vonkirschskommode 26.12.2019

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

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Was bisher geschah: Auf der Suche nach dem kurz verschwundenen Gerichtsmediziner Dr. Siechner steigt Kriminalkommissar Wengath in die Unterwelt hinab – ihm ist klassisch zumute und die Gerichtsmedizin ist ihm sein Hades. Doch auf  Siechners Schreibtisch findet er überraschend eine Hieroglyphe: ein Männchen aus Stiften, einem Plastikdöschen und einem eingedellten Tischtennisball = Dellmann, der auf dem von der S.A.F. gesprengten Grab Ludwig Erhards tot aufgefundene Berliner Polizist. Wengath grabscht sich das Projektil, das in einem Probetütchen an der Dellmann-Hieroglyphe befestigt ist und flieht Hals über Kopf aus Hades Reich in seinen auf dem Parkplatz der Gerichtsmedizin abgestellten Kleinwagen. Zu Dr. Siechner nach Haus muss er, sofort! Denn wenn der ihm schon Männchen bastelt, um ihm ein Projektil zukommen zu lassen, dann stinkt an der Geschichte etwas bis zum Himmel.

Ein Gipsarm hatte ihm freundlich die Haustür aufgehalten:
Auch zum Doktor?
Aber ein Leichenbeschauer mit eigener Praxis? Verwirrt stand Wengath im Treppenhaus und sah sich um. Ärztehaus Schmargendorf verkündeten große Buchstaben von der frisch gestrichenen Wand herab. Unter ihnen sechs Tafeln: Zahnmedizin, Kinderarzt, Urologe, Hals-Nasen-Ohren, Internist, Orthopädie. In der ersten, zweiten und dritten Etage. Kein Dr. Thomas Siechner, Pathologe dabei: Wo der doch so viele Kunden haben könnte, nach dem Aussehen der meisten U-Bahnfahrgäste zu urteilen. Obschon es, auch nicht schlecht, einen Dr. med. Boris Kätsch gab. Natürlich der Orthopäde. Was der Zufall so alles erlaubte. Draußen die Klingelanlage hatte ihm auch nicht weitergeholfen. Sie war ein schwarzes Loch, in das einige verrußte Zähne aus Plastik stachen; die feinen bunten Kabel zu einem Strick zusammen geschmolzen, daran baumelten die amorphen Reste der Namensschildchen. Sah aus wie erst gesprengt und dann mit dem Flammenwerfer traktiert. Oder war eine Art explosives Napalm in die Klingelanlage injiziert und dann gezündet worden? Er war kein Experte, aber der Klingelstreich schien Fortschritte gemacht zu haben. Selbst in so allem Bürgerschrecklichen ablegenen Vierteln wie Schmargendorf.
Nun, mehr als sechs Etagen hatte das Haus bestimmt nicht, die Deckenhöhe der Wohnungen neubautypisch mal mit zwei Meter und etwas angenommen. Die Aufzugtüren schwappten auf und wieder zu, die plastikweiß eingekreiste Fünf errötete bei der leisesten Berührung: Mann, sah er gut aus in diesem Spiegel! Mit dem offenen Regenmantel über Sakko und Hemd, die englische Mütze auf dem Kopf. Ein gar nicht mal so viel zu kleiner, etwas spöttisch aussehender und recht kompakter Mann. So eine Beleuchtung bräuchte er auch für seinen Badezimmerschrank. Dann würden ihm bestimmt schon morgens beim Rasieren die richtigen Rezepte für ein festliches Abendessen einfallen. Zu dem er die Marcks längst einmal hätte einladen sollen. Aber jetzt durfte er erst mal mit ihr ins Theater. Bon. – Bong? = Ah! Der schicke Aufzug war schon oben.
Über ihm ein dreieckiges Gewächshausdach, Frühbeetgröße, als Oberlicht. Drunter blätterte welk ein zwei Meter hoher Ficus Naturakzente ins mamorkalte Treppenhaus. Hell gebeizte Eichentüren: Nichts so solide wie zum Schuldenmachen gebaute Häuser. Dr. I. Gluck-Mulfing die erste Tür, Dr. Ingeborg Rahn die zweite, eine dritte gab es nicht auf dieser Etage. Glitt er also, die Hand an der polierten Messingstange des Geländers, in den vierten Stock hinab. Dr. med. Eberhard Aufsess das eine Schild, statt des anderen aber nur ein Fleck auf dem Türholz, an den Seiten die von Schrauben hinterlassenen zwei kleinen Löcher.
Und mit dem Fingernagel über die namenlose Stelle fahren: Feiner Staub hing da, wo der obere Rand des Schilds gewesen war, zerriebenes Holzgespän mikrokrümelte aus dem Schraubenloch. Hier war noch kein Putzlappen, noch nicht mal ein Windstoß war hier entlang gewischt, seit Dr. Siechners werter Name diese Tür nicht mehr zierte. Sollte er eine Stunde hier warten und beobachten, wie viel Feinstaub durch die Verkehrsvibration in dieser Zeit nach unten fiel? Daraus auf den Zeitpunkt der Demontage zu schließen versuchen? Dürfte eine Hyperbel beschreiben die zu errechnende Kurve, wenn er die Verkehrsbelastung zur Konstante zurechtschönte. Und beim ersten Polizisten, der unten auf der Straße im privaten Gebrauchtpanzer vorbeirasselte, war die ganze Kalkulation im Eimer. Also lieber erst einmal die Klingel ausprobieren.
– ?!!!! Was war das?! Massenandrang an der Pissrinne, sagte sein von Erfahrung belehrtes Gefühl: Genau so dicht hatten sie sich links und rechts an ihn heran gerempelt. Von hinten, unhörbar im Patientenrumor, der von den unteren Stockwerken herauf klang. Und breitbeinig aufgepflanzt standen sie nun, zum Wässern von Siechners helleichenen Türpfosten. Nestelten aber nicht mit Blick zur Decke ihre Hosenschlitze auf, sondern schoben ihm ihre Arme unter die Achseln, lupften den Boden ihm unter den Sohlen weg, dass er erschrocken nach ihm zehenspitzte: Umsonst, er hing, der Kleine zwischen zwei Großen, die ihm über ihre Schultern herab ansahen:
Dr. Siechner mag sicher nicht gestört werden.
Kopfsenken. Stillhalten. Schwitzen. Und Loszappeln.
Machen Sie keine Dummheiten, Herr Wengath!
Ohne jede Anstrengung zurrten sie ihren Doppelgriff fester:
Wenn Sie schreien, können Sie das gleich noch mal. Beim Dr. Kätsch, wenn der Ihre Arme wieder einkugelt.
Und wir wollen uns doch lieber zivilisiert miteinander unterhalten, nicht wahr?
Stellen Sie mich wenigstens wieder auf die Füße!
Entsetzlich, wie seine Stimme das herausklägelte, nur brüchiges, halbverschlucktes Gequake. Ein Frosch in zwei Kinderfäusten war er, kurz vor dem Reißtest. Und nahm den Kopf noch tiefer nach unten. Doch merkwürdigerweise gehorchten sie. Stellten ihn wieder ab. Sanft eingehakt schwankte er, von ihren Armen gehalten, älteres, kurz geratenes Herrchen, dem beim Arztbesuch schwindelig geworden war. Ein Bild der Fürsorge gaben sie selbdritt ab, eine Kreuzesabnahme, es hielten ihn zärtlich zwei seiner Jünger, sie würden ihn salben nach dem Gesetz, in weißes Leinen ihn hüllen und in drei Tagen würde er auferstehen, aber bis dahin wollte er schlafen, nichts als schlafen. Wie ein Scheintoter. Aber: Pfui Teufel, was für eine Scheiße ihm da wieder durch den Kopf ging! Sollte er tatsächlich Maria Magdalena Marcks beim nächsten Wiedersehen mit Rühr mich nicht an! abspeisen, sich dann aber vom ungläubigen Thomas Siechner die Wundmale abtasten lassen? Und auffahren zu seinem Alten erst, bei allen Göttern! Das wäre höchstens als ökonomische Himmelfahrt interessant. So märchenhaft reich, wie sein Vater laut den bitteren Erzählungen seiner Mutter gewesen war, wollte er auch noch gerne werden. Könnte er sich die Dienstleistung kaufen, zum Beispiel van der Weydens Kreuzesabnahme im Prado ab- und bei ihm überm Sofa wieder aufhängen zu lassen. Hätte es jedenfalls kaum noch nötig, hier selber jesusleichig zwischen zwei Männern zu baumeln.
Handgeflatter innen an der Türfüllung, Riegel schoben in den Führungen, mindestens drei Schlösser schluckten ihre Eisenblöcke ein. Freigelassen zuckte die Tür an den Angeln, der Schnapper entschnappte und ein kleiner Spalt öffnete sich zu einem schmalen von gelbem Zimmerlicht erleuchteten Rechteck. In dem der halbe Dr. Siecher Platz hatte. Vorsichtig den Kopf vorgestreckt sah er Wengath fragend ins Gesicht, ein Zittern ging um seine Mundpartie, als wollte er etwas sagen. Aber dann schoss sein Blick nach links und rechts, er fixierte Wengaths Begleitung, sein Gesicht ging auseinander wie im Vakuum: Die Augäpfel rollten vor, der Mund zog sich auf zu einem erstickten Schrei. Schon fiel das Lichtrechteck wieder zu und die Riegel schlugen in ihren eisernen Sitz.
Da sehen Sie, Herr Wengath, wie schreckhaft unser Dr. Siechner heute ist. Es war wirklich ein Fehler, bei ihm zu klingeln.
Aber wenn wie uns in Zukunft besser absprechen, lassen sich solche Pannen leicht vermeiden.
Sie hatten den Aufzug geholt, drückten ihn sanft hinein. Und ihm noch eine Visitenkarte in die Hand: Vigilia Bewachungsdienste Hennigsdorf.
Fragen Sie dort nach uns, nach Herrn Kolbe oder nach Herrn Breker.

Schon saß er wieder in seinem Fiesta. Ob die beiden sich mit Absicht nach zwei Bildhauern benannt hatten, die seinerzeit das dritte Reich ausschmücken halfen? Zugegeben, Kolbe ließ sich noch halbwegs entnazifizieren. Man konnte zum Beispiel ein Damenhandtäschlein über den angewinkelten Arm einer seiner Muskelmänner hängen und schon sah der Steinkerl so tuntig aus, dass jeder Nazischwule sich mit Grausen wandte. Aber Breker? Doch am Ende hießen die beiden Bewacher allen Ernstes so, wie sie sagten. Und es waltete der namgebende Zufall in der Ermittlungssache Dellmann wie die spöttliche Vorsehung.
Immerhin: Sie hatten ihn nicht durchsucht. Aber es reichte, an diese Möglichkeit zu denken und ihm wurde schlecht. In der Jackentasche umfasste seine Hand das Plastiktütchen mit dem Projektil. Die Angst hatte ihn eingeholt, flocht die Gangsysteme seiner Organik zu einem einzigen harten Knoten. Er beugte sich über das Lenkrad, schnappte nach Luft. Es waren aber auch ein bisschen viel Metamorphosen gewesen für seinen armen Kopf: Er vom Frosch im Reißtest zum abgehängten allerchristlichsten Galgenbruder und im nächsten Augenblick die Bewacher von Vigilia von zwei heiligen Bestattern des Herrn zu zwei Bodybuildern des Führers. Aber so ging die Gedankenmaschine, quirlte sein ganzes Wissen, seine Assoziationen und Einfälle in alle Ereignisse mit hinein. Eine Strafe, zu seinem Gedächtnis in beruflichen Dingen auch noch eins für seine gute altsprachliche Schulbildung haben. Hatte ihm nie was genützt, kein Verbrecher, der je die Mythologie, die Bibel mit eingeschlossen, benutzt hätte, um Spuren zu verwischen. Obwohl: Es war natürlich ein Unterschied, ob die Scheiße ihm durchs Hirn ging, wenn er bedroht wurde, oder in die Hose. Und atmete durch: Erst einmal sammeln.
Die Bodybuilder kannten ihn und waren offensichtlich auf sein Kommen vorbereitet gewesen. Obwohl er die Entscheidung, sich zuerst um Siechner zu kümmern, für sich allein im Auto getroffen hatte, ohne Absprache mit irgendwem: Das hieß wohl, dass er verfolgt wurde. Und Kolbe und Breker waren offensichtlich dazu abgestellt, Siechner unter eine Art Hausarrest zu nehmen. Das Türschild zu demontieren. Die Klingelanlage zu sprengen. Im Vertrauen auf seinen Beamtenfleiß, dass er gleich wieder umkehrte, wenn er Siechners Name nirgendwo fände. Oder um ihm zu bedeuten: Wir schrecken vor Nichts zurück. Doch gleichzeitig schienen die Beiden legal zu operieren. Trachteten danach, sich mit ihm ins Einvernehmen zu setzen. Beziehungsweise: ihr Auftraggeber. Er starrte auf die Visitenkarte: Vigilia Bewachungsdienste Hennigsdorf. Eine Adresse, eine Telefonnummer, ein Faxanschluss, E-Mail. Und unter der Web-Adresse in winzigen Lettern der Zusatz: Ein Unternehmen der sekur services. Sekur. Schwarze Uniformen, drei rot gefüllte Kreise über der rechten Brusttasche, Ausrüstung im Normalfall mit Handschellen, Knüppel und Revolver. Eine der drei großen Firmen, die bundesweit im Auftrag der öffentlichen Hand Sicherungsaufgaben übernahmen. Ausgezeichnete Verbindungen zu den verschiedenen Innenministerien, wenn man danach ging, wie oft sie in letzter Zeit die Nase vorn gehabt hatten, beim Bau der jüngst gesetzlich beschlossenen Bewahranstalten für noch nicht strafmündige Täter. Kinder also, auf die endlich jemand aufpasste. Und die nach der verpfuschten Kindheit nun wenigstens eine gründliche Ausbildung erhalten sollten: Drill. Konnten sekur services sie später bestimmt gut als Söldner vermieten. Zum Schutz von deutschen Investoren bei Hungeraufständen in Schanghai oder so etwas. Praktisch.
Die Windschutzscheibe seines Fiesta hing vor ihm wie eine zu Eis gefrorene Nebelwand. Unterm Beifahrersitz fand er eine von aufgetrockneter Nässe wellig und gelb gewordene Küchenrolle und wischte damit über das Glas. Der Himmel war wieder zubetoniert, die Sonnenlöcher hatten ihre Zeit gehabt. Fuhr er am besten wieder zur Dienststelle zurück. Ging in die Kantine. Vertiefte sich in die Zettelwirtschaft liegengebliebener Strafanträge, die er zur Einstellung oder zur Verhängung von Bußgeldern vorschlagen konnte. Hing sich ein bisschen ans Telefon. Schrieb endlich mal die Kilometer auf, die er im Privatfahrzeug zurückgelegt hatte. Bis ihm einfiele, was er mit dem Projektil machen sollte. Weitergabe an den Schusswaffenerkennungsdienst des BKA per Formblatt KP 28, in Klammern: doppelt? Ein Projektil, das den von Terroristen heimtückisch ermordeten Dellmann am Ende noch hinterrücks zum Selbstmordkandidaten machte, dessen Unterdrückung es jedenfalls wert war, einen der fähigsten Berliner Gerichtsmediziner zu entführen und zu bewachen? Kein Durchkommen. Und die Affenspur hatte die Grüne Truppe ihm gestern nacht absichtsvoll zerknüppelt. Er sollte auf Staatsanwalt Nebelung hören: Aufstecken.

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