vonlukasmeisner 09.11.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Die einzige Art, nicht in Schwarz und Weiß zu denken, ist die Maxime: „es war nicht alles schlecht in der DDR“. Denn jede eindimensionale Verteufelung der DDR, des ‚Ostblocks‘, des sogenannten ‚Realsozialismus‘ steht heute im Dienst des Siegers der (Vor-)Geschichte: im Dienst der BRD, im Dienst des Westens, im Dienst des Kapitals. Dem ist so, weil die Selbstüberhebung der Alternativlosigkeit auf den Ruinen der einstigen Systemalternative aufbaut. Jede Erzählung, die sich ins Bild des bloß Totalitären, Autoritären, Diktatorischen ‚hinter der Mauer‘ fügt, ist Baustein für die große Erzählung der ‚offenen Gesellschaft‘ nach dem ‚Fall‘ der ‚geschlossenen‘.

Dergleichen muss verstanden werden, um nicht die Lager zu wechseln in der narzisstischen Illusion der eigenen Unabhängigkeit. Das Individuum kann sich, wenigstens im öffentlichen Diskurs, nicht jenseits der Dispositive stellen. Je mehr es von seiner negativen Freiheit überzeugt ist, desto leichter verkommt es zum heteronomen Werkzeug. Im Besonderen, wenn es sich als neutrale oder gänzlich eigenständige Position dünkt, fällt es herein auf seine eigene Allmachtsphantasie – während genau diese niemandem so nutzt wie der Realität installierter Machtverhältnisse. Jeder Angriff aufs ehemalige, ‚antiquierte‘, ‚überholte‘ System der DDR, wie berechtigt er auch an sich sei, ist darum nie bloß für sich, sondern stets schon eingesprungen für jenen Block der Herrschaft, der blieb: BRD, Westen, Kapital. Kritik am Einstmaligen verkommt so zur Ideologie des weiter Ablaufenden; Häme gegen die Gestrigen zur Apologie des Heutigen.

Das sollten sich gerade die Prediger des ganz Anderen notieren. Ohne Systemalternative – also innerhalb des Tauschwerts, des Verwertungszwangs, des Profitgesetzes – wird alle Rede von Differenz, Pluralität und Heterogenität zur leeren Rhetorik, wenn nicht zur Propaganda der ‚bunten‘ Warenwelt. Folglich geht es nicht um Ostalgie, wenn man bestrebt ist, ‚den Ostblock‘ ambivalenter einzuschätzen – oder ihn überhaupt aus seiner Versenkung in ‚Irrelevanz‘ zu heben. Dahinein nämlich schiebt ihn das systemische Verdrängen seit Dekaden ab. Es geht vielmehr um Sensibilisierung gegenüber den Funktionsweisen des Hegemonialen. Es geht darum, nicht restlos mit einzustimmen ins grelle Geheul der eigenen Stunde, die taub und blind macht allen besseren Möglichkeiten gegenüber. Das ist die Lehre, die nicht nur an vielen einstigen ostdeutschen ‚Dissident*innen‘ vorbeigegangen ist, sondern am Großteil der westlichen Linken, ob alt oder neu.

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https://blogs.taz.de/kriterium/eine-dekonstruktion-des-ostalgie-vorwurfs/

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