Ferréz
Brasilien ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. In den folgenden Monaten werden wir in loser Folge Beiträge zur brasilianischen Literatur oder anderen Büchern aus oder über Brasilien veröffentlichen.
Für die einen – Banausen selbstverständlich – ist sie vor allem Literatur in Appetithäppchenform, für die anderen die Krönung literarischer Fertigkeit, die Kurzgeschichte. Auf alle Fälle passt sie in eine von elektronischen Medien zunehmend getaktete Welt. Und in einer Anthologie zusammengestellt, eignet sie sich zum Einstieg in thematisches oder länderbezogenes Neuland aus literarischer Sicht. In diesem Falle heißt das Neuland aufgrund der geringen Zahl übersetzter Bücher Brasilien.
Zuletzt kam vor knapp 20 Jahren zum Frankfurter Buchmessenschwerpunkt Brasilien 1994 eine Reihe von Sammelbänden mit Kurzgeschichten brasilianischer AutorInnen auf den deutschen Markt. Bereits im folgenden Jahr verschwand das Angebot aus deutschen Buchhandlungen. Nun ist es endlich wieder da. Als erster einer Reihe von angekündigten Bänden ist gerade „Popcorn unterm Zuckerhut“ erschienen. Der Herausgeber des Sammelbandes, Timo Berger, ist Autor, Übersetzer und Mitveranstalter des mobilen lateinamerikanischen Poesiefestivals latinale. Selbst Jahrgang 1974, hat er sich in Brasilien unter Gleichaltrigen umgesehen.
Ausgewählt hat Berger AutorInnen, die zwischen 1968 und 1981 geboren sind, fast die Hälfte davon rühmlicherweise Frauen – genau genommen neun Frauen und elf Männer. Sie stammen nicht nur aus den beiden Metropolen mit direktem Anschluss an den internationalen Literaturbetrieb, Rio de Janeiro und São Paulo, sondern auch aus Natal, Salvador de Bahia oder Porto Alegre. Tatiana Salem Levy wurde in Lissabon geboren, Carola Saavedra in Santiago de Chile; beide sehen sich aber unbedingt als brasilianische Schriftstellerinnen.
Einige der Vertretenen wurden in den vergangenen Jahren von Literaturpreis- oder Zeitschriftenrankings in die besten 20 oder 30 in Lateinamerika eingeordnet. Aussagekräftiger für LeserInnen auf der Suche nach literarischen Besonderheiten aus Brasilien in dem alles andere als überbordenden Angebot auf deutschen Büchertischen ist ein anderer Umstand. Von einigen der Aufgeführten liegen bereits Romane auf Deutsch vor oder werden demnächst vorliegen, so „Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall“, von João Paulo Cuenca ( A1 Verlag, 2012), „Körper und Tage“, von Laura Erber (Merz-Solitude, 2006) und „Landschaft mit Dromedar“ von Carola Saavedra (C.H. Beck, 2013).
Deren Texte in der Anthologie sind somit Geschmacksproben, die Lust auf mehr machen könnten – womit wir bei Timo Bergers Thema wären. Der ein Motiv in Laura Erbers Beitrag im Band abwandelnde Titel „Popcorn unterm Zuckerhut“ soll auf den kulinarischen Aspekt bei der literarischen Auswahl wie auch auf die die Texte leitmotivisch durchziehenden Einverleibungs- und Anverwandlungsversuche hinweisen, erläutert Berger in seiner Einleitung. Womit auch eine maßgebliche Kulturströmung der 20er-Jahre in Brasilien – teils ironisch – zitiert wäre: die Anthropophagie, die sich gegen den bis dahin maßgeblichen europäischen Ethnozentrismus in der Kunst wandte und propagierte, das Fremde nicht abzulehnen, sondern deren Bestes „zu fressen“.
Dieser Kannibalismus hat im Spiegel der vorgestellten jungen Literatur höchst unterschiedliche Resultate gezeitigt. Keiner der versammelten Texte will „typisch brasilianisch“ sein, auch nicht gegen Klischees anschreiben. Nur João Paulo Cuenca verpasst den Brasilienetiketten in der letzten Geschichte des Bandes, „Der Karneval ist vorbei“, eine lakonische Glosse.
Als einzige unter den AutorInnen setzt sich Cecilia Gianetti in „Brasilien spielt“ explizit mit der „Brasilianistik“ auseinander. Ihr Ich-Erzähler (m.!) übersetzt den Text eines US-amerikanischen Wissenschaftlers über Brasilien – und reibt sich an dessen Brasilienbild. Der Text ist gleichzeitig eine Reflektion über das Schreiben, wie sie auch Carola Saavedra in „Zusammenleben“ anstellt.
Der mehrschichtige Text verarbeitet ein weiteres in dem Band wiederkehrendes Motiv, die Gegenwart eines Dritten als konstitutives Moment für eine Zweierbeziehung. Carola Saavedras Protagonistin, eine schreibende Frau, lässt im Halbdunkeln (der Schreibtischlampe) offen, ob dieser Dritte eine zu eigenständigem Leben erwachte literarische Figur, eine Ausgeburt ihres Weingenusses oder eine reale Gestalt ist. Bei Michel Laub dagegen ist in „Der Mann am Strand“ die (eingebildete?) Dreiecksbeziehung erotisierend; bei Daniel Galera in „Laila“ lediglich Selbstbetrug, der das männliche Ich stärkt.
Eine Ausnahmestellung hat Ferréz’ „Nachbarn“. Ferréz’ Ich-Erzähler bellt die LeserInnen fast an. Da ist einer richtig wütend auf seine Nachbarn in einer Favela São Paulos, zieht um und fällt nicht nur vom Regen in die Traufe, sondern wandert in den Knast. Dabei ist er keineswegs schuldig, zumindest nicht für das, wofür er verurteilt wird. In keinem anderen Text geht es so unmittelbar um die sozialen Verhältnisse. Nur der ausgespuckte Hass hält den Erzähler am Leben, scheint es.
Ohne diesen Text hätte der Anthologie ein wichtiger Aspekt gefehlt. So ist sie rund geworden.
Popcorn unterm Zuckerhut. Junge brasilianische Literatur. Hrsg. Von Timo Berger. Berlin, Übersetzung: Odile Kennel, Enno Petermann, Michael Kegler, Sarah Otter, Timo Berger, Maria Hummitzsch, Marianne Gareis, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013, 142 S., 9,90 Euro.
aus: ila 365 – Literatur aus Brasilien