Bei den bolivianischen Präsidentschaftswahlen im August 2025 setzte sich überraschend Rodrigo Paz Pereira an die Spitze. Er geht nun gegen den rechtsliberalen Jorge „Tuto“ Quiroga in die Stichwahl. Ende September fragten wir Mario Rodríguez vom Netzwerk für Vielfalt und dem Kulturzentrum Wayna Tambo nach seiner Analyse und Einschätzung der politischen Entwicklung in Bolivien – insbesondere in der Millionenstadt El Alto im bolivianischen Hochland und in der südlichen Provinz Tarija, wo Wayna Tambo ebenfalls arbeitet.
Laut Rodríguez sei es schwer, Vorhersagen zu treffen. Das Land befinde sich nach dem Ende des Machtzyklus der Bewegung zum Sozialismus (MAS) in einer Übergangsphase.
Von Mario Rodríguez
Den Erfolg von Rodrigo Paz und seines Vizepräsidentschaftskandidaten Edman Lara in El Alto im ersten Wahlgang kann man ohne den Einbruch der Bewegung zum Sozialismus (MAS) nicht erklären. El Alto hat seit dem Jahr 2002 auf nationaler Ebene immer in seinem Wahlverhalten eine gewisse Treue zur MAS gezeigt. Mit ihr haben sie kulturelle Übereinstimmungen gesehen. Zur andinen Kultur gehört aber auch das Verständnis, dass die Konzentration von zu viel Macht nicht gut ist und dass deshalb ein Ausgleich geschaffen werden muss. So wurde dann bis jüngst bei den Nationalwahlen die MAS gewählt, aber bei den Kommunalwahlen suchte man Alternativen.
Hinzu kommt ein gewisser Pragmatismus: Wer nutzt mir am meisten, oder mit wem kann ich am besten meine Interessen gegenüber staatlichen Stellen verhandeln? Und das bedeutet vor allem: Wer mischt sich am wenigsten in die lokalen Organisationsprozesse, in den Alltag und insbesondere die geschäftlichen Aktivitäten ein?

Ein gespaltener MAS mit schwachen Kandidaturen
Viele Jahre schien die Regierung der MAS nahe an diesen Menschen. Auch weil sie zum Beispiel den Schmuggel, den Drogenhandel oder die illegale Goldproduktion toleriert hat. Damit haben die meisten zwar direkt nichts zu tun, aber über die Geldkreisläufe sind viele doch verbunden. Diesmal haben die Alteñas und Alteños jedoch gesehen, dass die internen Konflikte in der Bewegung zum Sozialismus einen Erfolg bei den landesweiten Wahlen wenig wahrscheinlich machten. Mit der Regierung Arce hatten sie sich ohnehin nie besonders angefreundet. Zwar hatte es eine Annäherung der Bürgermeisterin Eva Copa (eine MAS-Dissidentin) gegeben. Aber sie konnte sich nicht als Führungsfigur auf nationaler Ebene etablieren. Für ihre Präsidentschaftskandidatur hatte sie nicht einmal die Unterstützung der Basisorganisationen von El Alto. So hat sie ihre Kandidatur kurz vor der Wahl zurückgezogen.

Umgekehrt gab es immer ein gewisses Misstrauen gegenüber der Arce-Regierung und dessen Kandidaten Eduardo del Castillo. Evo Morales durfte ja nicht kandidieren, hat aber über die ungültigen Stimmen eine Stammwählerschaft mobilisieren können (in El Alto mit 17% etwas weniger als im nationalen Durchschnitt von 20%, aber circa 13 Prozent höher als der Nullstimmenanteil bei den früheren Wahlen, Anm. d. Übers.).
Die ungültigen Stimmen repräsentieren in El Alto aber nicht nur Evo Morales. Sie drücken auch unabhängig von seiner Person Unterstützung für das historische Projekt der Bewegung zum Sozialismus aus. Denn als Andrónico Rodríguez von der Kokabauernbewegung als Präsidentschaftskandidat (für das Wahlbündnis Alianza Popular) auf die Bühne trat, dachten viele in El Alto zunächst, er könne die Kontinuität der Regierung der MAS möglich machen. Aber die Kandidatur fiel schnell in sich zusammen, weil es wenig Dialogfähigkeit mit den Basisorganisationen gab. Die sind in El Alto trotz Spaltungen und Legitimitätsverlusten noch vergleichsweise stark. Am Ende kam die Unterstützung für Rodríguez eher aus den städtischen Mittelschichten. Auch hat das zurückhaltende Auftreten von Andrónico die Menschen in El Alto nicht motiviert. Die wollen vor Niemandem mehr den Kopf einziehen, vor allem nicht vor den Kharas (Weißen). Auch der intellektuelle Aymara-Katarismus, der sich mit Andrónico Rodríguez verbündet hatte, konnte keine Stimmen mobilisieren. Sie sind nicht in der breiten Bevölkerung verankert.
Paz Pereiras Diskurs klingt weniger bedrohlich
Und da tauchte dann die Kandidatur von Rodrigo Paz (mit der christdemokratischen Partei PDC) und mit Edmand Lara als Vizepräsident auf. Sie nahmen Teile des Stimmenpotentials der MAS auf. Die wählten die PDC ohne voll überzeugt zu sein. Wenn die MAS schon gescheitert ist, dann wollten sie wenigstens nicht für eine der angestaubten, traditionellen, rechten und von Weißen dominierten Parteien stimmen. Man weiß, dass Paz der Sohn des Ex-Präsidenten Jaime Paz Zamora ist. Aber als Politiker war er national bislang wenig in Erscheinung getreten. In Tarija war er Bürgermeister.

Aber dort wird er für eine sehr korrupte Amtsführung kritisiert. Zwar ist es bislang in keinem Verfahren zu einer Verurteilung gekommen. Aber eine in seiner Amtszeit begonnene, am Ende völlig überteuerte Brücke und ein umgerechnet etwa 22.000 Euro teurer Fahnenmast sind in aller Munde. Wenn jemand fragt, wie er zu Geld kommen kann, dann antwortet man ihm in Tarija: „Baue einen Fahnenmast“. Deshalb hat Rodrigo Paz bei der Wahl dort auch viel schlechter abgeschnitten als in anderen Regionen, wo wenig bekannt ist von seiner Amtszeit als Bürgermeister. Wer weiß, was noch passiert. Aber wären die Wahlen heute, würde Jorge „Tuto“ Quiroga in Tarija mit großem Abstand gewinnen.
In El Alto erscheint Paz Pereira jedoch vielen immer noch eine bessere Alternative als Quiroga. Denn der ist politisch ganz klar rechts positioniert und vertritt die Eliten. Paz und Laras Diskurs hört sich weniger bedrohlich an. Mit seinem Schlagwort vom Volkskapitalismus oder Kapitalismus für alle können die Leute zwar nicht so viel anfangen: Es geht vielmehr um die Idee, dass der Staat sich nicht in ihre Geschäfte einmischt. Paz ist da näher am Handwerk und Kleinhandel und denen die im Transportsektor arbeiten. Es geht auch um das Versprechen des Kandidaten, die ins Land geschmuggelten Fahrzeuge zu legalisieren und vor allem, keine Steuern zahlen zu müssen. Kurzum das zu schützen, mit dem sie wirtschaftlich in der Krise über die Runden kommen.

In El Alto und im zentralen Hochland dürfte Lara eine wichtigere Rolle bei der Wahlentscheidung gespielt haben als Paz Pereira. Denn Lara kommt aus einfachen Verhältnissen und zeigt sich gleichzeitig kampfwillig. Er ist sehr präsent in Tik Tok und sagt offen, was er denkt. Es sind ist also keine Stimmen für die Mitte. Sondern die PDC dient einerseits mit Lara als Ersatz für den MAS und andererseits mit Paz für rechte Parteien, die sich nicht haben neu erfinden können. Möglicherweise haben in El Alto und dem Altiplano auch die evangelikalen Sekten Einfluss gehabt.
Viele Leute sagen nun mit Blick auf die Stichwahl, es sei einfach zu reden. Man werde sehen, was die Gewählten danach tun, wenn sie an der Regierung sind. Es bleibt also abzuwarten, ob sich die Unterstützung für eine neue Regierung konsolidieren kann und damit die MAS, andere linke Projekte oder der Indianismus dann noch weiter in den Hintergrund rücken.
Perspektiven nach der Stichwahl
In unserem Vielfalts-Netzwerk gibt es in diesem unklaren Umfeld ganz unterschiedliche Einschätzungen. Ich denke, dass schon 2019 ein politischer Zyklus zu Ende gegangen ist. Der Zyklus des Rentiers-Staats und nicht so sehr der eines Plurinationalen Staates für das Gute Leben. Aber das Ende einer Epoche bedeutet nicht, dass die MAS in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Im Augenblick scheinen aber weder Andrónico Rodríguez oder Eva Copa noch die Regierungsfraktion eine wichtige Rolle zu spielen. Vielmehr halten vor allem die Leute von Evo Morales das politische Projekt aufrecht. Wenn sich dort allerdings weiter alles um seine Person dreht, wird auch diese Bewegung schwächer werden, statt wieder an Stärke zu gewinnen.

Das Ende einer Epoche bedeutet aber auch noch nicht den Beginn einer neuen. Vielmehr befinden wir uns in einer Krise und Übergangsphase. In der werden unterschiedliche Vorstellungen in die Debatte eingebracht. Die Zukunft wird zeigen, ob eines dieser Modelle die neue Epoche bestimmen wird. Und wer weiß, ob sich mit der Stichwahl tatsächlich eine anderes Modell durchsetzt. Ob die neue Regierung die internen Konflikte der Basisbewegungen nutzt, um diese niederzuringen. Ebenso wenig wissen wir, ob sie eine neue Hegemonie etablieren kann. Wenn die ersten Entscheidungen getroffen sind und die Reaktionen der Menschen deutlich werden, dann wird man Hinweise haben, ob sich ein neues Modell konsolidiert, oder ob die Krise und die Konflikte erst einmal weiter gehen.
Zur Zukunft der Parteienlandschaft und Massenorganisationen
Vier Dimensionen sind dabei wichtig. Die erste ist die Entwicklung der Parteienlandschaft und die große Politik. Dazu gehört die Frage, ob sich die MAS wieder erholt. Im Augenblick scheint nur Evo Morales eine relevante Größe zu sein. Es können aber auch andere Figuren auftauchen, um die sich die Akteure des historischen MAS wieder sammeln. Es könnten sich aber auch neue linke Parteien profilieren, so wie Pachacuti in Ecuador. Danach sieht es derzeit in Bolivien aber nicht aus.

Die zweite Frage ist, wie sich die Massenorganisationen reorganisieren, die die Bewegung zum Sozialismus im „Pakt der Einheit“ getragen haben. Dazu gehören der zentrale Gewerkschaftsbund, die Bergwerkskooperativen, die Kleinbauernorganisation CSUTCB, die Interkulturellen (Siedlerverband, Anm. d. Übers.) und die Gremien des Kleinhandels und Handwerks. Sie alle erleben derzeit eine Entfremdung zwischen den jeweiligen Führungsebenen und der Basis. Und es ist offen, ob und welche von ihnen imstande sind, die Idee des Plurinationalen Staates weiter zu führen. Zumindest bei meinen Gesprächen auf dem Land habe ich den starken Wunsch gespürt, für die Stärkung und Anerkennung der indigenen Kulturen zu kämpfen. Etwa für die letzte Erziehungsreform. Sie wird sowohl von Jorge Quiroga als auch Paz Pereira stark kritisiert. Trotz diverser Mängel würden die Menschen nicht zulassen, dass die Erziehungsreform wieder zurückgeschraubt wird. (Ziel war ein interkulturelles Schulsystem, das indigenes und lokales Wissen gleichwertig behandelt und berufspraktische mit klassischer Bildung verbindet. Kritiker sehen eher die Instrumentalisierung des Gesetzes für parteipolitische Indoktrinierung, sowie die mangelnde Ausstattung der Schulen und fehlendes Personal, um die Ideen der Gesetzesreform umzusetzen, Anm. d. Übers.).

Manche dieser Massenorganisationen werden mit der neuen Regierung paktieren. Die Bergwerkskooperativen haben beiden Kandidaten schon ihre Vorschläge eingereicht. Die anderen versuchen derzeit eher, bei Paz Pereira Bündnischancen zu sondieren. Denn er hat eine viel kleinere eigene organisatorische Basis als Quiroga und ist mehr auf sie angewiesen. Ob sich daraus ein dauerhaftes politisches Projekt entwickelt, bleibt abzuwarten. Im Augenblick sieht es nicht danach aus. Ohnehin besteht das Risiko, dass ein solcher Pakt mit der PDC wieder bei dem Klientelismus endet, der den Organisationen unter der MAS so großen Schaden zugefügt hat. Bei Jorge „Tuto“ Quirogas LIBRE ist diese Gefahr geringer.
Die Basisinitativen sind verstreut
Die dritte Ebene, die zu berücksichtigen ist, sind die kleinen Basisinitiativen, Umwelt- oder Kulturgruppen wie Wayna Tambo, sowie lokale Führungspersonen der Gemeinden oder Nachbarschaftsorganisationen, die unabhängig von den Vorgaben der Dachverbände handeln. Dazu gehören auch die Aktionsgruppen gegen die Waldbrände. Ich habe den Eindruck, dass viele von ihnen es als ihre Aufgabe in der aktuellen Konjunktur ansehen, die eigene Gemeinschaft zu stärken und Ideen von der Plurinationalität und vom Guten Leben aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig versucht man, Mechanismen der Unterordnung unter den Kapitalismus zu schwächen und die patriarchalen und kolonialen Strukturen zu dekonstruieren. Alle diese Ziele hatte die Bewegung zum Sozialismus aufgegeben. Das Problem ist dabei, dass diese kleinen Basisinitiativen sehr verstreut und wenig untereinander verbunden sind. Und in vielen Fällen sind sie durch gegenseitiges Misstrauen geschwächt. Werden sie wieder zu gemeinsamem Handeln finden?

Die vierte für die Entwicklung relevante Ebene sind die Menschen vor Ort, die nicht organisiert sind, aber aus einfachen Verhältnissen kommen und kulturell einen indigenen Hintergrund haben. In Anlehnung an René Zavaletas Kategorie des national-populären könnte man es die plurinationale Bevölkerung nennen. Was wird aus diesen Leuten, die sich in den letzten Jahren im Diskurs der Regierung wiederfanden und sich mit der MAS in gewisser Weise identifiziert haben? Wird sich das verlieren? Werden sie sich mit der PDC identifizieren, falls sie an die Regierung kommt? Aber auch das ist eine große Unbekannte: Wie die PDC tatsächlich handelt, sollte sie die Regierung übernehmen. Sie ist ja keine richtige Partei. Es sind um die 20 Personen, die keine wichtige Rolle spielen. Und Rodrigo Paz Pereira hat keine eigene organisatorische Basis. Ebenso wenig Edmand Lara. Ob sie dann versuchen, alle zufrieden zu stellen? Das dürfte dann ebenso ein Problem werden. Oder ob dieser Sektor der einfachen Leute nach rechts driftet, so wie in Ecuador oder Argentinien? Danach sieht es derzeit allerdings nicht aus. Auch wenn manches bei Paz Pereira oder Lara auch an Noboa und Bukele erinnert.

Ich habe daher die Hoffnung, dass in der derzeitigen Übergangsphase auf den vier genannten Ebenen die Grundlagen gegeben sind, der rechten Versuchung zu widerstehen. So wie beim Staatsstreich im Jahr 2019, wo es nicht die Führungsfiguren, sondern die einfachen Leute waren, die widerstanden haben. Alles ist zwar noch recht diffus. Aber es ist eine Reserve, die mobilisiert werden kann, wenn sich diese Kräfte artikulieren und zu gemeinsamem emanzipatorischem Handeln kommen, nicht zuletzt dann auch mit den Massenorganisationen und Parteien. Aber das wird sich nach der Stichwahl erst im Laufe der Zeit erweisen, beginnend mit den ersten Regierungsentscheidungen und den Reaktionen darauf.
Siehe auch den Überblicksartikel „Kapitalismus für alle?“ auf der Homepage der Rosa Luxemburg-Stiftung, die Wayna Tambo und das Netzwerk für Vielfalt in Bolivien unterstützt.
 
			
			 
			