vonGerhard Dilger 01.04.2020

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Von Marcus Christoph

Leben und arbeiten in Buenos Aires ist ja ohnehin schon etwas Spannendes, bisweilen auch Gewöhnungsbedürftiges. Ich für meinen Teil bin seit elf Jahren hier und arbeite seitdem beim deutschsprachigen Argentinischen Tageblatt als Redakteur. Da bekommt man einiges mit und erlebt so manches. Doch die aktuelle, durch das Coronavirus bedingte Ausnahmesituation ist für uns alle Neuland.

Die allgemeine Ausgangssperre war für uns als Zeitung schon eine Herausforderung, bevor sie überhaupt in Kraft getreten war. Über den neuen Präsidenten Alberto Fernández lässt sich derzeit viel Positives sagen: sein beherztes Handeln zur Eindämmung der Pandemie oder das Einbeziehen der Opposition beim Bekämpfen der Krise in einem Land, das letztes Jahrzehnt von einer tiefen gesellschaftlich-politischen Spaltung geprägt war.

Doch auf die Redaktionsschlusszeiten der einzigen verbliebenen deutschsprachigen Zeitung in Argentinien, die jeden Freitag erscheint, nimmt er offenbar keine Rücksicht. Schon die wichtige Ankündigung, dass alle Flüge nach Europa ausgesetzt werden und Reisende aus Risikogebieten in 14-tägige Quarantäne müssen, erklärte er an einem Donnerstagabend (12. März). Ganz knapp schafften wir es in diesem Fall noch, die wichtige Info ins Blatt zu bringen.

Doch die historische Bekanntmachung der allgemeinen Ausgangssperre am folgenden Donnerstag zog sich quälend lange hin. Dabei hatten es die Spatzen den ganzen Tag über schon von den Dächern gepfiffen, dass eine solche radikale Maßnahme, die sich auf das Leben aller Bürger und unserer Leser größte Auswirkungen hat, noch am selben Tag verkündet werden würde.

Journalistisch ein echtes Dilemma. Als um 20 Uhr die Druckerei auf unsere letzte Seite wartete, hieß es auf den hiesigen Nachrichtensendern, dass Fernández nach seinem Krisengespräch mit den Provinzgouverneuren eine ab Mitternacht geltende Ausgangssperre bekannt machen würde. Aber tatsächlich verkündet hatte er sie zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Was tun? Als redlicher Journalist kann man nicht etwas vorweg behaupten, was zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht geschehen ist. Anderseits will man sich auch nicht lächerlich machen und ein Thema, das schon am nächsten Morgen das Leben der Menschen komplett verändern wird, im Blatt ignorieren. Zum Verzweifeln!

Es blieb als Ausweg nur die Bezugnahme auf die hiesigen TV-Sender. Die berichteten bereits, die Ausgangssperre sei beschlossene Sache und beriefen sich dabei auf Insiderinformationen aus der Sitzung des Präsidenten mit den Gouverneuren. Unseren Lesern gaben wir dazu noch die Information, dass Fernández die Details erst in einer Pressekonferenz nach Redaktionsschluss bekannt geben wollte.

Sicher keine schöne Sache, einen Aufmacher auf der Titelseite auf eine so indirekte Quellenlage zu stützen. Aber eine so wichtige Entscheidung, die es in der argentinischen Geschichte so noch nicht gegeben hat und an die man noch in vielen Jahren denken wird, nicht im Blatt zu erwähnen, wäre sicher ganz und gar unverzeihlich.

Als Fernández um 21.30 Uhr und damit anderthalb Stunden nach der äußersten Deadline unserer Druckerei die Ausgangssperre tatsächlich verhängte, konnte ich zumindest dahingehend beruhigt sein, dass wir erstens das Thema aktuell und auf der Titelseite hatten, und zweitens, dass die Ankündigungen des Präsidenten mit den durchgesickerten Vorab-Informationen übereinstimmten. Für unsere Online-Ausgabe konnte ich die Berichterstattung dann noch einmal aktualisieren und aus dem Konjunktiv einen Indikativ machen.

Die Erfahrung verdeutlichte mir auf eindringliche Weise, wie viel schwerer es in dieser Hinsicht der Print-Journalist gegenüber seinem Online-Kollegen hat. Online kann man jederzeit die Berichterstattung aktualisieren und ist nicht durch einen Redaktionsschluss begrenzt. Andererseits steht man Online natürlich unter einem dauernden Aktualitätsdruck, den man im Print eben immer nur zum Redaktionsschluss hin hat.

Bei einer nur einmal pro Woche erscheinenden Publikation wie dem Argentinischen Tageblatt, die schon Anfang der 1980er Jahre ihren Rhythmus von täglich auf wöchentlich umgestellt hatte, ist es meist sogar recht gemütlich – wenn nicht gerade der Präsident seine historischen Ankündigungen am Donnerstagabend macht.

Immerhin geschah die Bekanntmachung, die Quarantäne um zwölf weitere Tage bis einschließlich Ostersonntag zu verlängern, nun an einem Sonntag.

Foto: Presidencia de la Nación

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