Dellmann! Der eine Armstift steckte mit der Spitze in einem durchsichtigen Probentütchen und in dem war etwas Kleines, Messingfarbenes. Das musste er haben, das lag hier für ihn!
Ähä!
Und zum Fenster drehen, rausstarren:
Mensch, das gibt es doch gar nicht!
Ja, was eigentlich? Draußen hüpfte nur ein Spatz ins Gegenlicht. Ja, das wars: Wozu hatte man einen Neffen Jens, der kein anderes Thema kannte als die Ornithologie?
Sehen Sie den?! Ganz seltener Winterirrgast!
Wo?!
Die Riesin machte zwei Schritte zum Fenster, er grabschte zu, Tütchen, Ball und Stifte verschwanden in der Jackentasche. Und bloß weiter im Hahnebuch-Text!:
Äh, sibirisches Blaustelzpfäffchen. Kolonnenbrüter am Nordrand der Tundra vom Lenadelta bis zum Weißen Meer. Weitestes westliches Vorkommen im Winter, die kaspische Senke, also, das ist sensationell! Hier in Stieglitz!
Aber, uha! Wie reagierte sie denn da drauf? Ein ausgewachsener weiblicher Uhu und nicht etwa nur eine kleine Käuzin war Pallas Athenens Eule! Grinste hochschnabelig unterm grünlichen Federbusch. Streckte sie nicht auch die violett bespitzte Klaue nach ihm aus? Und er, kleines Zaunköniglein, seinen Nestschatz in der Jackentasche geborgen, flatterte aufgeregt hin und her: How to flatter you, Freundin der Nacht? Wenn sie ihm nur nicht an die Eier ging:
Nunja, ein Scherz. Mit Vögeln macht man viel Scherze. Vögelverstecken eben, Berlin-Stieglitz, mein Elster geht hier auch zur Schule, am sel-ben Gymnasium wie Ihrer. Und so.
P! P! P! P!
Spuckte Athenes Uha ihm eins? Oder hieß man die riesige Nachtvoglin besser Uhin?
P! P! faule Witze! Grau, gans grau! Reiher-n muss ich davon! Meinen Sie, ich seh Ihnen das nach? Ti Gall-e kommt mir hoch. Kam der Kommissar und fink ein Fas an aufzumachen! Im Hammwa-aba-gelacht-Bass! Tölpel-haft: Krakra, nich wahr? Aber uff dem Feld lerch e-em wie Sie noch wat! Vogel-kunde ist nämlich meine Stärke.
Und hackte ihm die lila bewehrten Krallen vor den Bauch:
Waren zehn Vögel, die man finden kann. Wenn man fit is. Elf. Und abgeben, was Sie da eben eingesteckt haben, Sie Hänfling, zwölf!, aber flott!
Auf welchem Feld wollte sie ihm was lehren? Er riss Ablage vom Schreibtisch und knallte sie ihr auf die wartenden Hände. Papierbögen flutschten an ihr herab, Röntgenbilder flitzten über den Boden: Sie hielt die Plastiklade schräg und starrte, (star-rte?) ihn an. Wengath warf den Stuhl um, ihr in den Weg, mit einem Sprung war er an der Tür, knallte sie hinter sich zu. Und weg. Er floh, wachtelte, taubelte, hühnerte die Gänge entlang: Immer schwerer wurde sein Schritt. Schon großtrappte er nur noch gewichtig auf den Ausgang zu, in allen Vogelstimmen pfiff ihm die Lunge. Und raus. War die Uhin ihm überhaupt nachgeflogen? Mit dem lautlos mächtigen Flügelschlag der Nachtvögel? Oder hielt sie immer noch die Ablage vor sich fest? Schreckgebannt? Während alle paar Sekunden ein Schattenbild von Gerippeteilen ihr auf oder neben die Füße fiel? Gemessener Dauerlauf zum Auto. Und drin. Und den Motor anlassen. Er musste sofort mit Dr. Siechner sprechen. Wenn der ihm schon Bilderrätsel bastelte, um ihm ein Projektil zukommen zu lassen. Dann stank die ganze Geschichte wie Tereus persönlich. Oder wie der von Göttervater Zeus zum Wiedehopf gemachte Schwägerinnenbeischläfer auch immer geheißen haben mochte. Musste er nicht wissen. Sowieso war jetzt mal Schluss mit der vervögelten Antike! Das fing an zu nerven. Den Wachmann brauchte er, der Siechner gestern Abend in seinem Büro gefunden haben wollte. Und dafür, dass er sich in zwei Jahren wieder in der Gerichtsmedizin blicken lassen konnte, fragte er am besten seinen ornithologischen Neffen Jens um Rat: Der wusste bestimmt ein passendes Geschenk für eine Vogelfreundin.

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