vonlukasmeisner 28.06.2021

Kriterium

Die Rechnung 'Krise vs. System' geht nicht auf. Was wir brauchen, ist eine Kritik am System der Krise.

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Geschenkt: wir sind nie aufgeklärt gewesen. Aber das ist nicht gedacht zum Feiern. Kein Kontinent hat den Mythos so zum Standard gestanzt wie Europa.

Seit einem guten Jahrhundert wird selbiges Europa provinzialisiert vom Kapital. Die Erde schwebt nicht mehr fein säuberlich in klare Blöcke gespalten im kalten Universum, sondern differenziert sich unübersichtlich entlang polit-ökonomischer Mächte und der Entwicklung ihrer Produktivkräfte. Es ist nicht länger zweifelsfrei bestimmbar, ob die Vereinigten Staaten, England und Frankreich oder aber Japan, China und Indien den Titel Kolonialmacht heute eher verdienen; wohl teilen sie diese Rolle, indem sie um sie kämpfen. Die noch so divergenten Kapitalismen der Welt bleiben – als arbeitsteilige Standorte – insofern zusammengehalten von der globalisierten Logik des Kapitals. Diese Logik reicht von Mehrwertextraktion (Ausbeutung) über Akkumulation (Monopolisierung) und schöpferische Zerstörung (Krise) bis zu deren Modi des Konkurrenzzwangs und Leistungsdrucks unter dem Diktat des Wachstums.

Doch gehen wir 150 Jahre zurück. Zu Marxens Lebzeiten war der klassische Kolonialismus auf seinem Höhepunkt und vermochte nur mehr vom Imperialismus übertroffen zu werden. Die rassistischen Ethnologen seiner Zeit (er-)fanden bei ihren konstruierten ‚Wilden‘ den Fetisch, um ihn als Emblem der Barbarei auszugeben; und die eurozentrischen Historiker behaupteten, in der oralen Tradition ‚ihrer‘ Kolonien – im Gegensatz zu Europas Geschichts-Schreibung – grassiere die Vorgeschichte bis in die Gegenwart. Marx, statt diesen Ideologien zu glauben und nun, ganz Ressentiment, den Fetisch oder die Vorgeschichte zu verteidigen, nahm beide beim Wort und wandte ihre exotistischen Konzepte auf ihre eigene Heimat an.

Im Herzen Westeuropas (von Deutschland über Frankreich und Belgien bis England), inmitten des Gehirns der selbstverklärten Zivilisation, zeigte er auf, wie die Warenform die Menschen beherrscht, ihre Köpfe wie ihre Hände, und analysierte dieses Beherrschtsein als Fetischismus. Was also in der Fremde ‚diagnostiziert‘ worden war, entlarvte er zu Hause als durch alle kalten Kalküle hindurchreichenden Götzendienst nicht erst des Geldes, sondern schon der verselbständigten Sphäre des Marktes. Deren Kommodifizierungen entschlüsselte er nicht nur als Unterwerfung unter den Kommerz, sondern auch als Entfremdung von den eigenen Produkten und als deren Verselbständigung zu einer festgefügten Umwelt – in deren Schatten die ‚erste Natur‘ ihr Dasein nur als Ressource fristen kann. Den Fetisch als Anbetung eines Dinges, als sei es von höherer Gewalt animiert, entdeckte Marx wieder in jeder Ware, die den westlichen Wohlstand bis heute nach außen zur Schau trägt. Die Schlussfolgerung dieser Umwendungen ist entwaffnend: die westliche Welt mag sich als aufgeklärt wähnen in Bezug auf Gott, Kirche und Bibel, doch ist ihre Religiosität nur aus dem Geist in die Tat geflüchtet, um sich in ökonomischen Strukturen handgreiflich zu machen, statt sich ins Himmelreich zu verdünnisieren. Jene ökonomischen Strukturen – zusammengefasst in der Logik des Kapitals – verfügen über das menschliche Los so omnipräsent und omnipotent wie ehedem nur die Schicksalsgöttinnen oder der allmächtige Herr höchstselbst. (Walter Benjamin sollte diesen Alptraum aus Wirklichkeit bald mit dem Namen Kapitalismus als Religion belegen, als eine Schuldreligion ohne Sühne, ohne heiligen Sonntag und ohne Hoffnung auf Versöhnung.)

Die gleiche Umwendung vollzog Marx mit den Begriffen der Vorgeschichte und der Geschichte. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des triumphalen Fortschritts westlicher Heils- sah er die Vorgeschichte wiederkehren. Denn die Menschen (auch die europäischen) hatten und haben nichts zu melden in ihrem eigenen System, sondern bleiben dazu verdammt, als Rädchen im Getriebe zu fungieren. Sie sind weiterhin Knechte einer Herrschaft, die anonym zwar und säkular inzwischen, doch umso umgreifender regiert – sodass nicht sie es sind, die ihre Geschichte schreiben, sondern Geschichte, die sich ihre Menschen zurechtstutzt. Aus jenem Zustand der Vorgeschichte ist Europa bis heute nicht erwacht.

Aber das ist noch nicht alles. Etwas Zusätzliches hob Marx hervor mit seinem Gegenbegriff zur Vorgeschichte, den er den Apologeten westlicher Herrschaft über den Globus entwendete. Um die Zukunft zu retten, so erinnert uns Marx, braucht es Geschichte. Denn Geschichte ist nicht nur, was sich konsumieren lässt als Überlieferung, noch bloßes Diktat der Gewinner, sondern vor allem, was Vorgeschichte ununterbrochen konterkariert hat: Renitenz, Resistenz, Rebellion, Revolution – die Forderung nach menschlicher Selbstbestimmung über das eigene Schicksal. Marxsche Geschichte ist folglich, um mit Ernst Bloch zu sprechen, Noch-Nicht – und nur mit dieser Einsicht lässt sich eine Zukunft retten, die immer bereits gelernt haben muss aus der Vergangenheit. Doch neben Noch-Nicht ist Geschichte zudem auch Immer-Schon: wie Marx mit seinen Analysen des Stoffwechselprozesses zwischen Mensch und Natur betont, reichte Geschichte stets vor den Menschen zurück. Was hier Geschichte heißt, ist weniger sukzessive Epiphanie teleologischer Linearität als Zusammenfassung der Emanzipationsbewegungen von ihr. Und noch um die Klimakrise zu verstehen, ist das Denken des Naturgeschichtlichen eine Prämisse.

So nahm Marx die postkoloniale (und ökologische) Kritik an entscheidender Stelle nicht nur vorweg, sondern übte sie an der ‚Selbstkolonisierung des Abendlandes‘ als an einem Modell, das sich realiter zum Modell der Welt aufspreizte. Ganz ohne zu moralisieren entblößte er die Haltlosigkeit der ‚mission civilisatrice‘, wurde Europa selbst – vermeintlich die stolze Stifterin der Vernunft – doch Fetisch und Vorgeschichte nicht nur nicht los, sondern globalisierte sie noch: unter dem Alibi humanistischer Mission. Was Marx damit genau nicht tat, ist, das Licht der Vernunft in die Dunkelkammer von Positivismus, Szientismus und Technokratie einzusperren. Darin nämlich kann Vernunft nur zynisch werden, wie Peter Sloterdijk noch bemerkte, bevor er selbst zum Adepten des Zynismus heranwuchs. Ein emphatisches Verständnis der Vernunft betont dagegen ihre Einsicht in die nicht immer sichtbare, doch stets reale Gewordenheit des Gegebenen. Dieses lässt sich so auch als veränderbar begreifen, indem seine schiere Faktizität von seinen eigenen besseren Möglichkeiten durchbrochen wird.

Am Horizont erscheint in jener Perspektive endlich eine vernünftige Gesellschaft, die nicht ein rationalistisches Über-Ich den ihr untergebenen Abjekten aufstülpt, sondern somatisch-soziale Vernunft der Einzelnen verkörpert, die sich solidarisch organisieren. Solche vernünftige Gesellschaft wäre identisch mit einem demokratischen Sozialismus, der Emanzipation sein könnte sowohl von Vorgeschichte als realisiertem Fatalismus wie vom Fetischismus als Anbetung bestehenden Unheils. Zwar sind wir nie aufgeklärt gewesen, doch ist die Kritik daran eine rettende: alle Versprechen der Aufklärung stehen noch aus. Diese Versprechen der Menschheit zu halten, ist Aufgabe weltweiter politischer Aktion.

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