vonPeter Strack 06.10.2021

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

Am 30. September endete die öffentliche Zurückhaltung der Europäischen Union gegenüber andauernder Kritik der bolivianischen Regierung. Mit einer Erklärung wies die EU energisch die Anschuldigungen zurück, die der derzeitige bolivianische Präsident Luis Arce Catacora monatelang in Bolivien erhoben und zuletzt vor der UNO Vollversammlung wiederholt hatte: Die EU habe sich an einem Putsch im Jahr 2019 gegen Evo Morales beteiligt. Konkret geht es um Vermittlungsgespräche, die – wie die EU-Sprecherin für Sicherheit und außenpolitische Belange Nabila Massrali – betont, der EU Botschafter damals „auf ausdrückliche Anfrage des Präsidenten Evo Morales“ unter der Leitung der katholischen Kirche ermöglicht habe.

An diesen Gesprächen seien auch die damals regierende MAS und Schlüsselakteure der anderen politischen Parteien beteiligt gewesen. Ziel sei es gewesen, eine Dialogplattform zu schaffen, um die politische Krise in Bolivien zu beenden und künftige Gewalt zu vermeiden. (Hier der Link zur Presseerklärung).

Die öffentliche, knapp gehaltende Reaktion des bolivianischen Außenministeriums auf den EU-Protest war ausweichend: Die kompetenten Stellen würden die Vorgänge untersuchen und die Verantwortung nationaler und internationaler Akteure klären. Dabei verweist das Außenministerium auf den Bericht der GIEI, der von der interamerikanischen Menschenrechtskommission entsandten unabhängigen Untersuchungskommission. Doch dort werden zwar schwere Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten aus der Zeit der Übergangsregierung unter Jeanine Añez dokumentiert, auch die unter Verantwortung der MAS und der vorangegangenen Regierung Morales. Über die Vorwürfe des Wahlbetrugs durch Morales oder Verantwortlichkeiten der Verfassungskrise vor und nach dem Rücktritt von Morales, gar den Putschvorwurf, wird dort jedoch kein Urteil gefällt.

Evo Morales selbst reagierte härter und bezichtigte die Sprecherin der EU per Social Media der Lüge, unter anderem weil das Ziel der Gespräche, Gewalt zu vermeiden, damals nicht erfüllt worden sei. Zu erwähnen ist, dass seine eigenen Minister damals Gewalt angekündigt, die MAS die Vereinbarungen der Gespräche nach seiner Flucht ins Exil ignoriert und seine Anhänger zum Bürgerkrieg aufgerufen hatten.

Stolpersteine auf der internationalen Bühne

Die Erklärung der EU ist nicht der einzige außenpolitische Stolperstein beim Versuch der aktuellen Regierung, den Regimewechsel 2019 als Putsch zu deklarieren und die vorangegangenen Wahlen als sauber darzustellen. Bei der Versammlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unterstützten nur drei (Argentinien, Mexiko und Nicaragua) der 16 anwesenden Delegationen die bolivianische Kritik an der Wahlbeobachtungskommission der OAS und deren Generalsekretär Luis Almagro. Der hatte 2019 gegen den Willen von Evo Morales den Bericht mit den Hinweisen auf gravierende Manipulationen veröffentlicht. Ein Auftragsgutachten für die bolivianische Staatsanwaltschaft bei einem Professor der Universität von Salamanca, die 2021 die Konsistenz der von der Staatsanwaltschaft an die Universität übermittelten Wahldaten bescheinigt hatte, erwies sich bald als von geringer Reichweite im Vergleich zu den vor Ort erhobenen Informationen der OAS.

Auch auf dem Treffen der CELAC, der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und Karibikstaaten, die laut Wunsch der bolivianischen Regierung künftig an Gewicht gewinnen soll, wurde mehr über Nicaragua, Kuba und Venezuela debattiert, als über die Reform oder Auflösung der OAS.

Und noch steht die Antwort der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu den Haftbedingungen Jeanine Añez aus. Gerade wieder wurde die Untersuchungshaft in dem ersten einer Reihe von Verfahren, diesem wegen Aufstand und Terrorismus um 5 Monate verlängert. Abgesehen von der Frage, ob politische Verhandlungen zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien strafrechtlich als Terrorismus und Aufstand gewertet werden können, wird die Beteiligung der Übergangspräsidentin an keiner Stelle der langen Anklageschrift in Zusammenhang mit den inkriminierten Vorgängen überhaupt nur erwähnt. Ihre Freilassung und das Ende politisch motivierter Prozesse gehört inzwischen zum Forderungspaket der Opposition. José Miguel Vivanco, Lateinamerikadirektor von Human Rights Watch bezeichnete es in einem Beitrag unter dem Titel „Justiz als Rache“ als paradox, dass gegen Añez der gleiche Vorwurf erhoben werde, wie zuvor gegen Evo Morales. Beide Verfahren zeigten die Gefahren einer Justiz, die abhängig von der jeweiligen Regierung sei.

Soziale und politische Fragen: Ein schon älteres Wandgemälde in Cochabamba, Foto: Peter Strack

Kontrollversuche und Polarisierung schwächen die Demokratie

Der Versuch, die bolivianische Debatte auf die internationale Bühne zu bekommen, hat vor allem innenpolitische Gründe. Denn im Land nimmt die Unterstützung für die Regierung ab. Vor allem von Bürgerinnen und Bürgern aus der politischen Mitte, die 2020 den Versprechen der Kandidaten Luis Arce und David Choquehuanca vertraut hatten, die Fehler der Morales-Regierung zu korrigieren. Laut einer jüngsten Umfrage für die Tageszeitung Página Siete geht nur ein gutes Drittel der Befragten davon aus, dass Jeanine Añez 2019 durch einen Putsch an die Macht gekommen sei, wie die Regierung und der Staatsanwalt sagen. 62% dagegen sind der Auffassung, dass Evo Morales damals Wahlbetrug begangen habe.
Weil die Justiz erneut zur Verfolgung politischer Gegner, darunter auch zahlreiche gewählte Amtsträger, instrumentalisiert wird, schließen die eigentlich untereinander divergierenden oppositionellen Kreise wieder mehr die Reihen. Zur „Verteidigung der Freiheit und der Demokratie“, wie es heißt, werden erneute Protestaktionen angekündigt. Wieder verstärkt sich die Polarisierung zwischen den politischen Lagern. „Wenn sie den Bürgerkrieg erklären, dann werden wir ihnen entgegentreten“, droht Eber Rojas von der regierungsnahen Kleinbauernorganisation CSUTCB, „bis zu den letzten Konsequenzen“.

“Die armen Leute haben wegen der COVID-Pandemie fast die Hälfte ihrer Einnahmen verloren”, gibt der Oppositionspolitiker und Unternehmer Samuel Doria Medina in einem Video zu bedenken. Mit einem Streik würde man nur der Regierungspartei in die Hand spielen, die die Streikenden als diejenigen brandmarken würden, die den Armen schaden wollten. Jeder Streiktag, warnt seinerseits Justizminister Iván Lima, werde das Land über hundert Millionen Dollar kosten. Ziel der Proteste sei es, die Regierung zu destabilisieren und Straffreiheit für Korruption und Massaker zu erreichen. Auch die MAS kündigt ihrerseits Demonstrationen an, um die eigene „Muskulatur“ zu zeigen.

Partielle Kompromissbereitschaft

Die “Muskulatur” war auch mit einer Gesetzesvorlage zur Bekämpfung der Geldwäsche geschwächt worden. Laut Verteidigungsminister Novillo bräuchten davor nur diejenigen Angst zu haben, die der „de facto“ Regierung unter Añez gedient und sich dort bereichert hätten. Doch auch der Schmuggel und die informellen Händlerinnen und Händler sehen ihre Interessen durch die Vorlage beeinträchtigt. Sie würde der Regierung weitreichende Kompetenzen bringen. Ohne richterlichen Beschluss sollte Überwachung und Konteneinsicht und der direkte Zugriff und auch Beschlagnahmung von Eigentum ermöglicht werden. Da sich eine ähnliche Protestwelle wie 2018 bei der gescheiterten Reform des Strafgesetzbuches abzeichnet, wurde der Vorschlag nun zwecks Konsultationen mit den betroffenen Sektoren erst einmal zurückgezogen.

Demonstration einer der Konfliktparteien um den Koka-Markt von La Paz, Foto: Josué Antonio Casta/ABI

Einen Rückzieher machte auch der Innenminister beim Konflikt über die Kontrolle des Kokamarktes von La Paz. Er hatte die Polizei geschickt, damit eine neue, der MAS nahestehende Gruppierung den eigentlich privaten selbstverwalteten Markt übernehmen konnte. Dass deren Sprecher ausgerechnet aus einer der sogenannten „Roten Zonen“ kommt, wo eigentlich keine Koka angebaut werden darf, hat der Legitimation des einseitigen Eingreifens sicher nicht geholfen. Die Auseinandersetzungen gingen weiter. So zog der Innenminister seine Unterstützung wieder zurück. Darauf eroberte die vom MAS unabhängige Fraktion der Kokabauern der Yungas von La Paz in zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei das Marktgebäude für sich zurück.

Ungelöste Interessenkonflikte verschärfen den Legitimitäts- und Vertrauensverlust

Die Basisorganisationen zu spalten, um sich zumindest öffentliche Legimität zu verschaffen, und den politischen Gefolgsleuten Zugeständnisse zu machen, ist auch die Regierungsstrategie beim Dachverband der Indígena-Organisationen (CIDOB) aus dem Tiefland. Während die autonome Fraktion in einem Protestmarsch über Hunderte Kilometer nach Santa Cruz zog, verhandelte die Regierung mit einer regierungsfreundlichen Parallelorganisation. Die Zusagen, die illegalen Landbesetzungen zu stoppen, entsprechen immerhin auch der Hauptforderung der marschierenden autonomen CIDOB. Ob sie eingehalten werden, bleibt abzuwarten. Ähnliche Versprechungen waren schon Anfang des Jahres gemacht worden. Schließlich sind nicht nur die Interessen krimineller Banden berührt, die sich angesichts der Versäumnisse der Regierung beim Schutz der Landrechte im Tiefland ausgebreitet haben, teilweise gewaltsam in indigene Territorien und Naturschutzgebiete des Tieflandes eindringen und anschließend mit dem Boden spekulieren. Sondern es trifft auch die sich „Interculturales“ nennenden und von der Regierung bei der Neuansiedlung im Tiefland finanziell geförderten Siedlerorganisationen, zu denen auch Evo Morales Kokabauern aus dem Chapare gehören. Morales hatte in seiner Regierungszeit mit der Agroindustrie von Santa Cruz paktiert. Nun kritisierte er den 37-tägigen Marsch der autonomen CIDOB: Er sei von den Interessen von Großgrundbesitzern und Putschisten geleitet und eine Rückkehr zum Feudalismus.

Versammlung der autonomen CIDOB im Verlauf des Protestmarsches,       Foto: CIDOB Orgánica

Die autonome CIDOB wartet derweil auf den aktuellen Präsidenten Luis Arce Catacora, um zu verhandeln. Großes Vertrauen haben ihre Sprecherinnen und Sprecher dabei nicht. Sie wünschen sich deshalb unabhängige Beobachtung und Vermittlung u.a. durch die Europäische Union.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/energischer-protest/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert