vonlukasmeisner 01.11.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Während Die Linke ein verheerendes Ergebnis bei der Bundestagswahl hat verkraften müssen, ist die Angst vorm linken Gespenst so präsent wie nie. Dafür ist nicht zuletzt die bürgerliche Soziologie mitverantwortlich, die sich am Konstruieren der Phantasmagorie eines Linksrucks beteiligt hat, der durch alle Parteien und Medien gehe. Dieser ‘Linksruck’ wird zudem verschiedentlich assoziiert mit dem generalisierten Zweifel gegen Wissenschaft und Politik. Hier spätestens ist ein grundsätzliches Missverständnis auszuräumen (das z.B. qua Bruno Latour die Gemüter verwirrt): Es ist der Niedergang der emphatischen und damit linken Kritik statt ihr Siegeszug, der uns panische Verschwörungstheorien, anomisches Misstrauen und soziale Paranoia beschert hat. Und der Hintergrund dieses Verfalls politischer Urteilskraft, deren wichtigste Kraft die Kritik war, ist ein historischer. Vehement dazu beigetragen hat die Ausbreitung einer Propaganda des Marktes – im Euphemismus ‚Werbung‘ genannt –, die allen staatlichen Kultus übertrumpft. Denn durch sie wurde nichts so selbstverständlich und akzeptiert wie die normalisierte Lüge als größte Feindin demokratischer Diskussionskultur. Sieht man von dieser Waren-Propaganda einmal ab, setzt sich das Bild des Verfalls politischer Urteilskraft aus mindestens vier Punkten zusammen:

  • Erstens aus dem neoliberalen Angriff auf die Institutionen der Öffentlichkeit, des Gemeinwohls und der Allmende – aus der Privatisierung des Wissens, des Interesses und des Kampfes.
  • Zweitens aus der liberal-bürgerlichen Selbstreduktion der Presse. In deren Ergebnis können statt analytisch-strukturaler Entzifferung der Funktionsweisen der gesellschaftlichen Systeme fundamentale soziologische Probleme nur mehr moralisierend-individualistisch-psychologisierend – und damit rein symptomatisch, geheuchelt bzw. scheinbar – zur Sprache gebracht werden.
  • Drittens aus der postmodernen Anti-Theorie, hegemonial in allen Kunst- und Kulturfeldern und damit innerhalb der Selbstverständigung der Zeit über sich, die gesellschaftliche Totalität leugnet und somit das Verständnis von Totalität und ihre Überwindung verunmöglicht.
  • Und viertens aus der (Selbst-)Dekonstruktion der Linken. Diese besteht parteienpolitisch aus der neoliberalen Selbstabschaffung der Politik durch Mitte-Links-Regierungen, d.h. aus dem neo-thatcheristischen TINA-‚Realismus‘ von Schröder, Clinton, Blair und co.; bewegungspolitisch aus dem Verdrängen eines solidarischen durch einen agonalen Ethos; und linksakademisch aus der Ersetzung des universalistisch-rational-ökonomiekritischen Paradigmas durch ein partikularistisch-identitätspolitisch-kulturalistisches.

Wenn die Linke nicht weiter systematisch verlieren will gegen die systemische Fehlinformation der Rechten, muss sie sich an jene radikale politische Urteilskraft erinnern, die nur ihr zusteht. Dafür wiederum muss sie die soeben skizzierten vier Punkte angehen. Das heißt: wir als die neueste Linke müssen die Öffentlichkeit resozialisieren; objektive Stukturanalyse statt gefälligen Moralismus betreiben; Kunst und Kultur der Postmoderne entreißen; parteienpolitisch ein Bündnis aus linken und linksradikalen Kräften – mit einem Fokus auf der sozialen Frage – anstreben; bewegungspolitisch die Identität durch die Solidarität ersetzen; und linksakademisch den Wert der Universalität, die Methode der Ökonomiekritik und die Praxis der Rationalität zurück auf die Tagesordnung setzen.

Der Grund für diese Notwendigkeiten des linken Projekts ist einfach zu benennen: wenn die Linke nicht ihrerseits Analysen ausgestaltet zur Erklärung der Welt, bleiben den Menschen zum Begreifen ihrer Lage nur rechte Fantasien übrig. Die genannten Notwendigkeiten wiederum fassen sich in einer Forderung zusammen: an der Zeit ist eine umfassende Renaissance der Marxismen. Was wir brauchen ist nichts Geringeres als eine Renaissance der Marxismen, die nicht zynisch oder deterministisch argumentieren, nicht westlich oder östlich, sondern endlich wirklich dialektisch, um ihren Kälte- und Wärmestrom, ihren Strukturalismus und Humanismus in gemeinsamer, emanzipatorischer Theorie-Praxis aufzuheben – Marxismen des 21. Jahrhunderts.

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