Den Tag im Januar diesen Jahres wird Marco Guillén nie vergessen: Mit seinem Team trug der junge peruanische Archäologe, wie jeden Tag, Sandschicht um Sandschicht in der vorinkaischen Tempelanlage „El Paraíso“ ab. Dabei legte er eine Feuerstelle frei, auf der die ersten Siedler Limas für ihre Gottheiten das heilige Feuer instand hielten. Auf bis zu 3000 Jahre vor Christus, also auf 5000 Jahre, datierten die Archäologen den Fund, um 800 Jahre älter als erwartet – eine Sensation in archäologischen Kreisen. Denn bis jetzt kann nur die Ausgrabungsstätte Caral, ein paar hundert Kilometer nördlich von Lima, mit diesem Alter aufwarten.Der erst 33-jährige Guillén hatte mit zwei noch jüngeren Assistenten und den Ausgrabungshelfern mit viel Engagement und wenig Geld einen Fund gemacht, von dem viele Archäologen träumen dürften.
Die meisten Touristen kennen Macchu Picchu und nehmen Lima als notwendigen, aber ungeliebten Zwischenstopp in Kauf, um in die Anden zu reisen. Dabei hat der 8-Millionen-Moloch Lima 500 vorinkaische archäologische Stätten vorzuweisen. „Huaca“ nennt man in Peru die archäologischen Reste nicht nur der Inka, sondern all der Völker vor ihnen, die die Anden und die Pazifikküste Südamerikas besiedelt hatten. Man findet die grauen Sandhügel allenthalben im Stadtgebiet von Lima: neben dem Armenviertel ebenso wie im heutigen Luxusviertel. Oft sind sie nicht mal durch einen Zaun geschützt. Die „Huaca El Paraíso“ ist eine der grössten und unbekanntesten Huacas in Lima. Sie liegt am Ende des Stadtteils San Martín de Porras, vor 50 Jahren am Rande Limas gelegen, heute mitten in der Stadt, an der Grenze zum Hafen-Distrikt Callao.
Grosse Pläne hat Marco Guillén mit der Huaca El Paraíso: Ein Naherholungsziel soll die archäologische Stätte werden, die zudem einigen Menschen im ärmlichen Viertel San Martín de Porras Arbeit gibt. Denn die Huaca El Paraíso wird – im Gegensatz zu anderen Huacas – von einem lokalen Verein instand gehalten und bis heute für rituelle Veransaltungen genutzt. „Hermana Killa“, „Schwester Mond“, nennt sich María Rosales in Anlehnung an ihre indianische Herkunft aus den Anden. Jeden Tag sitzt sie an ihrem Stand vor der Huaca und informiert die wenigen Besucher über die einstigen Traditionen. Sie sieht sich als Erbin ihres Grossvaters, eines Schamanen aus dem nordperuanischen Huaraz. Jedes Jahr zur andinen Sonnwend (Inti Raymi) , organisiert sie zusammen mit dem Verein und Distriktsverwaltung ein Inti Raymi-Fest nach andinem Brauch. (Hier ein Video vom diesjährigen Inti Raymi in der Huaca El Paraíso.)
Es waren die Nachbarn der Huaca El Paraíso, die am 1. Juli nachmittags den Baggern Einhalt geboten, die eine noch nicht ausgegrabene Pyramide zerstört hatten und sich anmachten, die restlichen Erdhügel und damit auch die vorinkaischen Spuren zu beseitigen. Im Auftrag zweier Baufirmen waren die Arbeiter in die geschützte Zone eingedrungen. Im boomenden Lima ist Baugrund rar und die städtischen Beamten sind empfänglich für Bestechungsgelder. Von der Huaca El Paraíso wurden die Baufirmen nur dank der Wachheit der Anwohner vertrieben. Das ist nicht immer so.
Wieviele Huacas in Lima bereits einem Hochhaus zum Opfer gefallen sind? Das weiss niemand genau. Dabei sind die archäologischen Ausgrabungsstätten neben den ausgewiesenen Naturschutzgebieten, die einzigen Zonen im Land, in denen per Gesetz nicht einfach eine Strasse, eine Mine oder ein Bohrloch gebaut werden kann. Jeder, der ein Grossprojekt vorhat, muss sich einen archäologischen Unbedenklichkeitsbescheid vorlegen. Ein Grossteil der peruanischen Archäologen – die auch hier sonst eher zur Gattung arbeitsloser Akademiker zählen – arbeitet für den Staat oder für private Firmen in der Erstellung dieser Gutachten. Das Kultusminsterium prüft sie dann und gibt die Zustimmung oder Ablehnung des Projektes – analog zu den Umweltgutachten. Für die meisten Firmen ist das CIRA (certificado de inexistencia de restos arqueológicos) eine reine Formalität – die ihnen aber zulange dauert. Unter den jüngsten Massnahmen der peruanischen Regierung, um die Investitionen zu fördern, befindet sich auch eine neue Vorgabe für das Kultusministerium: wenn sie innerhalb von 20 Tagen die archäologischen Gutachten nicht geprüft haben, so tritt ihre Gültigkeit automatisch in Kraft.
Während um die Güte und Unparteilichkeit der Umweltgutachten in Peru wenigstens öffentlich debattiert wird, ist die Auslöschung des archäologischen Erbes zugunsten von Strassen, Hochhäusern und Bergbauminen bisher lautlos vor sich gegangen.