vonGerhard Dilger 30.06.2020

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Anmerkungen zur bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft vor dem Hintergrund des geplanten EU-Mercosur-Handelsabkommens

Rote Aprikosen

In seinem jüngsten Roman Serotonin widmet sich der französische Schriftsteller Michel Houellebecq der Liebe und der Landwirtschaft. Der Ich-Erzähler des Romans Florent-Claude Labrouste schmeißt seine Beziehung und seinen Job als Berater des französischen Landwirtschaftsministeriums hin und begibt sich auf Spurensuche in seine Vergangenheit. Eine dieser Spuren führt ihn zu seinem alten Freund und Studienkollegen Aymeric, der sich, als einziger seines Jahrgangs, nach dem Agroingenieur-Studium entschlossen hatte tatsächlich Landwirt zu werden. Aymeric und die anderen Milchbauern der Normandie protestieren gerade gegen die Milchpolitik der Europäischen Union, die bereits einige von Aymerics Kollegen in den Selbstmord getrieben hat. Die Bauernproteste eskalieren und Labrouste wird Zeuge, wie sich sein alter Freund in einer dramatischen Konfrontation mit der Polizei vor laufender Kamera erschießt. Doch die Milchbauern der Normandie sollen nicht die einzigen Opfer wirtschaftsliberaler Agrarpolitik bleiben:

„Sobald die Freihandelsabkommen, über die gerade mit den Mercosur-Staaten verhandelt wurde, unterzeichnet wären, würde klar auf der Hand liegen, dass die Aprikosenerzeuger aus dem Roussillon keine Chance mehr hatten, der Schutz durch die Ursprungsbezeichnung »Rote Aprikose aus dem Roussillon« war bloß eine lächerliche Farce, der Vormarsch der argentinischen Aprikosen war unabwendbar, man konnte die Aprikosenerzeuger aus dem Roussillon im Grunde schon als tot betrachten, keiner, nicht ein einziger von ihnen würde übrig bleiben, nicht einmal ein Überlebender, um die Leichen zu zählen.“[1]

Die Politik, die Milchbauern in Suizid treibt, wird also eines Tages auch andere ereilen, sollte es zum Abschluss eines Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten kommen, prophezeit Labrouste.

Soweit die fiktive Romanhandlung – leider ist dieses Abkommen keine Fiktion. Worum geht es bei diesem Abkommen, dass laut Houellebecq so tödlich ist, dass am Ende keiner übrig bliebe um die Leichen zu zählen?

 

Rosa Welle

Anfang der 1990er Jahre verständigten die Länder Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay sich darauf, eine Freihandelszone zu errichten, den „gemeinsamen Markt des Südens“ Mercosur, die 1995 durch einen gemeinsamen Außenzoll zur Zollunion wurde. Nach dem Vorbild der Europäischen Union sollte basierend auf dem ideologischen Fundament des Freihandels ein gemeinsamer Binnenmarkt für den freien Verkehr von Waren, Arbeitskraft und Dienstleistungen geschaffen werden. Kaum zehn Jahre nach den Anfängen, im Juni 1999, begannen bereits die Verhandlungen zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union über ein gemeinsames Freihandelsabkommen, ein logischer nächster Schritt in einer auf Wirtschaftsliberalisierung ausgerichteten Politik, die diese Zeit besonders prägte.[2]

Jedoch verliefen die Verhandlungen von Beginn an schleppend, auch weil in den frühen 2000er Jahren die Neoliberalen in den Mercosur-Ländern von linksgerichteten Regierungen abgelöst wurden. Das betraf Brasilien (2003), Argentinien (2003) und Uruguay (2005), sowie ab 2008 auch Paraguay. Diese stellten das Freihandelsmantra zugunsten einer stärkeren Ausrichtung auf eine lateinamerikanische Integration in Frage. Infolge dieser „rosa Welle“ gerieten die EU-Mercosur-Verhandlungen zunehmend ins Stocken und kamen zeitweise zum Erliegen.

Doch die Freihandelsideologen bewiesen langen Atem gepaart mit finanzieller Macht, und so wurden nach den politischen Rückschlägen der letzten Jahre – die Regierungen Paraguays und Brasiliens wurden mit demokratisch zweifelhaften Methoden aus dem Amt entfernt – die Verhandlungen nicht nur schnell wiederaufgenommen, sondern auch beschleunigt, um nicht Gefahr zu laufen, durch politischen Wechsel erneut gebremst zu werden, der allerdings in Argentinien bereits begonnen hatte. So wurde 2019 in aller Hast eine politische Absichtserklärung verabschiedet, in der die Vertragspartner gelobten, das Abkommen schnellstmöglich zum Abschluss zu bringen, obwohl die Verhandlungen noch in vollem Gange und die Konsequenzen eines Abkommens daher kaum absehbar waren.

Der nächste Schritt war nun eigentlich für die zweite Hälfte 2020 vorgesehen. Deutschland wollte während seiner EU-Ratspräsidentschaft darauf hinarbeiten, das Abkommen „zu finalisieren“. In einem vor dem Corona-Ausbruch ausgearbeiteten Entwurf der Bundesregierung zu Schwerpunktsetzungen der deutschen Ratspräsidentschaft stand das Abkommen mit dem Mercosur ganz oben auf der Agenda.[3]

Wesentlich getrieben war dies vermutlich auch durch die Interessen des kriselnden deutschen Automobilsektors, der Hoffnung auf neue Absatzmärkt im Mercosur-Raum hegt. Ähnliches gilt natürlich auch für weitere exportstarke deutsche Wirtschaftszweige wie den Maschinenbau oder die Chemieindustrie. Immerhin erhebt der Mercosur zum Teil Einfuhrzölle auf derartige Produkte von mehr als 30 %. Diesem Bestreben kam die Corona-Pandemie in die Quere, und in dem neuen Schwerpunktentwurf der deutschen Ratspräsidentschaft ist hinsichtlich Mercosur lediglich am Rande von Bestrebungen die Rede, eine Einigung im Rat erreichen zu wollen.

Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Abkommen vom Tisch ist. Denn angesichts eines Einbruchs der EU-Exporte, liegt es leider nahe, bereits im Scheitern begriffene handelspolitische Konzepte erneut aufzuwärmen und diese als Ausweg aus der Krise zu präsentieren. Insbesondere dem exportorientierten Deutschland dürfte viel daran liegen, aber auch andere EU-Länder hängen stark von Exporten ab. Die Kommission beziffert den Anteil der Exporte am europäischen BIP mit 35 %, jeder siebte Arbeitsplatz in der EU sei das, was eine Steigerung um zwei Drittel seit dem Jahr 2000 bedeute.[4]

Demgegenüber stehen Wirtschaftszweige und Regionen in der EU, die von steigenden Importen aus dem Mercosur bedroht sind, da diese Importe, wie Houellebecq drastisch beschreibt, lokale Produzenten ausradieren könnten. Hier geht es in erster Linie um die Landwirtschaft, und dabei keineswegs nur um rote Aprikosen, sondern zum Beispiel um Getreide, Bioethanol und Rindfleisch aus Brasilien und Argentinien, das die europäischen Märkte fluten könnte.[5] Entsprechend gibt es innerhalb der EU Proteste gegen das Handelsabkommen, und genau entlang dieser Brüche in der EU könnte das Abkommen noch zu Fall gebracht werden.

Auf der einen Seite steht wie bereits erwähnt Deutschland als vehementer Befürworter des Abkommens, aber auch Spanien, mit seinen engen wirtschaftlichen Verflechtungen nach Lateinamerika, steht hinter dem Abkommen. Dagegen überwiegt in Frankreich die Skepsis, aber auch aus Irland und der für Proteste gegen Handelsabkommen berüchtigten belgischen Region Wallonien und den Niederlanden gibt es kritische Stimmen.

In letzterem kam es kürzlich zu einem Parlamentsbeschluss, in dem die Regierung aufgefordert wurde, das Abkommen nicht zu ratifizieren, auch in Österreich gab es eine ähnliche Entscheidung gegen das Abkommen. Auf der anderen Seite des Atlantiks zeichnen sich ebenfalls Brüche ab, so hat die neue argentinische Mitte-links-Regierung zwar betont, am EU-Mercosur-Abkommen festhalten zu wollen, aber andererseits die Sinnhaftigkeit des Mercosur, vor dem Hintergrund, dass einzelne Mitgliedsstaaten eigene Freihandelsabkommen verhandeln, in Frage gestellt.

Es gibt also zunächst Hoffnung, dass sich einige Parlamente oder Regierungen dem Abkommen entgegenstellen. Allerdings hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass solche parlamentarisch-demokratischen Prozesse von EU-Kommission oder den Regierungen der Mitgliedsstaaten einfach übergangen wurden. Deshalb kann sich niemand darauf verlassen, wenn er das Abkommen zu Fall bringen möchte. Dafür braucht es zusätzlichen Druck aus der Gesellschaft, um die Regierungen zu zwingen, ihr Wort zu halten. Aber warum sollte das Abkommen überhaupt gestoppt werden?

 

Rumpelstilzchen

Im vergangenen Sommer trübte sich der Himmel über dem Amazonas und auf den Fernsehbildschirmen der Welt aufgrund eines bisher nicht gekannten Ausmaßes an Waldbränden im Amazonasgebiet. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich diese Bilder auch in diesem Sommer wiederholen, denn die Brände sind Männchengemacht, also von Gestalten gelegt, die in freudiger Profiterwartung ums Feuer tanzen. Schließlich wird so mit politischer Deckung Weidefläche für die Rinderzucht geschaffen, auch mit dem Ziel gesteigerter Rindfleischexporte in die EU.

Nicht allein die Leichen von Houellebecqs Aprikosenerzeugern aus dem Roussillon sind also der Nährboden auf dem das EU-Mercosur-Abkommen florieren soll, sondern auch die Zerstörung einzigartiger Biotope sowie des Lebensraums brasilianischer Ureinwohner. Vor diesem Hintergrund macht derzeit ein europaweites Netzwerk, in dem zahlreiche Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen versammelt sind, gegen das EU-Mercosur-Abkommen mobil und veröffentlicht Informationsmaterial zu den gefährlichen Auswirkungen des Abkommens. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die zeigt, wie deutsche Chemiekonzerne noch immer Pestizide, die in der EU aus ökologischen und gesundheitlichen Gründen nicht zugelassen sind, nach Lateinamerika exportieren, und welche schrecklichen Auswirkungen dies auf die lokale Bevölkerung hat – ein Vorgang der durch das Handelsabkommen begünstigt würde.[6] In einem offenen Brief an die deutsche Ratspräsidentschaft fordert das NGO-Netzwerk „Seattle to Brussels“ daher die deutsche Regierung zum Umdenken auf, und die EU-Kommission sowie EU-Mitgliedsstaaten dazu, das Abkommen endgültig zu stoppen.[7]

 

Dornröschen

Auch jenseits der Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Kleinbauern hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass solchen Freihandelsabkommen insbesondere im Dienste des Profitstrebens transnationaler Konzerne gestaltet sind, indem sie den Weg geebnet haben für eine Wirtschaftsglobalisierung, welche die Ungleichheit zwischen und innerhalb von Ländern zunehmend vergrößert. Die Corona-Krise hat zudem gezeigt, wie brüchig diese global verflochtenen, nicht an Versorgung, sondern an Profitmaximierung ausgerichteten Produktions- und Handelsketten im Falle einer Gesundheits-Krise und dadurch provozierter nationaler Abschottungsmaßnahmen sind.

So ist längst eine heftige Debatte darüber entbrannt, diese Form der Wirtschaftsglobalisierung rückgängig zu machen. Zwar aufgeschreckt, aber weiter weich gebettet auf den Daunen des „freien“ Marktes verharrt die Kommission derweil in der Erstarrung des Dornröschenschlafs, und wehrt den Weckruf in seliger Somniloquie mit vagen Worthülsen („Resilienz“) und leeren Phrasen („A Europe that protects in action without being protectionist“) ab.[8] Umso lauter sollte also der Weckruf progressiver Kräfte sein, damit endlich ein Umdenken in der Handelspolitik eingeläutet wird. Der Stopp des Mercosur-Abkommens wäre dafür ein exzellenter Einstieg.

 

[1] Michel Houellebecq. Serotonin. DuMont. Köln. 2019. S. 25

[2] In den 90er Jahre nahm auch die Idee einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA/ALCA) an Fahrt auf.

[3] Eric Bonse. Berlin will Mercosur durchdrücken. Taz vom 2. April 2020 (https://taz.de/Plan-fuer-deutsche-EU-Praesidentschaft/!5673739&s=mercosur/)

[4]European Commission. A renewed trade policy for a stronger Europe. Consultation Note. 16.6.2020 (https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2020/june/tradoc_158779.pdf)

[5] Vorgesehen ist einer Erhöhung der Importquoten für Rindfleisch um knapp 100.000 Tonnen (ca. 50%), für Bioethanol soll die Quote um 600% erhöht werden, was 650.000 Tonnen entspricht. Siehe: Thomas Fritz. EU-Mercosur Abkommen – Risiko für Klimaschutz und Menschenrechte. MISEREOR/Greenpeace/Dreikönigsaktion. 2020. (https://www.misereor.de/fileadmin/publikationen/studie-EU-mercosur-abkommen-risiken-fuer-klimaschutz-und-menschenrechte.pdf)

[6] Benjamin Luig et al. Gefährliche Pestizide von BASF und Bayer. Rosa Luxemburg Stiftung/INKOTA/MISEREOR 2020. (https://www.rosalux.de/publikation/id/42000/)

[7] http://s2bnetwork.org/stop-the-eu-mercosur-agreement/

[8] Speech by Commissioner Phil Hogan at Launch of Public Consultation for EU Trade Policy Review – Hosted by EUI Florence. 16 Juni 2020 (https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/hogan/announcements/speech-commissioner-phil-hogan-launch-public-consultation-eu-trade-policy-review-hosted-eui-florence_en)

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