vonPeter Strack 31.03.2023

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Der vorsichtige Optimismus von Aktivistinnen und Aktivisten über den Friedensprozess und die von Präsident Gustavo Petro angeführten Reformen im heutigen Kolumbien scheint ansteckend (siehe diesen vorherigen Beitrag auf latinorama). Doch in vielen Vierteln der großen Städte haben bewaffnete Banden nach wie vor das Sagen. Und vor allem in abgelegenen Regionen hat sich an der Konfliktdynamik noch nicht viel geändert. So brennt auch das Problem der Rekrutierung von Kindersoldaten immer noch auf den Nägeln. Zu den Konfliktregionen gehört auch die Guajira, eine wüstenartige Halbinsel im Norden an der Karibikküste und Grenze zu Venezuela. Seit Anfang 2022 arbeitet die auf psychosoziale Arbeit mit Kriegsopfern spezialisierte Nichtregierungsorganisation Taller de Vida (siehe auch diesen früheren Beitrag auf latinorama) dort mit Mädchen und ihren Familien. Viele von ihnen sind aus Venezuela in die Region gekommen und stehen nun nicht nur wirtschaftlich an der untersten Stufe, sondern sind in permanenter Gefahr, von bewaffneten Gruppen missbraucht zu werden.

Foto: Taller de Vida

Hinzu kommen Umweltkonflikte wie der Abbau von Kohle durch den Schweizer Glencore-Konzern, die auch nach Deutschland exportiert wird. Die seelische Gesundheit, sagt die Psychologin Stella Duque hänge in der Guajira eng mit den Umweltbedingungen und der Kontrolle des Territoriums zusammen. Im Dezember sprachen wir mit der Leiterin von Taller de Vida über ihre Erfahrungen und Möglichkeiten.

Stella Duque, Foto: P.Strack

Wo setzt die Arbeit von Taller de Vida an?

Mit dem Projekt Enraizarte (Sich verwurzeln) versuchen wir – so wie in anderen Regionen zuvor schon – das traditionelle Heilungswissen in diesem Fall der Wuayúu-Kultur zurückzugewinnen und die Folgen des Bergbaus und des Wassermangels in der Region sichtbar zu machen. Es gibt viel Armut in den Dörfern, sogar Hunger.

Im Projekt „Luciérnaga“ (Glühwürmchen) geht es um den Schutz von Frauen und Mädchen, die aus Venezuela nach Kolumbien migriert sind und unter sehr schwierigen Bedingungen in Behelfssiedlungen leben. Wie erfahren Mädchen ihre Entwicklung, etwa die erste Menstruation, wenn es im Haus nicht einmal ein Bad gibt? Es gibt auch ein großes Problem mit sexualisierter Gewalt. Um dem vorzubeugen helfen wir ihnen mit Fotogeschichten, Bildern und anderem, ihre Empfindungen auszudrücken und ihren eigenen Willen zu stärken.

Der Wassermangel ist in der Wüstenregion der Guajira historisch, aber der Kohlebergbau hat mit ausländischen Investitionen zu tun.

Dabei hat es in diesem Jahr wegen dem Klimawandel in der Guajira sogar viel geregnet. Aber wenn es regnet, dann in Sturzbächen und alles wird überschwemmt. Die Erde ist so hart, dass sie das ganze Wasser nicht aufnehmen kann. Und die Häuser sind auch nicht für Regen gebaut.

Die Häuser sind nicht für starke Regenfälle gebaut, Foto: Taller de Vida

Es ist paradox, wie viel Geld das Land durch den Bergbau in der Guajira einnimmt und unter welchen Bedingungen die Menschen leben müssen. Der Bergbau hat die Flüsse abgegraben. Und an dem letzten Fluss, der geblieben ist, führt die Eisenbahnstrecke vorbei und verschmutzt alles. Viele Gemeinden sind zwar recht gut organisiert, aber es gibt auch viel Korruption. Für die Nahrungsmittelprogramme der Regierung werden Organisationen ausgewählt, die politische Beziehungen haben, auch wenn sie von der Sache nichts verstehen. Wenn sich das mit der neuen Regierung nicht ändert, werden Kinder in der Guajira weiter sterben.

„Nichts für den Krieg“, Einladung zum Red Hand Day, dem Aktionstag gegen den Einsatz von Kindersoldaten, Foto: Taller de Vida

Taller de Vida ist Mitglied in der kolumbianischen Koalition gegen die Rekrutierung von unter 18jährigen. Nun gibt es allenthalben Friedensverhandlungen mit den bewaffneten Akteuren. Welche Rolle spielt das Thema der Kindersoldaten noch?

Derzeit arbeiten sieben Organisationen in der Koalition mit: Benposta, das Jesuitische Flüchtlingshilfswerk, die Corporación Vínculos, die Stiftung Creciendo Unidos… und wir auch. Und tatsächlich unterstützen wir den Friedensprozess. Ein wichtiger Punkt ist die Begleitung der Familien bei der Suche nach ihren zwangsrekrutierten Kindern, die verschwunden sind. Und es gibt immer noch massiv Rekrutierungen durch neu aufkommende bewaffnete Gruppen, durch Banden oder die Dissidenten der Organisationen, die demobilisiert wurden.

Während der COVID-Pandemie hatte die Rekrutierung von Kindern sogar noch zugenommen. Und im Cauca und im Nariño, wurden Jugendliche massakriert, die sich der Kontrolle der bewaffneten Gruppen entziehen wollten. Wir hatten jüngst ein Treffen, auf dem wir Vorschläge für den Friedensbeauftragten der Regierung erarbeitet haben. Denn bei den Verhandlungen mit dem ELN (Ejercito de Liberación Nacional, Guerrilla) muss auch die Übergabe der Kinder und ihre Reintegration geklärt werden.

Die Friedensverhandlungen zielen auf die Reduzierung der Gewalt. Wie ist die Sicherheitslage in der Guajira?

Man muss bedenken, dass die vorherigen Regierungen und zuletzt die unter Präsident Iván Duque nicht auf den Friedensprozess gesetzt haben. Im Gegenteil: Dem Prozess der Wahrheitsfindung, Wiedergutmachung und Vorbeugung wurden viele Hindernisse in den Weg gelegt.

Die Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez ist noch neu und dabei, Mechanismen aufzubauen. Vor den Tribunalen der Übergangsjustiz sind jüngst Offiziere aufgetreten, die berichtet haben, wie man im Cesár und in der Guajira Menschen hat verschwinden lassen. Man traut sich gerade erst darüber zu reden. Ähnlich war es mit der Wahrheitskommission.

So ist nach 60 Jahren des bewaffneten Konflikts die Situation vor Ort in den Gemeinden immer noch kritisch. In der Guajira werden die Migrant*innen für den Krieg ausgenutzt, etwa die venezolanischen Kinder, die ohne Dokumente kommen. Sie werden auch für den Drogenhandel und andere illegale Arbeiten benutzt. Noch vor der Grenzöffnung setzten Lastwagenfahrer sie ein, um Bestechungsgelder an die Polizei zu übergeben und durchgelassen zu werden. Für die Kinder geht es um das Überleben. Aber mit welchen Werten wachsen sie auf, wenn sie von illegalen Geschäften leben oder gar ihre Körper verkaufen?! Andere transportieren Wasser mit Eseln.

Vor allem venezolanische Kinder verkaufen heute Wasser oder sammeln Müll, Foto: Taller de Vida

Letzteres hat es schon früher gegeben…

Aber heute sind es vor allem die venezolanischen Kinder, die Wasser verkaufen und Müll sammeln. Sie kommen aus einem Lager in der Nähe einer Beratungsstelle der Regierung, die bislang von dem Hochkommisariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) finanziert und koordiniert wurde. Die helfen ihnen dabei, Papiere zu bekommen oder eine Schule besuchen zu können. Aber von irgendetwas müssen die Kinder auch leben.

Gustavo Petro hat die Losung des „Totalen Friedens“ ausgegeben. Das scheint mir sehr hoch gegriffen. Ein „großer Frieden“, wie es der Pater Fransico Roux von der Wahrheitskommission genannt hat, wäre vielleicht der passendere Begriff.

Was kann Taller de Vida in diesem Umfeld erreichen?

Wir selbst kommen nur punktuell in die Guajira und sind auch erst ein Jahr dort. Ähnlich wie vorher in Risaralda und im Chocó haben wir Lehrpersonen in Methoden der psychosozialen Unterstützung fortgebildet. Wir arbeiten auch direkt mit den Mädchen, damit sie gestärkt werden und ihr Leben besser in die eigene Hand nehmen können. Sie waren es auch, die alleine Aktivitäten zu Weihnachten und zum Jahresabschluss organisiert haben. Sie haben Mahlzeiten gekocht und verteilt.

„Ich bin glücklich und spiele gern“, Selbstporträt eines 13jährigen venezolanischen Flüchtlingsmädchens, Foto: Taller de Vida

Der Projektname „Glühwürmchen“ bedeutet, dass diese Jugendlichen ihr eigenes Licht ausstrahlen, um sich und ihre Körper zu schützen. Sie werden aber auch aktiv, wenn ein anderes Mädchen sexualisierte Gewalt erlebt oder geschlagen wird und bauen vertrauliche Beziehungen zu dem Beratungszentrum auf.

Lassen die Banden und bewaffneten Gruppen, die an der Grenze zu Venezuela operieren, diese Arbeit zu?

Wir arbeiten unauffällig, aber wir haben die Jugendlichen auch in einem Frühwarnsystem geschult. Das ermöglicht eine enge Begleitung. Wenn Fremde in die Gemeinde kommen, die über 3600 Familien zählt, können sie schnell identifiziert werden. Die Mädchen wissen, an wen sie sich im Notfall wenden können. Dafür wurde ein Netzwerk von Ansprechpersonen und Institutionen aufgebaut. Und wir vertrauen darauf, dass diese Institutionen mit der neuen Regierung auch besser arbeiten.

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