In diesem Jahr zum 9. November, nach über 60 Jahren Mauerbau und nach 32 Jahren Mauerfall, würde ich Joachim Gauck gern fragen, was er – als guter alter Transatlantiker – eigentlich von der zeitgenössischen Mauer zwischen den USA und Mexiko hält? Schließlich sterben dort pro Jahr geschätzt mehr Menschen als in der gesamten Periode der deutsch-deutschen Mauer. Auch würde ich gern in Erfahrung bringen, was Gauck, der Prediger der ‚offenen Gesellschaft‘ – als standfester Europäer – über den Todesstreifen im Mittelmeer denkt?
Sind diese Fragen – diese Hinterfragungen – schon deutlich genug? Vielleicht nicht. Also fragen wir weiter, wie Kinder fragen, ohne sich an Tabus zu halten: Wie kann man die DDR dämonisieren, sich unterm ‚surveillance capitalism‘ (Zuboff) aber pudelwohl fühlen? Wie kann man die Stasi schrecklich finden, aber nicht paranoid werden unter der marktwirtschaftlich geregelten Totalüberwachung unserer Zeit? Überhaupt, wie kann man den Markt im 21. Jahrhundert noch für eine freiheitliche Institution halten? Und wie kann, wer heute gegen Überwachung sei, nicht die ‚SED-Nachfolgepartei‘ Die Linke wählen, die als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien die überwachungskapitalistische ‚Digitalisierung‘ noch etwas kritisch sieht? Letztlich: wie schätzt man als Pfarrer Googles Motto ‚don’t be evil‘ ein?
Ich fange gar nicht erst an mit der Frage, wie ein Theologe den Götzendienst am Kapital, den ‚Kapitalismus als Religion‘ (Benjamin) absegnen kann – bis ihm Antikapitalismus als „unsäglich albern“ erscheint. Oder wie einer, der sich in der Nachfolge Christi sieht, „Fürsorge“ abzuschaffen für das Gebot der Stunde hält. Solche Fragen beantworten sich schließlich selbst.