vonkirschskommode 10.10.2019

Kirschs Kommode

Komplett K: Kommodenfächer & Kurzwaren, Krimi & Kinder, Klasse & Küche, Kypris & Kirche, K-Wörter & Komfort.

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Was bisher geschah: Nichts. Es ist die erste Folge des Romans. Sie geht los mit einem Knall. Er sprengt ein Loch in die Gedankenwelt des ermittelnden Kommissars Daniel Wengath und alles, was er zu denken hat, wirbelt durch es hindurch. Es dauert ein Weilchen, bis es sich wieder ordnet.

Der Schuss: Eine Erinnerung, die in seinem Kopf saß wie hineingesprengt. Plötzlich, in der Tiefe des Raumes, in den er mit dem Telefonhörer hineinlauschte, nach dem gewaltsamen Öffnen einer Tür, drei, höchstens vier Schritte wie das dreimalige, viermalige Aufprallen eines stumpfen Gegenstandes auf einer weicher werdenden Schädeldecke, dann eine sich überschlagende Männerstimme, in der Wut funkelte wie auf Schmirgelleinen die Kristallsplitter:

Mit wem? Mit Wengath?

Der Knall zerriss ihm fast das Trommelfell. Und als würde er überdeutlich hören, wie scharfes Metall sich in Plastik hineinfraß, zog er, die gepeinigten Ohren dazwischen zu klemmen, die Schultern hoch: In die Sprechmuschel! Ein glatter Ohrdurchschuss! Durch den Gehörgang in die weiche graue Masse des Hirns. Und den selben Weg zum anderen Ohr wieder hinaus. Er war liquidiert. Durch seinen Schädel konnte man hindurchsehen wie durch ein Pusterohr.

Und was war jetzt mit Siechner? Wo hatte er sich genau befunden, als das Gespräch durch, wie Juristen sagen, unmittelbaren Zwang unterbrochen wurde? Nicht doch vielleicht auf der kurzen Strecke, die die Kugel von der Mündung bis in die Sprechmuschel zurücklegte? Armer Kerl zog ihm durch den Kopf. Durch den durchlöcherten Kopf: Dachte er deshalb Armer Kerl? Dies Pusterohr durchs Ober­stübchen machte ihn am Ende noch sentimental. Was da alles durchzog. Dabei lebte das Vieh vielleicht ja noch.

Siechner, das Vieh. Dr. Thomas Siechner, 48 Jahre alt, ledig. Ein Mann von seltsamen körperlichen Ausdünstungen. In Wengaths Nase wie von einer parfümierten Kalbsleberwurst mit einem unangenehmen Hauch von altem Lappen und ausgeschwitztem Alkohol. Wie das weiche Wachs um eine Leberwurst auch seine Haut, glatt und durch die darunter liegende gleichmäßig dünne Fettschicht undurchlässig für den warmen roten Farbton des Bluts. Und dabei immer ein wenig feucht, besonders die der Hände. Er war nicht weiter dicklich, bis auf zwei nicht zu übersehende Wülste in der Nierengegend, hatte herabfallende Schultern und, wo die Glatzenbildung sie ihm gelassen hatte, glatte Haare, deren ursprüngliche Farbe sicherlich schon einige Jahre wie von grauem Baustaub überzogen aussah. Er knöpfte seine himmelblauen Hemden stets bis über den Adamsapfel zu und es schien, als quöllen deshalb seine Augen aus seinem merkwürdig faltenfreien Gesicht. Keine blauen, eher honigfarbene, fast unsichtbar die Iris im unterlaufenen Augenweiß. Augen, wie die eines Erwürgten. Und Wengath war sich nicht mehr sicher, ob man Siechner tatsächlich erschossen hatte. Siechner der Gewürgte.

Hatte den obersten Knopf seines Hemdes aber doch einmal aufgeknöpft. Und die nächsten vier gleich mit. Siechner das Vieh. Er hatte es selbst gesehen. Es ging nicht anders. Schließlich hatte Kolbe ihm den Kopf festgehalten, so dass er ihn nicht wegdrehen konnte. Immer brav auf die Mattscheibe sehen, hatte Kolbe verlangt und den Videorekorder eingeschaltet. Also sah er hin. Sie hätten ihm auch die Augenlider auseinander gezogen, wenn ihm noch eingekommen wäre, sie zu schließen. Es kam ihm nicht ein, er sah, was er sehen musste: Siechners offenes Hemd. Siechner, das wenige Haar wirr, die Augen mehr herausgequollen denn je, wie er durch die Gerichtsmedizinische Abteilung schwankte. Sang er? Oder schrie er? Nein, das war nicht sein immer akkurat aufgeräumtes Labor, das war der Autopsiesaal. Was steuert er so zielstrebig auf die Dicke zu, deren vieles nackte Fleisch sich auf dem Operationstisch türmt. Was will er? Ein Tänzchen?

Wengath schüttelte es, als er an das dachte, was nun folgen würde. Dann erst bemerkte er, dass der Telefonhörer noch auf seinem Schreibtisch lag und unaufhörlich das Besetztzeichen von sich gab. Weg mit den Gedanken an Siechner. War er nicht seit eben liquidiert? Liquidierte können nicht denken.

Aber nicht denken zu können, Bilder sehen zu müssen, in denen er unmittelbar Ich war, mit eigenen Augen schaute, war schlimmer. Denken, sortieren, sich die Episoden erzählen, in denen sein Ich wieder ein Er wurde, er seine Rolle hatte, spielte, wie er sie kannte oder annahm, sie zu kennen, nur das schaffte etwas wie Ordnung in seinem Kopf. Weg mit dem Ich, Kriminalkommissar Wengath war er.

Die Videoaufnahme von Siechner im Autopsiesaal war nicht die einzige Szene, die sich in seiner Erinnerung wieder und wieder abspulte, seit er mit dem Fall Dellmann beschäftigt war. Besser gesagt, mit dem Fall der 240 Plastikwecker. Ursprünglich ein ruhiger Fall von Sachbeschädigung, genau richtig für einen gewissenhaften, fast übertrieben detailverliebten Kriminalbeamten, wie er es war. Er brauchte für alles dreimal so lange. Dafür bekam er auch dreimal so viel heraus. Er schloss nicht so leicht eine Akte, er wartete lieber ab, ob sich nicht doch noch ein weiteres, vielleicht endlich aufschlussreiches Detail finden ließe. Und die Geschädigten dieses Falls konnten warten. Sie hatten Zeit. Der Fall der 240 Plastikwecker, das war Sachbeschädigung an Gräbern.

In Serie. Die Serie der Grabschändungen war es, die ihn an den Anfang von Lubitsch’ Sein oder nicht Sein erinnerte. An die Kamerafahrt über die Ladenschilder, an die ruhige Männerstimme aus dem Off, die die Namen der Besitzer vorlas. Etwas wie: Kozinski, Rozinski, Sziblowski und Mavlewski. Vier bis sechs Namen. Dann eine Schlussfolgerung: Kein Zweifel, wir befinden uns in Polen. Genau wie Lubitsch’ Kamera war er mit seinem inneren Auge die Namenszüge auf den geschädigten Gräbern durchgegangen. Er sah jeden Stein einzeln vor sich, wie er ihn vom Foto her kannte: von Mikulicz, Weidemann, Mackeroth, Steinacher, Badendiek, Foertsch und Walter. Ein Frauenarzt, ein Filmregisseur, ein Wissenschaftler, ein Vereinspolitiker, ein Journalist und zwei Majore der Bundeswehr. Aber keine Stimme aus dem Off hatte ihm sagen können, was die Toten miteinander verband. Außer der an vier hintereinander geschalteten Plastikwecker angeschlossenen Sprengmine – ein Modell der ehemaligen NVA – die jeweils benutzt worden war, aus dem Grabstein einen Haufen Marmorbrocken und aus dem Blumenbeet davor einen Erdkrater von über einen Meter Tiefe zu machen. Aus dessen Tiefe den Spuren suchenden Beamten manchmal noch das Gebiss des Begrabenen entgegen bleckte. Doch dann war Dellmann gekommen.

Dellmann! Schon der Name. Und Kopfschütteln beim Drandenken. Aber Siechner hieß ja auch Siechner. Und Nebelung Nebelung. Dellmann lag, so lernt man sich kennen – gedellt? verdellt? zerdellt? entdellt? – unter einer Plane. Mit ihm ging alles richtig los. Im – wozu war er Kriminalbeamter? – schönsten dümmsten Krimistil: Auf dem Friedhof.

Der Friedhof lag bei Bonn im Wald. Und über Bonn und Wald, nicht sehr hoch, lag eine graue Wolkenschicht, aus der es in dünnen vom Wind getriebenen Fäden ununterbrochen nässte. Die Brocken des von der Explosion aufgeworfenen Mutterbodens waren längst zu einer einzigen schmierigen schwarzen Schicht zerflossen. Sie bedeckte die Rasenmatten und Blumenbeete um die gesprengte Grabstätte herum, während die Steine der umliegenden Gräber schon wieder eigentümlich sauber aussahen. Der Dauerniesel hatte sie gewaschen. Wie auch die Knochen des an die Luft beförderten Toten, deren Weiß aus dem Dreck heraus stach. Die Kollegen der Bonner Kripo rührten sie nicht an. Der Grabinhaber war nicht irgendwer. Es musste von höherer Stelle entschieden werden, was mit seinen Überresten zu geschehen hatte. Die Marmortrümmer der Grabplatte waren hingegen schon ordentlich auf einen Haufen geschichtet, die Stücke des Reliefs – ein Porträt des teuren Toten im Profil – beiseite gelegt und so weit wie möglich zusammengesetzt. Ein Fernsehteam filmte sie ab. Der Explosionskrater war an einer Stelle rot verfärbt, der nasse Erdbrei war glatt gedrückt und in einer breiten Schleifspur über die umliegende Rasenfläche verteilt worden. Am Ende der Schleifspur ein Körper unter einer Plane: Dellmann. Mit einem Loch im Bauch, mindestens so eindrucksvoll wie das im Boden.

Von Mikulicz, Weidemann, Mackenroth, Steinacher, Badendiek, Foertsch, Walter und Erhard. Wengath stand an dem Bauband, mit dem der Tatort abgesperrt war und sah dem Spurensuchtrupp zu. Sein Magen rebellierte gegen den vor ein paar Stunden eilig hinunter gekippten Kaffee. Erhard, Ludwig Erhard. Bundeskanzler. Und eine frische Leiche. Als Dreingabe. Ein Brötchen hätte seinen Magen jetzt etwas beruhigt.

Schön, wie die Berliner Ermittlungsbehörden sich blamiert haben!

Staatsanwalt Nebelung stelzte durch den Matsch:

Das ist Ihre Arbeit gewesen, Herr Wengath.

Wengath zuckte mit den Schultern. Vom nassen Mantelkragen kroch ein kaltes Rinnsal seinen Nacken hinab. Nebelung stand jetzt vor ihm, die spitzen Enden seines Regenschirms stachelten vor Wengaths Augen:

Ich wünschte nur, es wäre nicht auch unsere Arbeit. Das fällt doch auf die Berliner Staatsanwalt zurück, was Sie verbocken.
Ich kann nicht alles voraussehen.

Die kleine Packung trockener Butterkekse, die er im Flughafen Berlin-Tegel vor dem Einsteigen ins Flugzeug hätte einstecken können: Wenn er die jetzt hätte. Aber die Vorstellung, neben Nebelung sitzend dem Krispkrasp der eigenen Kaugeräusche zuhören zu müssen: Es gab Sachen, die man sich nicht antun mochte.

Niemand kann alles voraussehen.

Nebelung blies den Atem in einem Stoß aus seinen großen Nasenlöchern und sein Unterkiefer schob sich leicht nach vorn. Wengath trat einen Schritt zurück. Aber im selben Augenblick hatte sich Nebelung auch schon vor ihm aufgebaut. Ein Hauch von Knoblauch, gemischt mit After Shave fing sich in Wengaths empfindlicher Nase, das von Nebelungs Regenschirm ablaufende Wasser fiel in dicken Tropfen auf sein Gesicht:

Und ich habe es vorausgesehen! Diese Leute sind Terroristen, die vor nichts zurückschrecken. Wie viele tote Polizisten soll es noch geben?!

Der Staatsanwalt streckte seinen Arm unter dem Regenschirm kurz in den Niesel hinaus, um auf den toten Dellmann zu zeigen. Wengath drehte gehorsam seinen Kopf in Richtung des unglücklichen Kollegen neben dem gesprengten Grab. Die Plane über Dellmanns unförmigen Körper schimmerte silbrig und Wengath dachte für einen Moment an Alufolie.

An Paprika in Alufolie. Wengath dachte immer ans Essen. Und kam dann nie dazu. Roter Paprika, Frucht für Frucht in Folie gewickelt, nach zwanzig Minuten in der heißen Asche geschält, zerteilt, geputzt und mit viel gutem Olivenöl, Salz, und Knoblauch eingelegt. Wenn er so eingelegten Paprika im Haus hatte, aber wann hatte er das schon, aß er ihn schon zum Frühstück. Auf einem Stück getoasteten Weißbrot mit einer Scheibe altem Schafskäse, wie ihn der lange holländische Käsehändler im Berliner Bezirk Schöneberg am Samstag auf dem Winterfeldmarkt verkaufte. Bei ihm zu Hause um die Ecke.

Und: Magenzwicken. Bloß nicht weiter ans Essen denken. Das hatte er jetzt davon. Er wandte seine Augen von der Leiche ab und schaute hilflos zu Nebelung:

Bislang ist mir nicht klar, wie man eine Person im Freien mit einem Sprengsatz an einem Zeitzünder umbringen kann. Immerhin müsste man das Opfer zwingen, genau auf der Bombe stehen zu bleiben, bis die Sache zündet. Allem Anschein nach war er nicht einmal gefesselt.

Nebelung stieß erneut seine gesamte Atemluft durch die Nase aus. Obwohl es schon Ende Oktober war, sah er immer noch aus, wie gerade aus dem Sommerurlaub heimgekehrt. Gepflegte blonde Haare über den Schläfen und am Hinterkopf, so kurz geschnitten, dass die gebräunte Haut durchschimmerte. Selbst jetzt im kalten Nieselregen bewegte er sich locker und schwungvoll, etwas Steifbeiniges bekam er nur, wenn er vermeiden wollte, seine guten Budapester Schuhe mit Matsch zu beschmutzen. Seine große Nase und sein leicht aufgestülpter Mund gaben seinem Gesicht eher etwas Entschlossenes als etwas Grobes. Seine Augen lagen tief in den Augenhöhlen, grau und klein, gute Bohraugen, fest lidumklammert unter dem drohenden Schatten der Brauen:

Sie denken als gewöhnlicher Kriminalist. Aber Terroristen denken als Politiker, Herr Wengath. Sie sind eine ganze Nummer zu klein für den Fall.

Wengath vermied es, noch einmal mit den Schultern zu zucken. Das Wasser stand auf dem Kragen seines Regenmantels. Wenn er sich nicht bewegte, war das, was ihm den Nacken hinunterlief, schon etwas angewärmt durch den vorherigen Kontakt zur Haut.

Sein Fall hatte sich ausgewachsen.

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