Über 10 Millionen Hektar Wald und Grasflächen in Bolivien seien bis Ende September bereits vom Feuer beeinträchtigt worden, meldete die Stiftung Tierra am 6. Oktober. Eine immense Zahl. Es entspricht weit mehr als einem Drittel der Fläche von Deutschland. Umweltminister Alan Lisperguer kritisierte die Meldung auch umgehend. Die Daten seien übertrieben. Ähnlich wie 2019, wo die Waldbrände zu massiven Protesten gegen die Regierung der MAS missbraucht worden seien. Tatsächlich seien dieses Jahr 4,6 Millionen Hektar Wald und 2,3 Millionen Hektar Grasland abgebrannt. Auch diese Fläche wäre bereits deutlich größer als in jenem letzten Regierungsjahr von Evo Morales. Die Einordnung als „größte Naturkatastrophe in der Geschichte Boliviens“ durch die Stiftung Tierra scheint begründet.
Trotzdem kamen in den letzten Monaten die Bemühungen im Parlament kaum voran, die noch von Evo Morales erlassenen Dekrete zu annullieren, mit denen die Flächenmaße für eine mögliche legale Brandrodung erweitert worden waren. Selbst in den vier Monaten, als die Brände bereits wütenden, gab es Streit zwischen den Parteien. Auch die Lobbyarbeit der Landmafia und verfahrenstechnische Tricks trugen dazu bei, dass der Gesetzgebungsprozess sich immer wieder verzögert hat. So erst konnte die Katastrophe solche in Bolivien nie dagewesenen Dimensionen erreichen.
Warten auf die Umsetzung der EU-Waldverordnung
Die erneute Verschiebung des Anwendungsstarts der 2023 in Kraft getretenen Waldschutzverordnung der Europäischen Union um ein weiteres Jahr dürfte den Brandstiftern jenseits aller Fragen der Praktikabilität erst einmal weiter in die Hände spielen. Ziel der EU-Verordnung war, dass keine Produkte die Union erreichen sollen, für die Wälder gerodet oder geschädigt worden sind.
In Bolivien mobilisierte der Verband der Siedlerinnen und Siedler mit Straßenblockaden auch gegen den Gesetzesvorschlag einer ökologischen Pause. Mit der wollten ökologisch engagierte Abgeordnete die landwirtschaftliche Nutzung illegal abgebrannter Flächen für zehn Jahre untersagen. In diesem Zeitraum solle sich die Natur vielmehr erholen können. Die sich „Interkulturelle“ nennenden Siedler*innen gehören zur Basis der MAS. Deshalb nahm Evo Morales ihr Votum gegen eine solche ökologische Pause in seinen Forderungskatalog bei den jüngsten Straßenblockaden auf. Dabei sollte es eigentlich um seine mögliche Kandidatur bei den für das nächste Jahr geplanten Präsidentschaftswahlen gehen, sowie um Straflosigkeit, nachdem alte Verfahren gegen den Ex-Präsidenten wegen Missbrauchs Minderjähriger wieder neu aufgerollt worden waren.
Spätes Handeln vergrößert die Katastrophe und verteuert die Löscharbeiten
Zudem hatte die aktuelle Regierung lange gezögert, den nationalen Notstand auszurufen und um internationale Hilfe bei den Löscharbeiten zu bitten. Dabei hatte das für Katastrophenschutz zuständige Vizeministerium Hilfsanfragen mit der lapidaren Antwort abgewimmelt, es sei kein Geld dafür da. So weiteten sich die Feuer immer weiter aus. Am 8. Oktober gab Präsident Luis Arce Catacora dann aber endlich auch grünes Licht für kostspielige massive Löscheinsätze mit Flugzeugen aus der Luft. Da waren die Kleinbauerngemeinden, die freiwilligen Löschteams, die Feuerwehr und die später eingesetzten Soldaten schon lange nicht mehr Herr der Lage.
Mancherorts hatten bewaffnete Landspekulanten gar die Freiwilligen daran gehindert, von ihnen gelegte Feuer zu löschen. Die Rauchchwaden hatten die Stadt Santa Cruz, aber auch große Städte im Bergland längst erreicht.
Nur eine Woche später, am 15. Oktober, räumte Eulogio Nuñez, Chef des Agrarreforminstituts INRA, schließlich „nach der Prüfung und Abgleich aller Daten“ gegenüber der Tageszeitung El Deber ein, dass bis eine Woche zuvor bereits 9,8 Millionen Hektar von den Bränden erfasst worden waren, kaum weniger als von der Stiftung Tierra beklagt. 61 Prozent davon seien Wälder, und die restlichen 39 Prozent Weiden und Savannen. Zwei Drittel der Schäden wurden allein im Tiefland-Departament Santa Cruz festgestellt.
Suche nach Schuldigen: Großgrundbesitzer, Landmafia…
Als Ursache nannte Nuñez den Klimawandel und die globale Umweltkrise. Sie hätten zu vermehrter Dürre in Bolivien und dem Austrocknen von Wasserquellen geführt. Eine der Ursachen, müsste es exakter heißen. Denn der Direktor der Agrarreformbehrde weiß nicht nur, dass die Abholzung der Wälder ein wichtiger Faktor für die Dürre und mangelnde Resilienz gegen den Klimawandel ist, sondern auch, dass viele der Brände absichtlich gelegt werden. 46% auf mittleren oder Großagrarbetrieben, 25% auf geschütztem, 9 Prozent auf sonstigem Staatsland. Die indigenen Territorien und die kleinbäuerlichen Betriebe, machten nur einen geringeren Anteil aus, so Nuñez.
Dass auch hier die Zahlen der Stiftung Tierra abweichen, hat vermutlich ebenfalls politische Gründe: 28 Prozent der zerstörten Flächen lägen in den indigenen Territorien, 22% in Naturschutzgebieten, 14% auf Ländereien von Agrarunternehmen, 12 % auf verfügbarem nicht geschütztem Staatsland sowie 8% in Neuansiedlungen. Vor allem die indigenen Territorien und Naturschutzgebiete seien Opfer des unkontrollierten Feuers geworden, fasst die Stiftung zusammen. Sie seien aber auch Orte gewesen, an denen Feuer gelegt wurde. Zum Zweck der Rodung, aber auch um dort fremdes Land zu besetzen und sich anzusiedeln. Die Drohung der Behörden, die Besitzer illegal niedergebrannter Flächen zu enteignen, ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Man müsse zwischen denen unterscheiden, die Feuer legen, und denen, auf deren Land Brände wüten, so die Stiftung Tierra. In früheren Beiträgen auf Latinorama hatten wir von Fällen berichtet, wo freiwillige Feuerwehrleute als angebliche Brandstifter angeklagt wurden oder indigene Gemeinden wegen Bränden auf ihrem Territorium strafrechtlich verfolgt wurden, nicht aber die Eindringlinge, die das Feuer gelegt hatten. Ähnliches, so der Soziologe Erwin Melgar habe sich auch auf mittleren oder größeren privaten Landgütern abgespielt. Fremde legen Feuer, und wenn es dann auch noch enteignet würde, stünde es für neue Siedlungen oder den späteren Weiterverkauf an die Agroindustrie zur Verfügung. (Sie auch den Beitrag “Sie kommen wie Fallschirmspringer”)
Die Regierung in der Mitverantwortung
So macht auch die Stiftung Tierra den Landhunger der Großagrarier mit ihren Monokulturen als eine der Hauptursachen der Waldbrände aus. Allerdings sieht sie die Regierung in Mitverantwortung, die die Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen um jährlich eine halbe Million Hektar zu einem erklärten Ziel ihrer Planungen gemacht hat. Dies vor allem auf Kosten der Naturschutzgebiete, aber auch der indigenen Territorien. Dafür habe die Forstbehörde Agrargroßbetrieben die Genehmigung zu massiven Abholzungen für die Ausweitung der Monokulturen gegeben. Und die Agrarreformbehörde habe Neuansiedlungen vor allem auf Staatsland sehr gefördert. Migranten aus dem Hochland kommen aber teilweise mit frisch erteilten Landtiteln oder gar bewaffnet selbst in Territorien, die seit altersher den lokalen indigenen Gemeinden gehören, kritisiert der Soziologe und Agrarexperte Erwin Melgar. Und paradoxerweise wurden jüngst Verfahren eröffnet gegen zehn Gemeindeoberhäupter der Chiquitano, die ihr eigenes Land verteidigen. Sie seien die Landbesetzer, so die Anklage. Die steht juristisch jedoch auf schwachen Füssen und entbehrt der nötigen Beweise. So geht Melgar davon aus, dass es zu keiner Verurteilung kommen wird. Die Prozesse dienten dazu, die Kaziken einzuschüchtern und sie an den Protesten gegen Landbesetzungen und die Politik des Feuer legens zu hindern. (Keine neue Strategie, wie wir bereits früher auf Latinorama berichtet haben).
Waldvernichtung für Devisen
Auch wenn der Chef der Agrarreformbehörde in seinen Stellungnahmen mit dem anklagenden Finger vor allem auf die mittleren und großen Agrarbetriebe zeigt, ist in dieser Richtung bislang wenig geschehen, um der Zerstörung der Wälder Einhalt zu gebieten. Schließlich will die Regierung durch die Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen und die Steigerung der Exporte dem Devisenmangel begegnen. Das Problem ist allerdings, dass die Subventionen für importierte Treibstoffe bei der Produktion selbst Devisen verbrauchen. Auch die geringen Abgaben auf den Export von Fleisch oder Soja sorgen dafür, dass am Ende wenig von den Erlösen für das Land übrig bleibt. Zumal, wenn Agrarunternehmen, wie die Regierung beklagt, ihre Gewinne nicht vollständig nach Bolivien zurückführen.
In seiner in Jahr 2024 von Action Aid herausgegebenen Studie „Die Schattenfinanzierung der Agrarwirtschaft in Bolivien und ihre Rolle bei der Entwaldung“, zeigt Stanislaw Czaplicki Cabezas, dass vor allem Zuckerrohr-, Soja- und Fleischproduktion für den Verlust der Wälder verantwortlich sind. Und diese lägen in den Händen großer Agrarkonzerne. Bei Soja nennt er acht Konzerne, die für 95 Prozent der Verarbeitungskapazitäten und 80 Prozent der Exporte verantwortlich sind, darunter die US-Konzerne Cargill und Archer Daniels Midland, eine argentinische, eine brasilianische und eine Firma in peruanischen Händen, aber auch bolivianisches Kapital, darunter Gravetal S.A.. Diese Firma, die laut eigenen Angaben heute der wichtigste Akteur im Soja-Sektor ist, war laut Informationen der Nachrichtenagentur FIDES im Jahr 2008 von einem Abgeordneten der Regierungspartei MAS mit Hilfe venezolanischen Kapitals aufgekauft worden. Vorangegangen war der Versuch des Agrobusiness, durch Verknappung des Angebots auf dem lokalen Markt eine Erhöhung der Preise durchzusetzen und so Druck auf die Regierung auszuüben. Es war damals Teil des Machtkonflikts zwischen Zentralregierung und den oppositionellen Tiefland-Departaments.
Lange Jahre hatten der Chavez-Regierung nahestehende Venezolaner noch leitende Funktionen in Gravetal. Es ist heute immer noch im Besitz des damaligen Abgeordneten Juan Valdivia. Dessen Konsortium hat sich gut entwickelt und inzwischen auch in andere Sektoren investiert, etwa in Tageszeitungen. Auch im Zuckerrohr- und dem Viehzuchtsektor gibt es inzwischen wichtige Akteure, die der MAS nahestehen und mit der Arce-Regierung kooperieren.
Günstige Kredite für die Agroindustrie
Die Regierung sorgt wiederum dafür, dass die Agrarwirtschaft von günstigen Krediten profitiert. Dies gilt selbst für den inzwischen wieder verstaatlichten Rentenfonds. Während Jugendliche, die einen Kleinbetrieb gründen wollen, für Kleinkredite aus einem jüngst aufgelegten staatlichen Förderprogramm das Doppelte an Zinsen zahlen müssen.
Die Rentenversicherten werden so nicht nur durch niedrige Renditen geschädigt, sondern auch durch die Schäden, die mit der Kreditvergabe für die Ausweitung der Agrarflächen verbunden sind. Dazu gehört der Wassermangel, der vom globalen Klimawandel noch verschärft wird. In Santa Cruz wird dem Boden inzwischen mehr Wasser entnommen, als die Natur regeneriert. Und die Entwaldung des Tieflandes führt auch zu geringeren Niederschlägen in Gemeinden des Hochlandes. Kein Wunder, dass es für die dortigen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen immer schwieriger wird, mit der Landwirtschaft ein Auskommen zu finden und sie ihr Glück in den Städten oder im Tiefland suchen. (siehe diesen Beitrag der Frauen aus Potolo bei Sucre auf Latinorama).
Zwischen 2012 und 2022, so Czaplicki sei die jährliche Kreditsumme vom Staat und von Privatbanken für den gesamten Agrarsektor von 852 Millionen auf 3,6 Milliarden US-Dollar gestiegen. Und 79 Prozent davon gingen in die drei Bereiche, die am stärksten für die Entwaldung verantwortlich sind, so der Ökonom.
Die Brandstifter gehen meist straffrei aus.
Da es sich um eine staatlich geförderte Politik handelt, verwundert auch kaum, dass die Strafverfolgung von Brandstiftern und Landspekulanten, die Land frei machen für Agroindustrie und Bergbau, nur mäßig erfolgreich ist. Ein Hektar bewaldetes Land kostet 100 US-Dollar, ohne Bäume bereits 2500 US-Dollar, titelte El Deber am 21. Oktober. Ein gutes Geschäft, wenn man das Feuer für sich arbeiten lässt. Ruth Alipaz, indigene Umweltaktivistin im subtropischen Norden von La Paz hatte gegenüber der Tageszeitung El Deber noch am 15.10. die Tatenlosigkeit der Regierung gegenüber Neusiedlern und Bergwerksunternehmen. Sie rücken selbst in den Madidi-Nationalpark vor. (siehe diesen früheren Beitrag auf Latinorama).
Landesweit hatte es am 8. Oktober 113 Strafanzeigen und 347 Zivilrechtliche Prozesse wegen dem legen illegaler Brände gegeben. Am 11. Oktober waren 66 Brandstifter identifiziert, gegen die Anklage erhoben wurde. Vier Tage später waren zwar vier von ihnen verurteilt, sechs in Untersuchungshaft. Die meisten jedoch werden schnell wieder frei- oder gegen eine milde Geldstrafe laufen gelassen.
Erst die verspätet einsetzende Regenzeit scheint den betroffenen indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinden, aber auch den Städter*innen, die den Rauch atmen, nun endlich Erleichterung zu verschaffen. Wenigstens für dieses Jahr. Für die Zukunft reichen die Regenfälle aber nicht aus. Hierfür wäre eine wirtschaftspolitische Kurswende durch Parlament und Regierung nötig.
Siehe (auf Spanisch) auch diese aktuelle empfehlenswerte Reportage der Deutchen Welle zum Thema, auch auf Englisch hier zu sehen.