vonClaudius Prößer 01.03.2010

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Auf dem Weg zum Supermarkt spricht der intendente im Radio. Der regionale Regierungschef lädt die Bürger von Puerto Montt dazu ein, sich solidarisch mit dem Rest des Landes zu zeigen, der vor exakt 50 Jahren mit der verwüsteten Hafenstadt ebenso solidarisch war. Der intendente hat sich eine griffige Formel ausgedacht: ALP. Das heißt agua, leche, pañales – Wasser, Milch und Windeln. Warum nicht Mehl, Öl oder Zucker gesammelt werden, weiß ich nicht, vielleicht sammeln das andere Städte. Bei „Jumbo“ kaufe ich drei Kilo Milchpulver, fahre auf dem Rückweg bei der Abgabestelle vorbei und bin einer der ersten Spender. Man filmt mich.

Überhaupt: Wer sollte eigentlich spenden, wieviel und warum? Natürlich helfe ich gern, Solidarität ist wichtig. Aber haben die betroffenen Regionen, hat die Zentralregierung keine Lebensmittellager für den Katastrophenfall? Chile ist ja nicht Haiti, in normalen Zeiten ist hier nicht Unterernährung ein verbreitetes Problem, sondern Fettleibigkeit. Und wenn schon die öffentlichen Stellen eine notleidende Bevölkerung nicht zeitnah versorgen können, sollte man nicht zwischenzeitlich die riesigen Warenlager der Supermarktketten konsfiszieren?

Das denken einige in Concepción und anderen vom Beben stark betroffenen Städten auch. In Conce haben sie heute morgen kurzerhand einen „Líder“-Supermarkt geknackt. Zuerst setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein, dann beugte sie sich dem Druck der Masse und ließ die Leute kontrolliert plündern. Ähnlich großformatige Aneignungsversuche in anderen Städten sind bislang gescheitert.

Wenn die sprichwörtliche öffentliche Ordnung durch ein Naturphänomen ausgehebelt wird, wirft das interessante und ethisch komplexe Fragen auf. Kann man eine arme Frau, in deren Wohnsiedlung es kein Wasser und keinen Strom gibt, ernsthaft daran hindern, ein paar Grundnahrungsmittel unbezahlt aus dem Laden zu tragen? Wohl kaum. Dass der Mann, der vor laufenden Fernehkameras einen ori­gi­nal­ver­pack­ten Kühlschrank aus dem Geschäft trägt, nicht vom Über­le­bens­drang geleitet wird, dürfte auch klar sein. Aber wie steht es mit den beiden da, aus deren Einkaufswagen ein kompletter Serrano-Schinken und Spirituosenflaschen ragen? Und was, wenn – wie berichtet – die geplünderten Waren zu Wucherpreisen weiterverkauft werden?

Die Szenen in Concepción uns anderswo erzählen natürlich auch davon, dass Chile kein armes, aber weiterhin ein in Arm und Reich gespaltenes Land ist. Ein Land, in dem andererseits der Konsum so groß geschrieben wird, dass die, die daran unter normalen Bedingungen kaum teilhaben können, jede Chance ergreifen. Heute Mittag hat die Präsidentin erst einmal den Ausnahmezustand über Concepción verhängt – nächtliche Ausgangssperre und Militärpräsenz einbegriffen.

Fotos: La Tercera

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