Einst hatte Evo Morales den Ökonomen Luis Arce Catacora als Kandidaten der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) ins Präsidentenamt gehievt. Heute ist die bolivianische Regierungspartei so zerstritten, dass eine erneute Regierung nach den für August geplanten Wahlen noch mehr gefährdet ist als ohnehin. Vor allem aufgrund der Wirtschaftskrise. Für die macht Morales allein seinen „Bruder“ Arce Catacora verantwortlich, obwohl der sein ehemaliger Wirtschaftsminister ist. Um so überraschender, wie Morales in seinem sonntäglichen TV-Interview bei Radio Kawsachun Coca im Brustton der Überzeugung eine neue Präsidentschaft seiner Person ankündigt.
Denn den parteiinternen Machtkampf mit Evo Morales hat Boliviens Präsident Luis Arce Catacora im ablaufenden Jahr wohl gewonnen. Dies mit Unterstützung des Verfassungsgerichts. Das untersagte Morales entgegen dem Verfassungstext eine erneute Präsidentschaftskandidatur. In einer verfahrensrechtlichen Grauzone zwischen den alten Seilschaften des Kokabauernführers und den neuen Seilschaften des aktuellen Präsidenten, gelang es Arce sogar, Morales auch noch die Führung seiner Partei wegzunehmen, die er einst mitgegründet und die ihn zum Vorsitzenden auf Lebenszeit proklamiert hatte. Massive und gewalttätige Straßenblockaden der Anhänger von Morales waren nach Wochen des Abwartens der Regierung und massiven wirtschaftlichen Schäden schließlich dann doch von Polizei und Militär aufgelöst worden. Mehrere Dutzend Organisatoren wurden in Untersuchungshaft genommen. Die Polizisten und Militärs, die wegen Bedrohungen und einer mutmaßlichen Geiselnahme durch die Kokabauern die Region während der Blockaden verlassen hatten, sind mit der Zusage der dortigen Bürgermeister, ihre Arbeit zu unterstützen, inzwischen wieder zurück. Ohne Polizeischutz öffnen die Banken nicht, auch nicht die staatseigene Banco Unión.
Eine Forderung der Blockaden war auch gewesen, diverse Prozesse gegen Morales einzustellen. Die Regierung hatte nämlich versucht, Evo Morales mit der Wiederaufnahme eines Verfahrens wegen Missbrauch an einer Minderjährigen juristisch zu Leibe zu rücken und gleichzeitig moralisch ins Abseits zu schieben. Ein Haftbefehl wegen Nichterscheinens vor Gericht wird allerdings seit Wochen nicht vollstreckt. Morales hat sich in die Chapare-Region zurückgezogen, wo seine Anhänger zunächst damit drohten, gut bewaffnet zu sein, um dies verhindern zu können.
Schon bei den Straßenblockaden war nicht nur Sprengstoff gegen Polizisten eingesetzt worden, sondern waren auch Blockierer mit Gewehren zu sehen. Laut MAS-Senator Leonardo Loza Infiltrierte der Regierung. Inzwischen ruderte die Entourage von Morales wieder zurück. Nicht Waffen, sondern politisches Bewusstsein seien gemeint gewesen, meint auch Loza. Die Behörden könnten ruhig weiter von einer Verhaftung träumen, die Kokabauern würden ihren Sprecher schützen, bekräftigte der Senator der Kokabauern die Vorstellung, dass sein politischer Freund über den Gesetzen stehe.
„Ein offenes Geheimnis“
Die Fälle des Missbrauchs von Minderjährigen durch Morales während seiner Präsidentschaft sei ein offenes Geheimnis und auch ihm bekannt gewesen, räumte Präsident Arce nun in einem Interview mit der mexikanischen Zeitung La Jornada ein. Und wer wisse schon, warum das damals totgeschwiegen worden sei, fügte er an. Sein Argument, dass solche Handlungen unter seiner Regierung nicht geduldet würden und keine politische sondern eine Angelegenheit der Justiz seien, klingt wenig überzeugend. Denn unabhängig ist die bolivianische Justiz keinesfalls. Arce selbst war außerdem Regierungsmitglied in der Zeit, als das Thema verschwiegen wurde. Und gleich zu Anfang seiner eigenen Präsidentschaft waren die Anklagen der Übergangsregierung aus dem Jahr 2020 wegen Missbrauchs Minderjähriger und Menschenhandel, wegen Terrorismus und organisiertem Wahlbetrug zurückgezogen und alle Verfahren gegen Morales von der Justiz eingestellt worden. Damals zogen Morales und der von ihm gegen den Protest der indigenen Basis der MAS für das Amt nominierte Luis Arce noch am gleichen Strang.
Prozesse gegen politische Konkurrenz
Niemand könne zweimal wegen der gleichen Tat belangt werden, argumentieren nun Morales Anwälte. Ihre weitere Aussage, ohne die Anzeige des Opfers könne kein Missbrauchsprozess geführt werden, widerspricht jedoch der Gesetzeslage, weswegen die Staatsanwaltschaft derzeit von Amts wegen ermittelt. Immerhin gibt es die Urkunde der Geburt eines Kindes aus der Beziehung des über 50jährigen mit der damals minderjährigen Mutter, deren Gültigkeit dieser bis heute nicht bestritten hat. Es handele sich um eine Privatangelegenheit, argumentiert Morales. Auch unterwerfe er sich keiner politisch manipulierten Gerichtsbarkeit und sei Opfer von imperialistischen Machenschaften. Ähnlich wie bei der jüngsten Auslieferung eines seiner obersten Drogenbekämpfers, des früheren Polizeigenerals Maximiliano Dávila an die USA wegen Drogenhandel und unerlaubtem Waffenbesitz. Morales beschuldigt die Regierung, auch ihn auf diesem Weg los werden zu wollen.
Die Wirtschaft auf Talfahrt
Imperialistische Machenschaften identifiziert auch der aktuelle Präsident Arce als einen wichtigen Grund für die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes und nicht sein eigenes Handeln oder Nichtstun. Vor einem Jahr hatten wir auf Latinorama (siehe diesen Beitrag) einige Stellschrauben für nötige Kurskorrekturen benannt. Doch wenig davon ist seitdem passiert. Statt Probleme in einem früheren Stadium zu lösen, hat sich die Lage seither noch verschlechtert. Die Währungsreserven und Goldbestände der Zentralbank sind praktisch aufgebraucht. Selbst die Rentenfonds müssen zum Stopfen der Haushaltslöcher herhalten. Der Geldmangel sei das Problem, so Präsident Luis Arce Catacora. Er bezeichnet Evo Morales als die „neue Rechte“. Die verweigere seiner Regierung gemeinsam mit dem traditionellen Kräften im Parlament die Genehmigung für noch mehr Auslandskredite. Die Rechte provoziere auch den Devisen- und Treibstoffmangel und treibe die Preise in die Höhe, um die kommenden Wahlen zu gewinnen und dann als Retter des Vaterlandes dazustehen.
Tatsächlich kann die Regierung nicht mehr wie früher auf günstige makroökonomische Daten wie höhere Wachstumsraten und eine niedrigere Inflation als in den Nachbarländern verweisen. Nur Argentinien und Venezuela haben in Südamerika derzeit noch höhere Preissteigerungsraten.
Kredite, aber nicht vom Weltwährungsfonds
Gleichwohl setzt abgesehen von hartgesottenen Neoliberalen auch die politische Konkurrenz aus dem mittleren und rechten politischen Spektrum ihre Hoffnung auf neue Kredite. Nur ist das in ihrem Fall nicht dafür vorgehen, um weiter den sinkenden Wechselkurs der bolivianischen Währung künstlich zu stabilisieren oder Dieselimporte, Lebensmittel und defizitäre Staatsbetriebe zu subventionieren. Und wer weiß, ob sie auch auf die erheblichen Bestechungsgelder verzichten würden, die derzeit die privaten und Parteikassen füllen. Ein Verzicht auf Korruption wäre die sinnvollste unmittelbare Lösung für die Liquiditätsprobleme. Ohnehin käme für Liquiditätshilfen eigentlich keiner der umstrittenen zweckgebundenen Kredite, sondern nur der Internationale Währungsfonds (IWF) in Frage. Das lehnt Präsident Arce wegen der voraussichtlich damit verbundenen Auflagen jedoch kategorisch ab.
Weil die Parlamentsmehrheit sich geweigert hatte, den unrealistischen Haushaltsplan für 2025 abzusegnen, hat Vizepräsident David Choquehuanca die Parlamentarier vor Weihnachten wie schon im Vorjahr wieder in Zwangsurlaub geschickt. Denn ohne einen Parlamentsbeschluss tritt der Haushalt ab ersten Januar automatisch in Kraft. Im vergangenen Jahr hatte Choquehuanca auf diesen Verfahrenstrick zurückgegriffen, damit die obersten Richter, die sich selbst ihre Amtszeit verlängert hatten, vom Parlament nicht entlassen werden.
Überraschungen bei der Neubesetzung der obersten Gerichte
In einer Nacht- und Nebelaktion gelang es der Opposition und dem Evo Morales nahestehenden Senatspräsidenten Andrónico Rodriguez später doch, während einer Abwesenheit von Choquehuanca in dessen Vertretung das Gesetz verabschieden zu lassen. Unterschrieben wurde es anschließend jedoch nicht, auch weil der Oberste Gerichtshof Rodríguez eine harte Bestrafung androhte, sollte er das Gesetz unterschreiben. Um nicht abgelöst zu werden, griffen diese Richter in 2024 dann auch immer wieder in den bereits mehrmals verschobenen Neuwahlprozess ein. Dabei wurden die Kompetenzen sowohl des Parlaments als auch der laut Verfassung unabhängigen Wahlbehörde verfassungswidrig beschnitten. Bei den vor Irregularitäten strotzenden Wahlen im Dezember wurde dann auf Geheiß des Verfassungsgerichts nur ein Teil der Richter neu gewählt.
Aber anders als beim letzten Mal, als die Menschen aus Protest mehrheitlich ungültig wählten, waren diesmal zwei Drittel der Stimmen gültig. Auch wurden nicht nur Kandidat*innen der Regierungspartei nachgewählt. Dabei hatte eine Rolle gespielt, dass die Regierungspartei diesmal ohne Zweidrittelmehrheit im Parlament die Kandidat*innen nicht mehr alleine auswählen konnte. Auch hatte nicht nur die MAS ihre Listen mit ihren Kandidat*innen an die Basis verschickt.
Sondern auch eine Gruppe um die oppositionelle Abgeordnete Luciana Campero (siehe das Interview mit ihr auf Latinorama). In den sozialen Medien hatten sie auf den Kandidat*innen-Listen diejenigen in den Parteifarben der MAS blau markiert, die zuvor der Regierung oder der Partei selbst angehört hatten, oder die zum Beispiel beim Auswahlprozess gemogelt oder entgegen der Bestimmungen Wahlkampf geführt hatten. Die Leute hätten nur aufgrund solcher Listen ohne Kenntnis der Personen abgestimmt, kritisierten regierungsnahe Medien. Auch die Wahlbeobachtungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten bemängelte, dass eine wirkliche Wahl ohne qualifizierte Information nicht möglich sei. Doch das gilt ebenso für die Kandidat*innen der Regierungspartei.
Sorge vor manipulierten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Wenn auch nur ein unabhängiger Richter oder eine unabhängige Richterin gewählt würde, hatte die oppositionelle Gruppe gegen einen Wahlboykott argumentiert, werde man künftig wenigstens erfahren, was an den obersten Gerichten hinter den Kulissen geschehe. Es wurden deutlich mehr und wäre sogar eine Mehrheit geworden, wenn im ganzen Land alle Posten neu besetzt worden wären. Auch sah die Gruppe die Richterwahlen als Testlauf, um besser identifizieren zu können, wo Wahlbetrug stattfindet. Auf dieser Grundlage hoffen sie bei den für August geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen die Kontrollen zu verbessern.
Die Sorge vor manipulierten Wahlergebnissen ist groß. Nur so lässt sich die Hoffnung der derzeitigen MAS-Kandidaten auf eine erneute Präsidentschaft erklären. Evo Morales, hat zwar eine nicht unerhebliche treue Anhängerschaft, doch noch vor dem inhaftierten Gouverneur von Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, ist der Ex-Präsident bei Meinungsumfragen die politische Figur, die die höchste Ablehnung in der Bevölkerung erfährt. Laut Delphi-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung unter Meinungsführer*innen aus allen politischen Lagern und gesellschaftlich relevanten Gruppen vom Oktober 2024 haben über 90% der Befragten eine negative Meinung von Morales. Bei Luis Arce sind es immerhin 76 Prozent. Nur 15% haben eine positive Meinung vom aktuellen Präsidenten. Arces ehemaliger Regierungssprecher Jorge Richter äußerte jüngst im Programm „No Mentiras“ des Fernsehsender RTP die Auffassung, dass die Regierungspartei nur mit einem neuen Kandidaten Chancen habe, die anstehende Wahl doch noch einmal zu gewinnen. Die Opposition ist zersplittert, alle versprechen die Lösung der wirtschaftlichen Probleme. Doch jenseits des alten und unbeliebten politischen Establishments profilieren sich keine wirklichen neuen Alternativen.
Noch verfangen neoliberale Mythen wenig
Die Regierung zögert Maßnahmen zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme immer weiter hinaus. Sie setzt stattdessen kurzfristig auf Verbote und Kontrollen der großen wirtschaftlichen Akteure wie der Agrarexportindustrie. Unlängst protestierten aber auch Händlerinnen aus dem informellen Sektor dagegen, vom Präsidenten als Spekulanten bezeichnet worden zu sein. Dennoch haben Vertreter des Neoliberalismus in der Art des in Argentinien aufgrund ähnlicher wirtschaftspolitischer Versäumnisse ins Amt gewählten Javier Milei bislang in Bolivien nur geringe Zustimmungsraten erzielen können. Zu krude sind zum Teil auch die Argumente etwa zu einer angeblich kostensparenden wie gerechten Privatisierung des Gesundheits- oder Bildungswesen.
Ungleichheit sei nichts Schlechtes, so der Ökonom Jaime Dunn. Für ihn ist das Voucher-System in Chile ein Vorbild für das Bildungwesen. Private wie öffentliche Schulen sollten die gleiche Menge staatlicher Gelder pro Schülerin oder Schüler bekommen. Das schaffe Chancengleichheit, bei der sich die Besten durchsetzen und möglicherweise als Harvard-Absolventen enden würden, statt im mediokren Bildungssystem Boliviens gefangen zu bleiben. Doch ein solches System führt dazu, dass die Reichen, die staatlichen Gelder für die Bildung ihrer Kinder zwar aufstocken können, während für die Bildung der Armen jedoch noch weniger als früher zur Verfügung steht. Noch sind es allerdings wenige Wählerinnen und Wähler, bei denen die neoliberalen Mythen wie die von Dunn verfangen.
Noch bleibt Zeit für Überraschungen und neue Entwicklungen
Doch bis August ist noch genügend Zeit für Überraschungen und neue Entwicklungen. Möglich ist auch, dass die Stimmen wie bei den letzten Wahlen im benachbarten Peru im ersten Wahlgang so verteilt sein werden, dass Kandidaten schon mit einer niedrigen zweistelligen Prozentzahl der Stimmen in die Stichwahl kommen könnten. Eine wie in Peru gesehen schwache Basis für spätere Regierungsfähigkeit. Im hypothetischen besten Fall für die Regierungspartei könnten sogar zwei Vertreter ihrer derzeit konkurrierenden Fraktionen im zweiten Wahlgang gegeneinander antreten, um sich danach wieder zusammen zu schließen.
Skeptiker befürchten, dass Luis Arce Catacora mit Hilfe der Gerichte mögliche chancenreiche Konkurrenz von den Wahlen ausschließen lässt, so wie mit Evo Morales oder in Venezuela geschehen. Oder dass er die Wahlen weiter hinausschieben wird, um seine Amtszeit zu verlängern, so wie es die Verfassungsrichter bereits mit ihren eigenen Posten vor einem Jahr vorexerziert haben. Nur darf bezweifelt werden, ob bis zu einer möglichen späteren Wahl mit der Lithiumproduktion oder neuen Gasfeldern wirklich wieder genug staatliche Geldquellen sprudeln, um auch ohne wirtschaftspolitische Kurskorrekturen die Erwartungen der Bevölkerung zufrieden zu stellen.