vonlukasmeisner 04.07.2022

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Die Retorte erwacht. Bulldozer heizen sandbeladen vorm Meer. Die Pools werden gereinigt, die Ständer gespießt, der Strand sequenziert in Hoteleigentum. Jede Liege hat ihre Nummer: Zahlgewitter. Touristen kommen in Heeren, Stellungskrieg der Handtücher, industrialisiertes Erholen des ideellen Gesamturlaubers. Betonblöcke am Band über Kilometer, künstlicher Wald aus Sonnenschirmen, jeder Platz mit Schließfach.

Es ist nach der Finanzkrise, kurz nach Covids Klimax, der Ukrainekrieg hat begonnen, doch werden weiter Hotels gebaut. Unklar bleibt, ob es reine Spekulationsobjekte der Finanzmärkte sind oder ob wirkliche Behausungen der Verreisten – also realwirtschaftliches Verspekulieren des Klimas. Der Wahn läuft so oder so wie geschmiert. Er hat viele Gesichter, doch ist er immer Grimasse, Grimasse als Maske über natürlichen Zügen. Mir geht alles Verständnis ab: man kann diese Serien, diese Reihen, diese Exponenten nur als Statistiker verstehen, fern aller substanziellen Vernunft, fern aller politischen Urteilskraft. Der restliche Veneto besteht aus Zäunen, Hunden und Autos: Privateigentum in seinen unterschiedlichen, nicht allzu unterschiedlichen Formationen.

Ich fahre bald zurück durch Süddeutschland. Gibt es etwas Sinnbildlicheres für das Kleinbürgertum als Minigolfanlagen? Die S-Bahn geht durch den Schwarzwald. Hier herrscht der Phänotyp des Pietismus, über Jahrhunderte über die einst gesunden Leiber gestülpt, in sie eingelassen, seine Gesichter haben etwas Verstocktes, Kleinliches, bieder borniert noch die Physiognomien. Was hat der Mensch sich nur angetan, getarnt als sei es seine eigene Geschichte? Was hat der Mensch je selbst getan? Die protestantische Ethik kennt nur Hungerkünstler, kennt nur Unterernährung, so sehr sie sich auch als Hedonismus tarnt seit konsumeristischen Zeiten.

Auch dieser Monat bewies: Neoliberalismus ist Blitzkrieg gegen die Psychen. Unser Geist wurde zum pulverisierten Vogelschwarm, bestürmend alles, konzertiert nur vom Zwang zur Optimierung: nicht so sehr eingeengt als zerstäubt sind wir. Zu schreiben wäre eine Phänomenologie der Prekarisierung. Diese Gewalt kann die ältere Generation kaum nachempfinden, denn sie wurde anders gefügig gemacht. Nicht Väter disziplinieren uns, wir beuten uns selber aus, wir häuten und meutern gegen uns selbst. Wir haben kein stabilisierendes Moment mehr, nichts rettet uns vor der eigenen Zurichtung, frei collagierbar wie ein Nagelbrett sollen wir sein, ahistorisch, ungeworden, in alles formbar, widerstandslos…

Und doch so serialisiert, so sequenziert, so durchdekliniert wie die Sonnenschirmreihen von Lido die Jesolo, spontane Ordnung von langer Hand geplant, den Saisons des Massentourismus gleich, individuell vom personal computer aus gebucht – Ornament des Marktes.

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