vonkirschskommode 09.02.2021

Kirschs Kommode

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vzg: Ich bin im Hausarrest und schiebe Unlust. Was meistens heißt, meinen trägen Körper von da nach dort, vom Schreibtisch, den ich fliehe, in die Küche, vom Küchenstuhl aufs Sofa, vom Sofa ins Bett. Der Kreislauf ist irgendwo dort, wo sich auch die Motivation herumtreibt, im Keller. Denn die Aussichten sind düster. Wenn die Sonne scheint, fehlt es an Regen. Wenn der Hausarrest endet, bricht draußen die Hölle los. Es ist in dieser Situation, dass ich denke, ich sollte mich aufschwingen und von dort oben herab dekretieren, was sich nach der Phase des Stillstands angelegentlich zu ändern habe. Ich sollte im Wald pfeifen, um Gegenwind zu machen für den nach der Ruhe bestimmt einsetzenden Sturm. Ich sollte mich in Pose werfen, um Haltung zu wahren. Und so, passend zu Pose und Pfiff, von so oben herab, als hätte ich zu bestimmen, nenne ich meine Notizen Vorschläge zur Güte, vzg.

29.01.2021, vzg: Es heißt immer, es sei leichter, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Aber das ist nur eingeschränkt richtig. Es ist relativ leicht, sich vorzustellen, wie eine nicht-kapitalistische Welt aussehen sollte. Das Unvorstellbare ist der Weg dorthin. Darüber wäre mehr und genauer zu reden.

01.02.2021, vzg: Im Radio ging es mal wieder um die Sterbehilfe und hochpathetisch um das unverhandelbare Recht auf Selbstbestimmung. Aber ich möchte lieber kein Recht auf Hilfe beim Freitod haben, solange ich als sterbenskranker Patient oder sterbensunglücklicher Sozialfall vor allem ein Kostenfaktor bin, der mittels einer kleinen Gabe Gift schnell aus Büchern und Welt entfernt werden kann. Weit von solchen Sorgen entfernt der Beitrag im Radio. Dort sind wir allesamt bestens privat versicherte, rundum versorgte, in hellen, schönen Einzelzimmern liegende, wertvolle Menschen, denen nach einem erfüllten, nutzbringenden Leben eine kleine Strecke sinnlosen Leides erspart werden soll. Als gäbe dieses Luxusproblem der Gesellschaft die Fragestellung auf! Ich begreife nicht, dass sich bei der ganzen Debatte niemand vorstellt und, schlimmer, offenbar niemand vorstellen kann, dass der Armutsrentner oder die Obdachlose, einmal ein wenig ernsthafter krank, die tödliche Spritze schneller im Arsch stecken hat, als er oder sie auf die Frage nach dem werten Gemütszustand ein „Ich kann nicht mehr.“ stammelt. Und zwar auch und gerade dann, wenn der diagnostizierte Gesundheitszustand noch nicht vollkommen hoffnungslos ist. Das böse Wort vom „sozialverträglichen Frühableben“, das es zu fördern gelte, wurde anlässlich der rotgrünen Gesundheitsreform Ende der Neunziger geprägt und es war populär genug, um bis heute im Umlauf zu sein. Die Leute müssten also wissen, wie und wohin der Hase läuft: In einer Gesellschaft mit krassen Unterschieden in der Grundversorgung ist es ab einem bestimmten niedrigen Einkommen schlicht selbstmörderisch, die Forderung nach einem legalisierten, medizinisch unterstützten Freitod zu unterstützen – an zwei Fingern kann ich mir ausrechnen, dass ich als Habenichts für die Gesellschaft tot immer am billigsten bin. Ich schlage deshalb dringend vor, derlei Forderungen nach finaler Selbstbestimmung zu unterlassen, solange der Markt und nicht das Selbst das Leben bestimmt.

08.02.2021, vzg: Ich nahm mir eine Woche so etwas wie Urlaub, was eine merkwürdige Sache ist, jetzt da ich ohnehin im 15-km-ums-Haus-Arrest bin und ohne Erwerbsarbeit obendrein. Aber es gelang mir, das Lesen zur Hauptbeschäftigung zu machen, wozu ich sonst hätte verreisen müssen. Unter anderem las ich: Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit von Rutger Bregman. An Selbstbewusstsein mangelt es dem jungen Autor nicht, wie nicht nur am Untertitel de Buchs zu sehen ist. Er „wirt“ (ich wire, wir wiren und du wirst irre) auch aufs schönste und weiß deshalb, was gut für „uns“ alle ist. Ich würde jederzeit Wert auf die Feststellung legen, dass meine Mitteilungen an Welt und Menschheit von meinem eigenen Erfahrungshorizont beschränkt sind, also über den Versuch eines wie auch immer öffentlichen Mitdenkens am Ganzen gar nicht hinaus gehen können. Bregman hat in dieser Hinsicht seine eigene kooperativistische Botschaft nicht besonders gut verstanden: Es ist etwas anderes zu sagen, wir, in der in der Gruppe, haben diskutiert, ob man dies oder jedes Problem nicht so oder so lösen könne, oder ob einer mit einem rhetorischen Wir operiert, demzufolge wer-auch-immer-„wir“ eben dieses und jenes müssten, ohne das leitartikelig-Hemdsärmelige seines Auftretens auch nur für einen Augenblick selbstkritisch unter die Lupe zu nehmen. Wie bescheiden war zum Beispiel Bertold Brecht im Vergleich: „Ich benötige keinen Grabstein,“ schrieb er 1955, „aber / Wenn ihr einen für mich benötigt / Wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt.“ Arbeitsteilung und Kooperation unter Gleichen auf den Punkt gebracht.

Die Vorschläge, die Bregman in seinem Buch macht, sind denn auch eher entbehrlich. Nicht, dass sie falsch wären. Oder unrealisierbar. Sie sind zu sehr Poesiealbum: Geh im Zweifelsfall vom Guten aus; verbessere die Welt, stelle eine Frage; denke in Win-win-Szenarien – um bei Yogisprüchen dieser Sorte anzukommen, muss ich es nicht auf mich nehmen, eine neue Geschichte der Menschheit zu entwerfen, eine neue Sicht auf die ganze Gattung zu proklamieren, die „uns“ Not tue und uns erlösen werde aus aller selbstgemachter Drangsal. Natürlich wird die Welt netter, wenn die Menschen zueinander netter würden, nämlich genau um dieses Stück Nettigkeit, das sie sich zugeständen. Aber löst das irgendetwas? Bregman kann oder will nicht erklären, wie die Entwicklung von einer friedlich-entspannten und kooperativen Steinzeit zu dem katastrophalen Zustand heute, der brutal rücksichtslosen Ausbeutung des Menschen samt seiner Mitwelt durch den Menschen, ihren Anfang genommen hat, und er unternimmt auch keinen Versuch, hier irgendetwas zu verstehen. Er beschwört eine Rousseau‘sche Urzeit, aber behandelt den Verlust der urzeitlichen Lebensweise als ein zufälliges Ergebnis einer kollektiven Unachtsamkeit; in ihrer vom Autor konstatierten Menschensgüte haben die Menschen wohl irgendwie nicht aufgepasst, als drei, vier Habgierige, Ehrgeizige, Gewalttätige sich zusammengetan haben. Und als die Streithähne erst einmal Streitkräfte hatten, war es zu spät. Ganz klar, dass er umgekehrt auf den Ausweg verfällt, „wir“ müssten uns nur einen Ruck geben, uns dem Vertrauen ineinander und in unsere Gattung wieder öffnen, insgesamt mitfühlender, freundlicher und kooperativer werden, und dann würde das alles schon wieder, Kapitalismus, Kriegstreiberei und Klimakatastrophe mit eingeschlossen. Ich fürchte, Kapitalisten, Kriegstreiber und sonstige Profiteure der Klimakatastrophe könnten dennoch aus anderen Zwänge heraus andere Pläne haben, und zwar selbst dann, wenn unendlich viele meiner Mitmenschen und ich ab jetzt unendlich viel netter zueinander und zu ihnen sind.

Dennoch hat es gelohnt, das Buch zu lesen. Der Stil ist eher schlicht, ungefähr so brillant wie die Moral des Buchs: mal sanft läppernde, mal auftrommelnde Leitartikelei. Und Bregman ist als Journalist, der historische Themen aufgreift, stellenweise erstaunlich unbelesen. So nennt er keins der klassischen Werke zum gleichen Thema, nicht Engels Ursprung der Familie, nicht Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt; mit Anarchisten und Kommunisten gibt er sich nicht ab – denn er versteht sich, sagt er, weder als rechts noch als links und lässt folglich die Arbeiterbewegung und ihre epochemachenden Schriften links liegen, als hätten sie nie existiert. Was er aber sehr wirkungsvoll leistet, ist die Widerlegung einiger bis heute sehr populärer Legenden über die Schlechtigkeit des Menschen, wie sie in Büchern und Filmen wie Der Herr der Fliegen oder in Reportagen über die Menschenfresser auf den Osterinseln oder auch berühmten psychologischen Studien mit Gefangenen und Gefängniswärtern zu finden sind. Hier trägt er außerordentlich aufschlussreiche Fakten zusammen, anhand derer er die Grundaussagen der Bücher, Reportagen und Studien bis ins kleinste demontieren kann. Er macht sie als die Fälschungen und Inszenierungen kenntlich, die sie sind, als Werkzeuge von Propaganda, und ist hierbei in der Lage, Ross und Reiter zu nennen: Vom Glauben an die eingeborene und unüberwindliche Schlechtigkeit des Menschen profitieren die, die auch sonst profitieren, egal wie viel und wer alles dabei zugrunde geht. Dass der Mensch, nicht die Wirtschaftsweise, die Ursache allen Übels sei, dass diese Spezies zu dumm, zu egoistisch, zu unbelehrbar sei, um sich nicht in den eigenen Untergang zu arbeiten und zu verrennen – mit Bregmans Buch sind solche Aussagen (mal wieder) (aber auch: endlich mal wieder!) als Gehirnwäsche zu durchschauen, der sich vorbeugend alle unterziehen, die Gründe hätten, sich gegen die schlechte Eingerichtetheit der Verhältnisse aufzulehnen, aber denen der Mumm dazu fehlt. Dass der Mensch des Menschen Wolf und dem Untergang geweiht sei, ist die Nulltarifkritik am Bestehenden, radikal in der Pose, kontraproduktiv im Effekt. Bregman hält dagegen und es ist ein Verdienst.

Aber ich muss noch ein bisschen nörgeln. So oberflächlich Bregman sein kann, wenn er historische Themen aufgreift, so arglos kann er sein, wenn er psychologische aufgreift und überoptimistisch den Rückgriff auf die Freundlichkeit – als solche lässt er sogar die Kameradschaftlichkeit der Wehrmachtsoldaten durchgehen – als Ausweg der Menschheit anpreist. Doch Freundlichkeit allein, ich deutete es oben an, führt höchstwahrscheinlich keine kooperativ-demokratisch geplante, ökologische Gemeinwirtschaft herbei, sie würde höchstens erleichtern, innerhalb einer solchen Wirtschaft miteinander klarzukommen. Aber selbst, wenn eine solche Gemeinwirtschaft morgen käme, es würde noch Generationen dauern, bis die Menschen genannten Großaffen so lieb miteinander sind, wie Bregman annimmt, dass sie es als Jäger und Sammler waren. Sie hätten es schon allein deshalb sehr schwer, weil sie es zuvor immer so verdammt schwer gehabt hatten. Noch viel länger, als die Trümmer und den Dreck des Kapitalismus in der Landschaft wegzuräumen, dürfte es dauern, die von ihm verursachten, weitergegebenen Traumata und anderen seelischen Verheerungen zu bearbeiten und abzulegen. Ein positiveres Menschenbild, die alte Philosophenweisheit, dass niemand freiwillig Unrecht tue und getan habe, wären hierbei zwar hilfreich, doch den seelischen Schaden, der von den Eltern auf die Kinder übergeht, beheben sie nicht. Denn Bomben aufs Haus, Mord- und Totschlag, Existenzängste und Konkurrenz stören jede frühkindliche Entwicklung und zwar in Milliarden von Einzelfällen und regelmäßig noch bis in dritte und vierte Glied. Die Betroffenen gehören allesamt, niemanden, auch mich nicht ausgenommen, in Therapie. Mein Vorschlag zur Güte wäre mithin, die Erde nicht bloß darum schleunigst vor Wachstumswahn und Turboverbrennung zu retten, weil sie schön ist oder weil es keine zweite gibt, sondern weil ein nicht auf Wachstum und Gewinn beruhendes kooperatives Wirtschaftssystem den jahrhundertelang durch Krieg, Unterdrückung und Daseinswettkampf geknickten Menschen vielleicht endlich Zeit ließe, sich ohne Angst um das Abräumen überkommener Seelenlasten zu kümmern.

P.S: Die Schlagwörter unter dem Beitrag habe ich diesmal um das Schlagwort “Folge 17” ergänzt, das direkt in die genannte Folge meines hier abgelegten Krimis Keine Kunst führt. In Keine Kunst nennen sich die Bekennerbriefe einer militanten Gruppe Vorschläge zur Güte. In Folge 17 ist zu lesen, worin die Vorschläge bestehen.

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