vonPeter Strack 15.05.2024

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Am Samstag, dem vierten Mai, treffen wir morgens am Eguino Platz im zentralen Marktviertel von La Paz die TAIPYNATs. Taipy ist Aymara und bedeutet Zentrum. NATs wiederum sind die arbeitenden Kinder und Jugendlichen. Die TAIPYNATs sind angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Kinderorganisation handelt, etwas ins Alter gekommen. Am „Tag der Arbeit“ selbst hatte niemand Zeit. Und von den etwa zwanzig Aktiven ist für die Aktion heute nur die sechzehnjährige Ivette Valeria Arratia Mamani gekommen. Sie ist die aktuelle Sprecherin. Begleitet wird sie von ihrem Vorgänger Diego Calancha Ramos, sowie Nadia Mendoza.

Die 22jährige Juristin Nadia hat früher selbst am Eguino-Platz Kleider verkauft und die Organisation arbeitender Kinder geleitet. Nach ihrem zügigen Jurastudium verdient sie heute ihr Geld in der Staatsanwaltschaft. Bevor die geplante Aktion beginnt, begrüßen wir zunächst ihre Mutter, die hier immer noch ihren Verkaufsstand hat. Die Geschäfte gingen nicht besonders gut, erklärt sie. Die Leute hätten nicht mehr so viel Geld zur Verfügung wie früher. Auf ihre Tochter, die die arbeitenden Kinder heute ehrenamtlich unterstützt, ist sie stolz.

Yvette, Sprecherin der TAIPYNATS, auf der Plaza Eguino, Foto: P. Strack

Eine Geste der Anerkennung

Nadia hat einen Rucksack voller Tütchen mit Fruchtsaft und Snacks mitgebracht. Die verteilt sie anschließend mit Ivette und Diego auf dem Weg zum Prado, der zentralen Allee der Andenmetropole, an arbeitende Kinder und Jugendliche. Dies mit dem Hinweis auf den 1. Mai und die Organisation. Bezahlt wurden diese und weitere Aktionen zum 1. Mai in anderen bolivianischen Städten mit einer Spende der Besucher*innen der Menschenrechtstage in Nürnberg sowie von Studierenden der dortigen Technischen Hochschule Georg Simon Ohm. Die hatten dafür am letzten Christkindlesmarkt Glühwein verkauft. Und eine ehemalige Sozialarbeitsstudentin aus Nürnberg ist an diesem 4. Mai sogar zu Besuch, als die Snacks und Erfrischungen verteilt wurden. Als ehemaliges arbeitendes Kind weiß Nadia von der Bedeutung solcher kleinen Gesten der Anerkennung. Der Bildungseffekt dieses Teils der Aktion dürfte dagegen begrenzt gewesen sein. Und es ist wenig wahrscheinlich, dass sich die Beschenkten dadurch für eine aktive Mitarbeit in der Organisation interessieren lassen. Denn die verfügt derzeit über wenig Möglichkeiten, die Situation arbeitender Kinder zu verbessern, ihnen bei ihren Alltagsproblemen zu helfen, oder Fortbildungsangebote zu machen. So wie früher, als Nichtregierungsorganisationen dies noch finanziert haben.

Beim Verteilen der Snacks an der Plaza San Francisco, Foto: P. Strack

Videobotschaften zum Tag der Arbeit

Doch das eigentliche Anliegen heute ist die Produktion von Videobotschaften zum 1. Mai. Das ist eigentlich ein Datum, an dem die bolivianische Regierung in den vergangenen Jahrzehnten wegweisende Entscheidungen bekannt gegeben hat. Etwa die Verstaatlichung von Telefon- oder Stromversorgungsunternehmen. Im Vorfeld warnte der oppositionelle Senator Rodrigo Paz von Plänen der Regierung, per Dekret die Kontrolle über die Internetkommunikation zu übernehmen. Eine Meldung, die von der Regierung nicht dementiert wurde. Trotzdem blieb es diesmal bei der Anordnung einer Erhöhung von 5,85% beim gesetzlichen Mindestlohn auf 2500 Bolivianos (umgerechnet etwa 330 Euro) monatlich, und von 3 Prozent Aufschlag auf die darüber liegenden Grundgehälter. So hatte es die Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband vereinbart. Die Unternehmensverbände waren wie üblich nicht an den Verhandlungen beteiligt. Und trotz deren Klagen handelt es sich eher um einen mageren Zuwachs. Bestenfalls kann die Erhöhung die offizielle Inflationsrate ausgleichen. Und nicht nur der Ökonom Gonzalo Chávez von der Katholischen Universität fragt sich jedoch, ob die Zahlen vom Statistikinstitut schöngerechnet wurde.

Ohnehin kommen nur maximal 15% der Erwerbstätigen in den Genuss der Gehaltserhöhung. Es sind diejenigen, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder zumindest einen Arbeitsvertrag haben. Laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO hat Bolivien den höchsten Anteil der informell Beschäftigten in Süd- und Mittelamerika. Er liegt weit über dem Durchschnitt von 54% in der Region. Und statt sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu fördern, hat die Arbeitsmarktpolitik der letzten beiden Jahrzehnte mit der Privilegierung informeller Arbeitsverhältnisse noch zu deren Zunahme beigetragen.

Nadia nimmt Yvettes Videobotschaft auf, Foto: P. Strack

Der gesetzliche Mindestlohn ist für die meisten arbeitenden Kinder nicht relevant

Die Frage der TAIPYNATs bei ihren Interviews für die Videobotschaften zum 1. Mai ist, was die staatlich angeordnete Gehaltserhöhung für die arbeitenden Kinder bedeutet. Ivette kann sie sich eigentlich selbst beantworten: Neben der Schule und gelegentlichen Aushilfen in einer Bibliothek und einem Restaurant an den Wochenenden, arbeitet sie vor allem in einem Copyshop. „Die Gehaltserhöhung reicht nicht aus,“ meint Ivette. „Die, die ohnehin Geld haben, werden noch reicher. Stell dir eine fünfköpfige Familie mit 2500 Bolivianos im Monat vor. Da sind Überstunden nötig und dass alle mitarbeiten. Ich bekomme für meine Arbeit im Copyshop nicht einmal den Mindestlohn, sondern maximal 400 Bolivianos im Monat. Und das für eine 32-Stunden-Woche.“

Immerhin ist nicht ständig Betrieb im Copyshop und so kann sie dort während der Arbeitszeit ihre Schulaufgaben erledigen und lernen. Auf die Frage, warum sie ihren Arbeitgeber nicht angezeigt habe, antwortet Ivette, auf diese Idee wäre sie noch nicht gekommen. Sie werde ja von ihren Eltern mitversorgt und verdiene nur Geld, um es zu sparen. Ihr Ziel ist es, damit einmal in Spanien studieren zu können. Bei dem geringen Gehalt ist es allerdings kein Wunder, dass sie erst 2500 Bolivianos angespart hat, einen gesetzlichen Mindestmonatslohn. Einen Arbeitsvertrag, mit dem sie zur Arbeitsbehörde gehen könne, hat sie auch nicht. Es gibt nur eine mündliche Vereinbarung. Und wenn sie sich beschweren würde, dürfte sich ihr Arbeitgeber jemand anderen suchen.

Wenig Unterstützung von staatlichen Stellen

Ich frage Ivette, welche Unterstützung arbeitende Kinder vom städtischen Kinderrechtsbüro bekommen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern oder Ausbeutung zu verhindern. „Die machen nicht viel“, antwortet sie. „Eigentlich verbieten sie uns nur die Arbeit. Sie sagen, unsere Eltern hätten für unseren Unterhalt zu sorgen, statt die Bedingungen festzulegen, unter denen Kinder Geld verdienen können. Sie kümmern sich einfach nicht drum. Die meisten Kinder arbeiten als Schuhputzer, verkaufen Süßigkeiten oder leisten kleine Dienste und verdienen kaum etwas dabei. Vielleicht 20 Bolivianos am Tag für das Essen. Nur wenige arbeiten in Restaurants oder Geschäften. Ich wollte hier in der Nähe in einem Kleiderladen als Verkäuferin arbeiten. Ich könnte an den Wochenende kommen, sagte ich der Besitzern. Das nützt mir nichts, antwortete die, wenn du nur Teilzeit arbeitest. Du bist noch minderjährig und benötigst die Genehmigung deiner Eltern. Die habe ich, antwortete ich. Die müssten aber selbst kommen, forderte die Frau. Aber meine Eltern arbeiten beide bis spät und haben dafür keine Zeit.“

Heute geht es nicht zu Verhandlungen ins Justizministerium (rot-ocker im Hintergrund), Foto: P. Strack

Vor zwei Jahren gab es ein nationales Treffen der organisierten arbeitenden Kinder. Thema war ein „Nationales Programm zur Vorbeugung und zum Schutz arbeitender Kinder“. Gekommen waren auch das Arbeitsministerium, das Erziehungsministerium und das für Sozialpolitik zuständige Justizministerium, berichtet Nadia. Das Problem sei gewesen, dass sie über keine Information verfügt hätten, mit welchem Etat man die Vorschläge würde umsetzen können. „Dabei verpflichtet das Kinder- und Jugendgesetz den Staat zu einem solchen Programm. 2022 hatte die Organisation arbeitender Kinder auf Bitten der Ombudsstelle eine Bilanz zur Situation und zur Arbeit der kommunalen Kinderrechtsbüros vorgelegt. Für uns war das ein interessanter Prozess, weil wir dort voll eingebunden waren. Doch dann wurden die Verantwortlichen ausgetauscht. Es ergaben sich keine weiteren Aktionen der Ministerien. Früher gab es wenigstens ein Stipendienprogramm für Kinder aus der Organisation,“ erinnert sich Nadia (siehe diesen früheren Beitrag auf Latinorama).

Personalwechsel bremst die Umsetzung von Vereinbarungen

Das erlaubte es einigen wenigen Sprecherinnen und Sprechern, sich mehr der Organisation und Vertretung der arbeitenden Kinder zu widmen. „Im letzten Jahr haben wir das Thema in einer Sitzung mit dem Vizeministerium für Chancengleichheit dann erneut aufgegriffen. Es wird jetzt von der früheren Ombudsfrau Nadia Cruz als Vizeministerin geleitet“, begründet Mendoza die Hoffnung, dass der mit Cruz als Ombudsfrau begonnene Prozess fortgeführt werden könnte. „Aber sie bekommt wohl nicht die Möglichkeit dazu.“ Das Vizeministerium ist auch für den Plurinationalen Rat der Kinder und Jugendlichen zuständig. Der soll laut Gesetz deren Beteiligung an der Sozialpolitik und die Interessenvertretung ermöglichen. „Im Dezember wurde in Cochabamba sogar ein arbeitendes Mädchen in den Plurinationalen Rat der Kinder und Jugendlichen gewählt. Aber das Thema der arbeitenden Kinder wurde dort nicht behandelt. Und jetzt ist bereits wieder Mai.“

Jetzt ist Diego an der Reihe, Foto: P. Strack

Auch Diego Calancha hält den ständigen Personalwechsel in den öffentlichen Institutionen für einen Grund, dass den Plänen und Versprechen so selten Taten folgen. Man müsse immer wieder neu anfangen, die Anliegen zu erklären. Bei der Organisation der arbeitenden Kinder wäre das anders. Sie würden keine Posten verwalten, sondern hätten ein Ziel, für das sie sich einsetzen.

Die gesetzliche Gehaltssteigerung bringt den Kindern höhere Preise

Und was bringt ihnen die am 1. Mai angeordnete Gehaltserhöhung? „Sie wird zu Preissteigerungen führen“, meint Diego. „Die Kinder und ihre Familien, die im informellen Sektor von der Hand in den Mund leben und keine Gehaltserhöhung bekommen, werden für ihr Essen mehr bezahlen müssen.“ Die Busfahrer haben inzwischen angekündigt, ihre Preise anpassen zu wollen. Und wenn dies die Busfahrer täten, wollen auch die Bäckereien nachziehen. Doch dem steht sowohl beim öffentlichen Transport als auch beim Brot noch die staatliche Regulierung der Preise entgegen.

Auch der Besuch aus Nürnberg wird von Diego zum Thema befragt, Foto: P.Strack

Sie kämen vom Regen in die Traufe, meint auch Ivette. „Wir bekommen ja nicht einmal das Mindestgehalt ausgezahlt. Wir nutzen unsere freie Zeit, um eine würdige Arbeit mit einem gerechten Lohn zu bekommen, bei der wir respektiert werden und nicht über die Zeit hinaus arbeiten müssen. Man sagt uns aber, dass wir das nicht können, weil wir noch Kinder sind. Wir brauchen aber dieses Geld, und sei es nur, damit unsere Eltern nicht so hart arbeiten müssen. Deshalb ist meine Botschaft für den 1. Mai an die arbeitenden Kinder, dass wir uns nicht kleinkriegen lassen dürfen und weiter kämpfen müssen.“

Mehr als Pläne und Versprechen?

Das sagt Ivette dann auch in dem Videoclip, den Nadia aufnimmt, als sie vor dem Hauptgebäude der staatlichen Universität San Andrés angekommen sind, an der nach Nadia inzwischen auch Diego studiert. Im Hinterhof nach  weiteren Interviews mit Studierenden und dem Besuch aus Nürnberg kommen wir an einem Wandgemälde vorbei, das aus Anlass eines internationalen Kongresses zur Kinderarbeit in La Paz im Jahr 2017 gestaltet wurde (siehe hierzu auch den früheren Beitrag auf Latinorama).

Nicht alleine: Diego, Ivette und Nadia vor dem Wandgemälde, Foto: P. Strack

Das Gemälde vereint graphische Vorlagen von arbeitenden Kindern aus Afrika, Asien und Lateinamerika und gibt Ivette, Nadia und Diego – obwohl heute nur zu dritt – das Gefühl, dass sie nicht alleine sind. Die kommende Woche haben sie einen Termin mit Lokalpolitiker*innen, erzählt Nadia beim Verabschieden. Die wollen von ihnen wissen, was für arbeitende Kinder getan werden kann. Hoffentlich ergibt sich daraus irgendwann mehr als nur neue Pläne und Ankündigungen.

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