Am 1. Mai gab es ungewohnt milde Töne von Boliviens Ex-Präsidenten Evo Morales: „Verlasst mich nicht“, appellierte der Chef der Regierungspartei MAS in seinem Haus-Sender „Kawsachun Coca“ an das bolivianische Volk, „So, wie ich euch nicht verlassen werde.“ Anders als im Vorjahr war Morales zu Hause geblieben und stand nicht mit Präsident Luis Arce auf der Bühne beim offiziellen Aufmarsch zum Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter. Morales benannte diesmal aus dem Chapare die sogenannte Nationalisierung der Erdgas- und Erdölproduktion 2006 zu Beginn seiner Regierungszeit als „wichtigstes Ereignis des 21. Jahrhunderts“. Seine abnehmende politische Bedeutung kann das nicht bremsen.
Die „Nationalisierung“ war mehr eine medial inszenierte kurzzeitige militärische Besetzung der Raffinerien ausländischer Konzerne in Bolivien, um die neuen Machtverhältnisse zu demonstrieren und so die Bereitschaft der Konzerne zu erhöhen, die Konditionen neu zu verhandeln. Dabei wurde auch die Rolle des zuvor marginalen bolivianischen Staatsunternehmens YPFB in der Zusammenarbeit gestärkt.
Eine Nationalisierung im eigentlichen Sinne war die Maßnahme nicht, trotzdem erfolgreich. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür waren bereits im Jahr 2005 unter der Übergangsregierung von Carlos Mesa geschaffen worden. Evo Morales und den sozialen Organisationen ging das Gesetz damals nicht weit genug. Die Erdölkonzerne wiederum hatten mit Rückzug oder Investitionsboykott gedroht. Carlos Mesa wurde zum Rücktritt gezwungen. Doch kaum ein Jahr später an jenem 1. Mai 2006 mit dem inzwischen zum Präsidenten gewählten Evo Morales war es dann doch soweit. Die internationale Nachfrage nach Rohstoffen war damals hoch. Die Preise stiegen. Die Konzerne blieben und verzichteten bei nach wie vor guten Gewinnaussichten auf Klagen vor internationalen Schiedsgerichten. Fortan zahlten sie prozentual fast das Dreifache der früheren Abgaben und füllten damit die Staatskassen. Mit dem zusätzlichen Geld konnte die Morales-Regierung Schulen und Straßen bauen lassen, die Renten erhöhen und zusätzliche Sozialleistungen wie den Bono Juancito Pinto einführen, eine finanzielle Belohnung für alle Kinder an staatlichen Schulen, die ihr Schuljahr beenden.
Nach dem Rohstoffboom
Allein die Folgeinvestitionen der Konzerne ließen mit den Jahren zu wünschen übrig. Hinzu kam der Protest indigener Gemeinden, die das politische Versprechen des „ersten indigenen Präsidenten Boliviens“ von einem Guten Leben in Harmonie mit der Natur einforderten und sich gegen Erdgasförderung in Naturschutzgebieten und ihren Territorien wehrten. Seitdem sind die Gasreserven deutlich gesunken. Heute hat Bolivien Schwierigkeiten, seinen vertraglichen Lieferpflichten gegenüber Brasilien und Argentinien nachzukommen. Das Energiegesetz von 2005 sei nicht mehr zeitgemäß hieß es jüngst aus Regierungskreisen. Was freilich nicht heißt, das man nun die radikalen Forderungen derer umsetzen will, die damals unter der Führung von Evo Morales das Parlament eingekesselt hatten, um Präsident Mesa zum Rücktritt zu zwingen.
Die Regierungsbeschlüsse an diesem 1. Mai 2022 waren ohnehin weniger weitreichend. Eine Erhöhung des Mindestlohnes um 4%, der sonstigen Löhne um 3%, sowie eine Flexibilisierung der Urlaubsregelungen und der Freistellung für Gewerkschaftsarbeit mit 100prozentiger Lohnfortzahlung.
All das hatte die Regierung mit den Gewerkschaften ohne Beteiligung der Unternehmensverbände ausgehandelt. Schon im Vorfeld hatten diese gemahnt, die wirtschaftliche Entwicklung gäbe solche Erhöhungen nicht her. Es werde zu Entlassungen kommen. Präsident Arce erwiderte, dies seien die ewigen Klagen der Unternehmerschaft und unbegegründet.
Allerdings macht die Regierung einen Unterschied: Für den Privatsektor sind die beschlossenen Lohnerhöhungen eine Mindestgröße. Höhere Lohnsteigerungen könnten verhandelt werden. Eine eher theoretische Möglichkeit. Im staatlichen Sektor jedoch gilt die Erhöhung zunächst nur für medizinisches Personal und Lehrerschaft. Für das Personal von Polizei, Militär und den Ministerien werde es keine Lohnerhöhungen geben. Und in den Staatsunternehmen solle dies von der Rentabilität abhängen. Ein Gutteil arbeitet mit Verlusten.
Unterschiedliche Arbeitsgesetze für den privaten und den staatlichen Sektor
Die meisten Beschäftigten in Bolivien profitieren von den Lohnerhöhungen ohnehin nicht. 2006, als Evo Morales die Regierung übernahm, waren bereits etwas mehr als 60% der Beschäftigten selbständig und das heißt zumeist im informellen Sektor tätig.
Heute sind es mehr als 80%, die keinen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz haben. Die mit 5,9% vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquote ist da relativ. Um möglichen Entlassungen vorzubeugen ist derzeit ein Gesetz in Vorbereitung, dass Unternehmen bei ungerechtfertigten Entlassungen zur Wiedereinstellung zwingen soll. Was ungerechtfertigt ist, darüber sollen künftig keine Gerichte mehr entscheiden, sondern die Arbeitsbehörde. Aber auch so wurde jüngst der Manager eines kanadischen Bergbauunternehmens zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil er dem Richterspruch einer Wiedereinstellung nicht gefolgt war. Entlassungen waren während der Corona-Pandemie nicht erlaubt. Er habe das Unternehmen vor dem Bankrott bewahren wollen, führte der Manager an. Da zu dem Zeitpunkt kein Bergbau möglich war, habe er über 80 Bergarbeiter entlassen müssen. Nur 31 blieben für neue Explorationsarbeiten sowie die Wartung des Machinenparks. Die Staatsanwältin habe ihm nicht einmal die Chance gegeben, die Gründe darzulegen, beklagt der Manager.
Die immer wiederkehrenden Entlassungen beim bolivianischen Staat oder Staatsunternehmen können bei den Gerichten auf mehr Verständnis rechnen. Auch die Praxis von jeweils drei Monate oder sogar kürzer laufenden Kettenarbeitsverträgen ist anders als bei Privatunternehmen beim Staat möglich. So ist immer ein Druckmittel da, um Mitgliedschaftsgebühren an die Regierungspartei einzufordern oder das Personal zu Parteiveranstaltungen oder Wahlkampftätigkeit zu verpflichten.
Spannungen in der Regierungspartei
Bei alldem konnte Luis Arce in den letzten Monaten seine Zustimmungsraten im Lande erhöhen, während der Einfluss von Morales in der Regierung, aber auch in Teilen seiner Partei schwindet.
Immerhin marschierten die nach den Parteifarben benannten „Blauen Krieger“ am gestrigen ersten Mai noch mit dem Konterfei des abwesenden Morales auf der Schirmmütze. Dabei riefen sie allerdings „Lucho, du bist nicht alleine… carajo“. Doch seit Jahresbeginn mehren sich Anzeichen für einen Machtkampf in der MAS, bei dem Luis „Lucho“ Arce seine Position gegenüber Evo Morales stärkt, der ihn 2020 aufs Schild gehoben hatte. Die ultimativen Forderungen von Evo Morales, etwa den Innen- und den Justizminister abzusetzen, waren zum Jahresbeginn noch von der Kleinbauernorganisation CSUTCB, dem Landfrauenverband Bartolina Sisa, dem Gewerkschaftsdachverband COB und dem Verband der Siedler*innen unterstützt worden. Arce war der Forderung damals ebensowenig gefolgt wie zuletzt, als sie praktisch nur noch aus der Kokaanbauregion des Chapare und von Evo nahestenden Abgeordneten des Parlaments vorgebracht wurden.
Zu einem jüngst vom „Pakt der Einheit“ der sozialen Basisorganisationen der MAS einberufenen Treffen mit Präsident Arce und Vizepräsident Choquehuanca, den sichtbaren Köpfen der unterschiedlichen Richtungen im MAS, war Evo Morales gar nicht erst gekommen. Es gebe keine Spaltung, über die es nötig sei zu reden, begründete Morales sein Nichterscheinen. Die angebliche Spaltung sei eine Erfindung von Enttäuschten, von der Rechten und ihrer Medien. Die MAS sei immer noch geeint. Vermutlich war ein Grund des Nichterscheinens auch, dass Präsident Arce und Vizepräsident Choquehuanca sich drei Tage vorher bereits ohne Morales mit dem „Pakt der Einheit“ getroffen hatten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Parteiausschluss bei Kritik
Kurz vorher war der MAS Abgeordnete aus Santa Cruz Rolando Cuellar wegen seiner Forderungen nach Erneuerung der Führungspositionen noch aus der Partei ausgeschlossen worden. Man werde ihn nicht so bald los, antwortete Cuella, um kurz darauf ein Foto von ihm mit der Parlamentsfraktion bei einem Treffen mit Luis Arce zu posten. Vizeministerin Angelica Ponce bekommt Todesdrohungen, seitdem sie Evo Morales Frauenfeindlichkeit vorgeworfen und Neuwahlen im MAS gefordert hat. Und Evo Morales selbst ist zuletzt immer wieder mit Vorwürfen an die Presse getreten, dass an einigen Stellen der Regierung „Pititas“ am Werk seien, sprich Mitglieder der Bewegung, die ihn 2019 mit ihren Straßenblockaden mit „Pititas“, eben Bändchen, schließlich zum Rücktritt gezwungen hatten. Im Innenministerium tausche man sich mit der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA aus, die ihm und der Kokabauernbewegung schaden wolle.
Anfang April veröffentlichte er Telefonmitschnitte, in denen Polizisten der Drogenpolizei von ihren Vorgesetzten aufgefordert wurden, die Intervention eines Drogenlabors mitten im Chapare zu stoppen und das Gelände zu verlassen. Das sei der Beweis, so Morales damals, dass die Drogenpolizei und das Innenministerium die Kokainproduktion decken würden. Was als Angriff auf den Innenminister gedacht war, erwies sich als Bumerang. Denn einer der Anrufer war der ihm selbst nahestehende Vizeminister für Drogen, der aus der Kokabauernorganisation der Cochabambiner Tropen kommt.
Skandale, die Regierung wie Partei schaden
Kurz nach der Veröffentlichung wurde das vermeintliche Drogenlabor medienwirksam in Anwesenheit des Innenminister ausgehoben. Die Überraschung war groß, als der Polizist, der die Anrufe erhalten und wohl auch weitergegeben hatte, mitteilte, das ausgehobene Drogenlabor sei nicht dasjenige, an dessen Zerstörung er gehindert worden war. Inzwischen verbreitet Innenminister Castillo auch die These, dass die Aufnahmen der Anrufe möglicherweise gefälscht oder manipuliert worden seien. Polizeiobere wurden des Amtes enthoben, Strafverfahren eröffnet, von denen schnell die Presse ausgeschlossen wurde. Die Strategie scheint, Verwirrung zu stiften, einen Skandal durch den nächsten vergessen zu machen und darauf zu hoffen, dass alles am Ende im Sande verläuft.
Was bei all dem nicht mehr zu leugnen ist: Dass die Drogenbekämpfung im Argen liegt und im Chapare Kokain produziert wird. Das war Wochen vorher von den Sprechern der Kokabauernorganisation noch bestritten worden (latinorama berichtete). Und manches spricht dafür, dass es bei den Auseinandersetzungen innerhalb der MAS nicht nur um die politischen Strategien oder innerparteiliche Demokratie geht, sondern um wirtschaftliche Interessen. So wie die der in Bolivien konkurrierenden Mafiaorganisationen aus Brasilien oder Mexiko, die die Regierungspartei und den bolivianischen Staatsapparat infiltriert haben und für ihre illegalen Zwecke zu nutzen und zu manipulieren versuchen.
Weniger Zugriff auf Ressourcen – weniger politischer Einfluss
Mit dem schwindenden Zugriff auf Ressourcen und Entscheidungen, verringert sich auch Evo Morales Einfluss. Selbst in seiner Hochburg, den Cochabambiner Tropen schwindet die Begeisterung für ihren historischen Anführer. Die von seiner Regierung verantwortete Ausweitung der legalen Anbauflächen für Koka sowie die in großen Mengen geschmuggelten Kokablätter aus Peru haben die Preis deutlich sinken lassen. Ein Tagelöhner bei der Koka-Ernte im Chapare verdient heute nicht mehr als ein Tagelöhner in der Stadt Cochabamba.
Und wegen des Widerstands der indigenen Tieflandgemeinden ist auch die Landvergabe an Siedler und Kleinbauern in den indigenen Territorien und Naturschutzgebieten etwas ins Stocken geraten.
Dort kommt es nun sogar häufiger zu gewaltsamen Konflikten zwischen Siedlern und der Kleinbauernorganisation CSUTCB um das Land. Beide gehören zur politischen Basis von Evo Morales. Und bei den Stellen im Staatsapparat hat die derzeitige Regierung den ersten Zugriff.
Zwar hat das Wahlgericht die MAS jüngst zu den gesetzlich vorgeschriebenen und lange überfälligen internen Neuwahlen gezwungen, doch noch ist Evo Morales innerparteilich immer noch die stärkste und anerkannteste Führungsfigur. Und er ist ein Kämpfer, der nicht leicht aufgibt. Eine zentrale Frage ist, ob er tatsächlich 2025 noch einmal für die Präsidentschaft kandidieren können wird, und entsprechend wann ihn diejenigen aus seinem direkten Umfeld verlassen, denen er weniger Freund als nüztlich war für die Verfolgung der eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen.