Religions- und Kirchenkritik kann ich mir kaum einmal anders als gemütvoll-gemütlich vorstellen; es geht darin schließlich überwiegend um erledigte Dinge, um die Sichtung einer abgelegten Phantasiewelt voller erstaunlicher Einzelheiten und künstlerischer Schätze. Bemerkungen dazu sind in meiner Kommode über alle Schubladen verstreut, besser: eingestreut in andere Zusammenhänge – ein Nebenbeiwerk, zu dem ich gleichwohl immer wieder zurückgekehrt bin. Nur ein einziges Mal habe ich versucht, mehr daraus zu machen, ein ganzes Buch geplant: Karl Kirschs Kirchenjahr, ein Heiligen- und Festtagskalender für Ungläubige und solche, die es werden wollen. Davon existieren etliche Bruchstücke. Für den Monat September zum Beispiel dieses:
29. September, Michael
Fällt eine Tischrunde plötzlich ins Schweigen, weiß man in Spanien, woran es liegt: Ha pasado un ángel – ein Engel ist vorbei gegangen. Diese Redensart ist in Varianten in ganz Europa bekannt. Im Tanz der Vampire von Roman Polanski liest Graf Draculas schwuler Sohn sie aus einem Knigge für Verführer vor, dabei eine Hand wie ein Vögelchen auf der Schulter seines verängstigten Opfers platziert. Manchmal lautet der Kommentar zum Verstummen der lustigen Runde nämlich auch: Der Tod ging vorbei. Es fällt nicht schwer, den Zusammenhang zwischen beiden Versionen zu verstehen. Wem ein Engel sacht von hinten an die Schulter tippt, wer würde nicht fürchten, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat?
Engel fliegen bereits durch das erste Buch der Bibel, der Genesis. Und noch im letzten Buch, der Apokalypse, spielen sie eine wichtige Rolle. Der Cherubim, den Gott nach der Vertreibung von Adam und Eva mit flammendem Schwert vor das Paradies stellt, wird meistens mit dem Erzengel Michael identifiziert. Der Engel, der in der Apokalypse den Teufel zerdrischt, ist ebenfalls Michael. Als in der Bibel meist genannter Engel gilt er als der höchste von allen.
Wegen seiner Eigenschaft, mit dem Schwert umgehen zu können, hat der Engelsfürst es später bis zum Schutzpatron der christlichen Streitkräfte gebracht. Ein Posten, der, bei der Häufigkeit, mit der die christlichen Streitkräfte aufeinander losschlagen, wahrscheinlich nur um den Preis einer mehrfach gespaltenen Persönlichkeit zu haben ist. Zumal Michael auch der Oberengel der Mohammedaner ist, mithin für deren Heere ebenfalls Schwert und Flügel schwingen dürfte. Aber so wenig, wie sich die Frage der mittelalterlichen Mönche beantworten lässt, wie viele Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz haben, so wenig eben auch die, in wie vielen Lagern gegnerischer Heerhaufen ein einziger Engel gleichzeitig stehen kann.
Der Michaelskult datiert aus dem späten 5. Jahrhundert und aus Süditalien. Der Legende nach verfolgte ein Jäger ein Wild, das sich in eine Höhle flüchtete. Wütend schoss er ihm einen Pfeil nach. Der Pfeil flog aus der Höhle wieder heraus und durchbohrte den Schützen. In der Nacht träumte der örtliche Bischof, dass der Erzengel zu ihm sprach: Diese Höhle steht unter meinem Schutz, man soll dort die heiligen Engel verehren!
Die Höhle, fanden die Gläubigen entzückt, sah ganz aus wie ein Kirchenschiff. Und so stellte man einen Altar dort auf und las sonntags die Messe. Als später noch – Michael bleibt ganz in seinem Element – eine bedeutende Schlacht gewonnen wurde, baute man neben den Höhleneingang die erste Michaelskirche der Christenheit.
Eine gewisse Häufung barocker Michaelskirchen gibt es an der spanischen Ostküste. Wer wissen möchte, was sich hinter der Floskel von den europäischen oder christlich-abendländischen Werten Schönes verbirgt, findet in der Geschichte dieser Bauten Anschauungsmaterial erster Güte. Im 13. Jahrhundert ließ Michael in der Gegend von Valencia das Schlachtenglück endgültig zu den Christen wechseln, das Land kam 1238 unter die Krone von Aragón. In den folgenden Jahrhunderten wurden diejenigen seiner Einwohner, deren Vorfahren ab dem frühen 8. Jahrhundert die Religion der vorherigen, muslimischen Herrscher angenommen hatten, immer weiter marginalisiert. 1609 setzte die Inquisition sich dann mit ihrem Anliegen durch, dass sie, bzw. ihre Nachfahren, ob inzwischen getauft oder nicht, endgültig zu vertreiben seien. Zehntausende Menschen wurden brutal eingesammelt, eingeschifft, an der Nordküste Afrikas ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Um die Stadt Valencia herum traf es ein gutes Drittel der Bevölkerung. Ganze Landstriche mussten neu besiedelt werden. Und natürlich musste man dort, wo vorher Moscheen gestanden hatten, Kirchen bauen. Rücksichtsvoll, wie die katholische Kirche manchmal sein kann, weihte sie ihre neuen Gotteshäuser Michael, dem Engel, der auch im Koran vorkommt.