vonlukasmeisner 23.09.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Neoliberale Ideologie hat die letzten zwei Jahrzehnte vor allem das sozialdemokratische und grünbürgerliche Spektrum besetzt. Da sind seit den Tagen der rot-grünen Misere 1. die Ideologie der „Globalisierung“ mit der fatalistischen „Standortdebatte“ um „Arbeitsplätze“; 2. die Ideologie der „Demographie“, d.h. der vermeintlichen „Nichtleistbarkeit“ der Sozialsysteme begründet durch das Älterwerden der Gesellschaft; sowie 3. die Ideologie der schwarzen Null bzw. des Austeritätsdiktats, die spätestens seit den Bankenrettungen 2008 und den Coronamaßnahmen Lügen gestraft worden ist von ihren eigenen Verkündern.

Obgleich vielfach widerlegt und als Depolitisierung der Politik dekonstruiert, werden alle drei Legenden zur diskursiven Ausschmückung der Alternativlosigkeit bis heute als Wahrheiten verkündet – nicht nur von FDP und CDU/CSU, sondern auch von SPD und Bündnis 90. Was die letzten Jahrzehnte mittels dieser Taktik geschlossen verhindert wurde, war eine Koalition mit der Linken und somit eine ernsthaft linke Regierung. Daraus allerdings folgte nicht nur die Rationalisierung der Politikverdrossenheit, sondern auch die hiermit fast synonymen 16 Jahre Merkel inklusive Folgeerscheinungen – allem voran die AfD als „Protestpartei“, welche zunehmend den national-libertären Rechtsruck normalisiert. Wenn sich Bündnis 90 oder SPD heute als „grün“ oder „sozial“ (oder auch nur als anti-AfD) wirklich ernst nehmen würden, müssten sie entsprechend jede Zusammenarbeit mit FDP oder CDU/CSU zugunsten eines Bündnisses mit der Linken ablehnen. Alles, was andernfalls als „Realo“ daherkommt, hat mit Realismus nichts zu tun, sondern leistet die strukturelle Zerstörung der Realität, in der wir uns bewegen: der Natur, der Sozialität, der Demokratie. Mit Sicherheit jedenfalls könnten die Grünen in puncto Klimagerechtigkeit noch einiges lernen vom linken Projekt, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr kostenlos anzubieten; oder die Sozialdemokrat*innen von den 13 € Mindestlohn der Linkspartei, die – im Gegensatz zu den 12 € von SPD/ Bündnis 90 – immerhin nicht direkt in die Altersarmut führen.

Doch alle vier Jahre grüßt verlässlich das Murmeltier. Dass die Position der Linken gegenüber der „Wertegemeinschaft“ des Nordatlantikpakts und dem sogenannten transatlantischen Bündnispartner erneut im Weg stehen soll zu einer öko-sozialen Koalition betonen SPD und Grüne auch in diesem Wahlkampf tagtäglich von Neuem. Es werden nicht einmal mehr – wie in der Vergangenheit – ‚humanitäre Interventionen‘ oder ‚Demokratisierung‘ oder ‚Frauenrechte‘ im Nahen Osten vorgeschoben, sondern es sind die NATO selbst und ihre (ökonomischen) Interessen, die SPD und Grünen inzwischen ganz offen als unverhandelbar gelten. Dabei ist die NATO eine aggressiv imperialistische Institution, die spätestens mit dem Verschwinden des Warschauer Pakts ihre internationale Legitimation verloren hat, wovon auch die mediale Konstruktion des Terrorismus nicht ablenken konnte. Für ihre Abschaffung zu sein ist darum nicht „regierungsunfähig“, sondern die einzige nicht-bellizistische Option seit 1991 (seit nunmehr drei Dekaden!) – vor allem die einzige Option, die nicht den Kalten Krieg fortführt. Auch dieses Mal aber dient das letztlich rechte Argument pro Militarisierung als außenpolitischer Strohmann, um sich offen zu halten, noch linke Innenpolitik langfristig verhindern zu können.

Eine Regierungsbeteiligung der Linken ist dennoch unausweichlich für jegliche Sozial- und Wirtschaftspolitik, die den Namen verdient. Darum wäre auf Linke-Seite zu überlegen, bei kommenden Verhandlungen trotz vollends berechtigten Skrupeln außenpolitisch nachzugeben, um wenigstens Deutschland aus der neoliberalen Übernahme zu befreien – die sowohl mit der Jamaika- wie mit der Ampelkoalition fortgesetzt, wenn nicht verschärft würde.

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