Aus, Schluss, Ende: Kriminalkommissar Wengath ist durch. Vieles an seinen Abenteuern ist ganz und gar krimitypisch gewesen, besonders der Schluss, an dem er, der geprüfte Ermittler, alles weiß und nichts beweisen kann. Er kennt Opfer, Täter, Tathergang und Motive, aber das Typische, das nun passiert, ist, dass er vom Dienst suspendiert wird. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Am Ende muss das Böse siegen und das Gute bloß moralisch triumphieren. Wer würde etwas anderes glaubwürdig finden? Wengaths Dienstpistole will den Schluss neu schreiben und sieht ihren Eigner flehentlich an, als dessen Vorgesetzter Bertsch ihm die Waffe abnehmen will. Aber Wengath denkt an seine neue Liebe und gibt die Waffe ab. Einen falschen Bart erbittet er sich von Bertsch. Denn eine Kleinigkeit hat er noch zu erledigen.
Nicht weit von seiner Wohnung hielt Wengath ein Taxi an, ließ sich in die Polster der Rückbank fallen. Der falsche Bart kitzelte unangenehm beim Sprechen:
Nach Treptow, ehemalige Farbenfabrik, zur Firma Schöne Alte Fahrzeuge, bitte.
Und während der Fahrt von Schöneberg nach Treptow in den Halbschlaf gewiegt, entspann sich ihm ein langes Gespräch mit Lene Marcks. Ausgehend vom alten Dellmann. Beezettwee der Frage, was Polizisten alles drauf zu haben hätten, damit sie nicht zwangsläufig bei merkwürdigen Theorien landeten, alles selbst beobachtet, wer wem kulturell genetisch überlegen sei. In Berlin wäre das mindestens Türkisch, Polnisch oder Russisch, Englisch und eine romanische Sprache. Ferner Psychologie und Soziologie, selbstverständlich ausgehend von Lessings schönem Postulat, dass kein Mensch freiwillig Böses tue. Und bittesehr eine asiatische Kampftechnik, sofern es so eine gab, die einzig und allein dazu befähigte, mit Engelsgeduld Schläge einzustecken:
Sie: Aber was willst du mit einer Polizei, die die Leute versteht, gegen die sie vorgeht? Nutzlos gewordene Bevölkerung kann ich nur bewirtschaften, indem ich sie kriminalisiere. Zum Beispiel, indem ich jeden Erwerbslosen, der dreimal schwarz fährt, jahrelang hinter Gitter bringe. Ausschließlich im Gefängnis bringt er mir noch Geld ein, das nämlich, das mir der Staat für seine Wegschließung zahlt. Außerdem kann ich ihn dort billig arbeiten lassen, was alle, die außerhalb der Gefängnisse sporadisch arbeiten, ebenfalls billiger macht. Die Illegalisierung der Einwanderer hat den gleichen Effekt. In dieser Situation gilt, je ignoranter und brutaler die Polizei und deshalb übrigens, je schlechter man sie bezahlt, desto besser funktioniert sie.
Er: Nach deiner Logik wäre es doch noch sinnvoller, die Polizei würde die Nutzlosen gleich schlachten, um ihre Organe als Ersatzteile zu vermarkten.
Sie: Ja, das ist das brasilianische Modell. Und vielleicht machen ihnen die Russen in Zukunft dieses Geschäft streitig. Aber du musst bedenken, dass auf dem Organmarkt hauptsächlich Ware verlangt wird, die von Kindern und Jugendlichen stammt. Dies Art präventiver Verbrechensbekämpfung ist bislang bei uns noch nicht so recht durchsetzbar.
Er: Und die Polizei in einem wünschenswerteren Staat?
Sie: Wie wäre der denn?
Er: Einer, in dem die wirtschaftlichen Aktivitäten sowie deren Lenkung und Verwaltung nicht nur vorgeblich das Ziel haben, jedem einzelnen Bürger das Minimum seines Bedarfs zu garantieren. Eigentlich genau so, wie die Saff das in ihrem letzten Bekennerschreiben gefordert hat: Essen, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Bildung und ein paar Extras auf Lebenszeit für alle. Und zwar vollkommen unabhängig von den Leistungen und Fähigkeiten der jeweiligen Bezieher. Dazu demokratisch, ökologisch, ohne kulturelle Verbote, pipapo. Das Übliche, was theoretisch alle wollen.
Sie: Und die Bürger, die unter dieser wohltätigen Staatseinrichtung leben, dürfen die so stumpfsinnig sein, wie sie das zu ihrem Wohlbefinden nötig haben? Oder müssen sie Einsicht zeigen und die Staatsziele teilen?
Er: Wenn sie sie teilten, ließe sich sicher mehr und das Meiste schneller regeln. Und das, denk ich doch, wäre besser.
Sie: Zu Anfang vielleicht, aber auf Dauer bestimmt schlechter.
Er: Wieso das?
Sie: Weil auch die Verwaltung des besteingerichteten Staates dahin tendiert, ebenfalls stumpfsinnig zu werden. Sie ist in erster Linie auf ihr eigenes Funktionieren bedacht. Dass sie nebenbei wirkliche Dinge regelt, ist ihr im Grunde gleichgültig. Einsicht der Bürger in die Staatsziele heißt aus dem Blickwinkel der staatlichen Verwaltung ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch, dass die Bürger ihre eigene Beschränktheit gegen die Beschränktheit der Verwaltung austauschen sollen. Eine Art Beamtenstaat entsteht so, in dem alles, ob zum Guten oder Schlechten, mit einem enormen Aufwand an Moralgerede passiert und in dem sich jeder Flachkopf auch noch zum allergehorsamsten Hilfsbeamten aufgerufen fühlt. Das muss schiefgehen.
Er: Nicht, wenn viele aufgeklärte Bürger auf die Erfüllung der eigentlichen Staatsziele drängen können, notfalls auch gegen eine dumm gewordene Verwaltung.
Sie: Mit dieser Forderung gäben wir die Wirklichkeit zu Gunsten einer Utopie auf: Zu anstrengend für Normalbürger. Es ist ein alter Fehler der Engagierten, das ungestörte Desinteresse an allem, was außerhalb des eigenen Gesichtskreises passiert, nicht als Recht des Einzelnen zu achten. Ich fürchte, wir haben an diesem Punkt unbewusst immer dem ekelhaften Nietzsche nachgeplappert, nämlich dass der von ihm so genannte Letzte Mensch, der keine Anstrengung mehr will, ein verächtlicher Erdfloh sei. Ich sage heute: Lasst mir die Leute in Ruhe! Haus, Partner, Kind, Katze, drei Tomatenpflanzen, damit ist ein Mensch vollkommen ausgelastet, schon damit hat er kaum noch Zeit, das Licht an seinem Fahrrad zu reparieren, obwohl er müsste.
Er: Das ist nicht dein Ernst! Das Licht repariert er, sobald er eine heimliche Geliebte hat, die er nur nachts mit dem Rad besuchen kann.
Sie: Kann sein. Aber die paar Male, wo ich jemandes heimliche Geliebte war, spielte sich das tagsüber ab. Nachts hatte ich ja den Ehemann zu Hause und der andere seine Frau.
Er: Also noch nicht mal Licht am Rad. Ich sehe schwarz.
Sie: Vielleicht würde uns ein besseres Einspruchsrecht helfen. Für jedermann ohne Mühe zugängliche Institutionen mit der Macht zum platten Neinsagen, nur um Verwaltungsmaßnahmen, auch wenn hinter denen die Regierung steht, ganz bedenkenlos ablehnen zu können. Nach dem Motto: Passt uns grad nicht.
Er: Aber was würdest du damit gewinnen? Nichts, als dass die Beschränktheit der Verwaltung und die der Bürger sich gegenseitig blockieren. Denn nach deiner Voraussetzung taugen weder die noch die anderen zu irgendetwas.
Sie: Ja, aber es ist eben so, wie man in der Schule lieber zwei träge Kinder nebeneinander setzt, als ein lebhaftes neben ein träges. Diese beiden machen sich gegenseitig nur extremer, während jene anfangen, sich auf die Nerven zu gehen und sich zu ändern. Aber ich räume ein, dass mein Vorschlag wirklich zufriedenstellend nur im Einparteienstaat funktionieren kann. Weil ich da außer Verwaltung und Bürgern auch noch eine immerwährende Staatspartei habe, die für das Wohlergehen der Bürger sowie für das Funktionieren der Verwaltung nicht nur mal eben einen Tag vor der Wahl verantwortlich ist. Eine solche Partei ist es, die mir die nötige Bewegung ins Spiel bringt. Über den Machtkampf nämlich, der in ihr stattfindet, übrigens gar nicht mal so selten über das Mittel der Qualifizierung. Wenn nun die trägen Bürger mit ihren aus Unlust gespeisten Neins die träge nach ihren Standardabläufen vor sich hinwurstelnde Verwaltung in Schach halten, dann ist der Maßstab für Qualifizierung innerhalb der Partei der, mit dieser vertrackten Situation zurecht zu kommen und trotz allem die Weichen für die Zukunft zu stellen. Unter solchen Voraussetzungen könnte dann freilich Denkvermögen entstehen. Und schlau, wie wir es angestellt haben, entstünde es im Zentrum der Macht. So weit eine kurze Skizze, wie du dauerhaft zu deiner wohltätigen Staatseinrichtung kommen könntest.
Er: Nee, Lene! Das können wir nicht so stehen lassen. Sagen, dass Einparteiensysteme demokratisch sein könnten, verstößt genauso gegen die guten Sitten, wie zu behaupten, es gebe undemokratische Mehrparteiensysteme. Ich werde bald für verrückt erklärt, aber du hast noch einen Job zu verlieren. Du darfst nichts anderes behaupten, als was jeden Tag über alle Sender geht und danach sofort alle Tage über jeden: Ohne politischen Pluralismus keine freie Marktwirtschaft und umgekehrt.
Sie: Welche freie Marktwirtschaft? Wenn du, wovon wir ausgegangen waren, der Wirtschaft vorschreiben willst, sie solle gefälligst der allgemeinen Wohlfahrt dienen, dann kannst du sie ebenso gut gleich der staatlichen Verwaltung unterstellen. Das wird dir jeder Firmeninhaber auf Anfrage gerne bestätigen.
Ja, da musste er passen. Es war wirklich immer wieder außerordentlich lehrreich, sich Unterhaltungen mit so klugen Menschen wie Lene Marcks auszudenken. Eine absolut erfahrene Frau. Da hatte Bertsch schon Recht, gerührt zu sein. Wenn er an Lene dachte, hatte er nicht das Gefühl, dass Nebelung oder Lochner ihm viel anheben könnten, er bei Siechner in der Klappse landen würde. Zusammen würde ihnen immer etwas einfallen. Und er bohrte sich in Gedanken naseweise tiefer in sie hinein, Liebe ging ihm über den Geruchssinn. Aber der falsche Bart störte mit seinen Ausdünstungen von medizinischem Schampu und Hautpuder: Naja, für lange brauchte er die kleine Tarnung ja nicht.
Und wenn es danach noch einen Epilog geben sollte – mit einem kleinen Briefwechsel ließe sich erzählen, was im besten Fall noch geschehen würde:
Stock & Blattner Gartenbau an: Der Polizeipräsident von Berlin. Sehr geehrte Damen und Herren, auf Vermittlung der Treptower Firma Schöne Alte Fahrzeuge hat sich unser Betrieb kürzlich einen gebrauchten Nissan-Lieferwagen mit vier Sitzplätzen zugelegt (Kopie des Kaufvertrags, siehe Anlage). Wir sind mit dem Fahrzeug zufrieden, aber wir möchten Sie bitten, eine Untersuchung zu veranlassen, warum es von einem Polizeihubschrauber verfolgt wird. Unsere Kunden sind hauptsächlich Einzelhausbesitzer, die im Grünen wohnen, um dort ihre Ruhe zu genießen. Der Polizeihubschrauber ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv, selbst wenn er unsere Kunden nur so lange belästigt, wie wir in ihrem Garten arbeiten. Darüber hinaus befürchten wir, der neu erstandene Lieferwagen könnte zuvor Kriminellen gehört haben, was unserem Ruf u.U. abträglich wäre. Dieser Verdacht hat sich durch unsere Versuche, mit den Vorbesitzern in Kontakt zu treten, erhärtet. Schließlich ausfindig gemachte Familienangehörige haben uns nämlich glaubwürdig versichert, die Vorbesitzer seien überstürzt (nach Mexiko?) ausgewandert. Für Ihre Bemühungen danken, mit freundlichen Grüßen.
Der Polizeipräsident von Berlin an: Stock & Blattner Gartenbau. Sehr geehrter Herr Stock, wir bestätigen den Empfang Ihres Schreibens, für das wir uns bedanken. Wir bedauern sehr, dass Sie, Ihre Mitarbeiter und Kunden den Einsatz von Hubschraubern der Polizeikräfte als störend empfunden haben. Solange jedoch ausländische Verbrecherorganisationen sich auf deutschem Boden gegenseitig blutig befehden, ist die Hubschrauberfahndung leider unverzichtbar. Wir bitten daher um Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung. Die von Ihnen unterstellte Möglichkeit, Ihr Fahrzeug könne Kriminellen gehört haben und werde deshalb von der Polizei überwacht, ist nach unseren Erkenntnissen unbegründet. Der Hubschrauber wird zufällig in Ihrer Nähe im Einsatz gewesen sein. Mit freundlichen Grüßen, im Auftrag, nach Diktat verreist.
Stock & Blattner Gartenbau an: Der Polizeipräsident von Berlin. Sehr geehrte Damen und Herren, wir möchten uns für Ihre schnelle Antwort bedanken. Ihre Mitteilung, unser neu angeschaffter Lieferwagen habe höchstwahrscheinlich doch nicht Kriminellen gehört, beruhigt uns sehr. Im Übrigen freuen wir uns, dass die Verfolgung unseres Nissan-Lieferwagens durch Polizeihubschrauber aufgehört hat, nur kurze Zeit nachdem wir unseren ersten Brief an Sie geschrieben hatten. Vielen, vielen Dank und mit freundlichen Grüßen.
Valencia, im Sommer 1996