“Wir wußten, was in der Welt geschieht. Aber lange bestand noch die Hoffung, dass der Corona-Virus nicht bis nach Bolivien kommen würde. Bis dann am 10. März die ersten beiden Fälle bekannt wurden”, schreibt die Cochabambiner Psychologin Fanny Guzmán. “Es war ein Alarmzeichen für ein Land, das die Gräben des politischen Konfliktes vom Oktober 2019 und seine wirtschaftlichen und sozialen Folgen noch nicht überwunden hatte. Für ein Land mit einem prekären Gesundheitswesen, das nicht einmal imstande war, mit der zu diesem Zeitpunkt im Tiefland grassierenden Dengue-Epidemie fertig zu werden, die bereits zahlreiche Tote gefordert hatte.”
In einem früheren Beitrag hat Latinorama über den Alltag in der Quarantäne im Kami-Viertel von Quillacollo berichtet. Der Psychologe Harold Albornoz analysiert auf der Homepage der Schweizer Organisation Comundo die Beeinträchtigung aber auch das häufig übersehende Problemlösungspotential von Kindern und Jugendlichen. Wie sich die Situation von Kindern und Jugendlichen in abgelegenen Dorfgemeinden im Norden von Potosí von denen in der Stadt unterscheidet, legt Fernando Antezana in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift ila dar (ila435 S46-47 Pusisuyu – Corona). Trotz strikter Maßnahmen sind die Zahlen der COVID-Erkrankungen rapide gestiegen und liegen derzeit bei über 2400 Personen. So werden nach einer Risikoeinschätzung die Restriktionen in den meisten Munizipien des Landes beibehalten. Im folgenden Text wirft Fanny Guzmán, die sich als Comundo-Fachperson um familiäre Gewalt kümmert, einen Blick aus dem Fenster darauf, und zitiert Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, wie sie die Quarantäne erleben. Denn wie Guzmán sagt, jeder und jede sieht die Welt von seinem oder ihrem Balkon aus.
von Fanny Luz Guzmán Saavedra
Nach einer Periode von Einschränkungen der Arbeitszeiten, Schließung der Schulen und Universitäten und Verbot größerer Menschenansammlungen und Veranstaltungen wurde am 21. März eine strenge Quarantäne für das ganze Land angeordnet. Abhängig von der Endziffer durfte ein Mitglied des Haushalts einen halben Tag pro Woche die Wohnung zum Einkaufen im eigenen Viertel verlassen. Kinder und Alte sollten ganz zu Hause bleiben. Die Grenzen wurden geschlossen. Der öffentliche Personennah- und Fernverkehr stillgelegt. Nur Warentransport, insbesondere Lebensmittel war erlaubt. Polizei und Militär wurden eingesetzt, um die Maßnahmen durchzusetzen und die Bevölkerung vor dem unsichtbaren Feind zu schützen (zu ihrer Belastung siehe Bitia Vargas). Und die Frauen?
“Ich bin sehr allein”
“Soweit bin ich gesund, um nichts in der Welt gehe ich aus dem Haus. Mein Mann macht die Einkäufe. Er sagt das sei besser so. Das sei sicherer für mich. Ich solle mich um meine Kinder kümmern. Den Gang zum Markt vermisse ich trotzdem, ein paar Worte mit meinen Caseritas zu wechseln, bei denen ich Stammkundin bin. Ich bin sehr allein.”
Die strenge Quarantäne hat die Familien gezwungen, die meiste Zeit gemeinsam zu Hause zu verbringen, um Prinzip dort aufeinander aufzupassen. Aber in einer machistischen, patriarchalen Gesellschaft führt das dazu, dass wir Frauen am Ende doch die Hauptverantwortung und keine Möglichkeit haben, eine gleichberechtigte Beteiligung an den Aufgaben auszuhandeln.
“Seit der Quarantäne kann ich kein Geld mehr verdienen. Wir leben nur noch von seinem Gehalt. Deshalb muss ich mir alles gefallen lassen.”
75% des Handels in Bolivien liegt in den Händen von Frauen, ein Gutteil im informellen Sektor. Andere arbeiten als Hausangestellte ohne Sozialversicherung. Viele haben eine geringe oder fehlende Schul- und Berufsausbildung.
Niedrige Einkommen zwingen auch die Kinder häufig dazu, ebenfalls unter prekären Bedingungen Geld zu verdienen. Ein Beispiel ist Claudia, Mitglied der Organisation arbeitender Kinder von Cochabamba, die während der Quarantäne kein Einkommen mehr hat (siehe ihr Videostatement). Vieles ist während der Quarantäne auch für die Eltern nicht mehr möglich.
“Verkaufen kann ich nicht mehr. Ich versuche jetzt, Wäsche zu waschen. Aber die Leute wollen nicht mehr. Sie sagen, dass ich sie mit dieser Krankheit anstecken könnte. Früher hatte ich nicht viel. Aber es reichte zum Essen und für die Miete. Jetzt habe ich nichts. Und wer weiß wie es künftig sein wird?”
Sieben Tage lang 24 Stunden bereit sein
Im informellen Sektor erfinden die Menschen zig Möglichkeiten, sich das Essen für den Tag zu verdienen, eine bescheidene Wohnung und die Kosten für die schlechte Schulausbildung der Kinder zu bezahlen. Auch wenn es Ausbeutung ist, sich der Staat nicht um die Bedingungen schert und sie sich dabei erschöpfen: Die Frauen nutzen die ökonomischen Nischen, um voran zu kommen.
“Jetzt bekomme ich zu spüren, dass ich nicht die Sekundarschule besucht habe. Die Schule schickt Hausaufgaben für meine Töchter. Ich kann ihnen aber nicht helfen. Ich weiß nicht, wie die Aufgaben gelöst werden können. Sie sagen, dass sie wegen mir dieses Schuljahr verlieren, weil ich ihnen nichts beibringe. Die Schule fordert auch einen Internet-Anschluss. Dafür habe ich auch kein Geld.”
Bekanntlich trägt auch die Arbeit im informellen Sektor und die unbezahlte Pflege- und Hausarbeit zum Wohlstand eines Landes bei. Und sie spart dem Staatshaushalt Kosten. Einer meiner Träume ist es, dass die Pflege- und Hausarbeit eines Tages von den anderen und den Frauen selbst anerkannt wird, statt zu sagen: “Ich bin nur Hausfrau.”
Frauen werden derzeit wegen allem kritisiert, wegen der Arbeit zu Hause, weil sie nicht genug Zeit für die Familie hätten, oder weil sie draußen kein Geld mehr verdienen. Sprach man vor der Epidemie von Doppel- oder Dreifachbelastung, müssen sie jetzt sieben Tage 24 Stunden bereit sein, den Anforderungen gerecht zu werden.
“Ich dachte als ausgebildete Fachkraft wäre alles einfacher. Aber jetzt muss ich auch noch den ganzen Haushalt machen. Denn unsere Hausangestellte kann in der Quarantäne nicht mehr kommen. Ich teile meine Zeit jetzt zwischen Küche, den Hausaufgaben der Kinder und den anderen Hausarbeiten auf. Das ist heftig, ganz zu schweigen von den Anfragen von meinem Arbeitgeber. Zu jedweder Zeit rufen sie an und fordern irgendetwas an. Wir müssten verfügbar sein, sonst könnten wir die Arbeit verlieren.”
Von Frauen mit Universitätsabschluss wird nicht nur erwartet, dass sie sich beruflich ständig weiter entwickeln und fortbilden, sie sollen gleichzeitig gute Ehefrauen und Mütter sein. Zu den Erwartungen der anderen kommt der eigene Anspruch, die Aufgaben perfekt zu erledigen: Trotz Müdigkeit und Grenzen der Belastbarkeit. Schließlich scheinen Frauen vor allem dafür da zu sein, sich um andere zu kümmern.
“Ich hielt mich immer für fortschrittlich. Aber seit der Quarantäne bin ich nicht mehr ich selbst. Ich schaffe das alles nicht mehr: den Haushalt, meine Kinder, mein Ehemann. Ich merke, dass ich technologisch nicht mehr auf dem neuesten Stand bin. Es fällt mir schwer, diesen ganzen Anforderungen zu entsprechen. Am schlimmsten ist, dass meine jüngste Tochter glaubt, dass ich jetzt, wo ich ganz zu Hause bin, nur noch für sie dasein und ihr jeden Tag etwas Leckeres zu Essen machen soll.”
Häusliche Gewalt
Ein kritischer Punkt ist auch die familiäre Gewalt. Zuhause eingeschlossen können die Frauen jetzt noch weniger Gehör finden und Hilfe einfordern. Es gibt kein Argument mehr, auf die Straße zu gehen. Selbst Besuche unter Familienangehörigen sind ja nicht erlaubt. Der Gesundheitsnotstand ist derzeit Bündnisparter der Gewalt.
Die Täter wissen, dass niemand in der Nähe ist, um zuzuhören. Die Frauenberatungsstellen und die Polizei haben derzeit andere Prioritäten, bzw. Ihnen fehlen die Mittel, um zur Hilfe zu kommen. Und was wäre mit den Kindern? Da scheint es besser zu schweigen.
Mit oder ohne Quarantäne, mit fester Stelle oder im informellen Sektor, mit oder ohne Schul- und Berufsausbildung haben es Frauen nicht leicht, sind besonderen Gefahren ausgesetzt und häufig zum Schweigen verurteilt. Trotz allem gibt es immer die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, zumindest für die Töchter, für die sie sich heute aufopfern.