Bolivien ist kein „Failed State“. Der Estado Plurinacional, wie er seit der Verfassung von 2009 heißt, und an deren in Kraft treten am 22. Januar erinnert wird, ist aber schwer zu regieren. Gründe sind die vielen kleinen lokalen und die großen strukturellen Probleme, aber auch der hohe Organisationsgrad seiner Bevölkerung. Eine starke Zivilgesellschaft, deren Mitglieder allerdings häufig auch nicht das Gemeinwohl in den Mittelpunkt ihrer Aktionen stellen, sondern ganz konkrete Interessen. In meinem Wohnviertel, dem nach einem Bergwerkswort benannten Barrio Kami, geht es gerade um die Wasserversorgung. Die wird seit Jahr und Tag durch eine selbstorganisierte Nachbarschaftskooperative organisiert. Im Augenblick vergeht keine Woche ohne Straßenversammlung und sich wiederholende lebhafte Diskussionen. In immer mehr Straßen wird das Pflaster, das dem Regen erlaubte in die Erde zu filtrieren, durch geschlossene Asfaltdecken ersetzt. Das ist modern und erhöht den Immobilienwert. Aber der Grundwasserspiegel sinkt, die Brunnen versiegen. Vor einem Jahr wurden die Beiträge erhöht, um mit dem angesparten Geld im Viertel einen neuen Brunnen zu bohren. Doch das Leitungssystem ist in die Jahre gekommen. Viele Rohre lassen nur noch ein dünnes Rinnsal zu oder sind schlichtweg verstopft wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite. So wurde in unserer Straße per Umlage der Anwohnerschaft in Eigeninitiative eine Firma beauftragt, neue Leitungen zu legen. Nur nützt das nichts, wenn die Nachbarstraßen dies nicht auch tun und das Wasser gar nicht in das neue Rohrsystem gelangt.
Nun soll ein eigener Brunnen nur für unsere und zwei Seitenstraßen gebohrt werden, schlägt Victor Ortiz vor. Er ist auch ein Präsident, eben der Bewohnerschaft der Straße. Theoretisch wäre auch ein Anschluss an das Wassersystem der Gemeinde möglich. Doch der vertraut niemand im Viertel. Möglicherweise ist Quillacollo die korrupteste aller Mittelstädte in ganz Bolivien. Im Vierteljahresrhythmus wechseln die Bürgermeister wegen Vorwürfen der Unterschlagung und Vetternwirtschaft. Bolivien ist kein Failed State, aber vielleicht Quillacollo, „Altiva y gloriosa“ wie es auf den Straßenschildern heißt, aber doch eine gescheiterte Kommune, wozu die klientelistische Politik der Zentralregierung wohl auch einen Beitrag geleistet hat. Und hatte man nicht im „Wasserkrieg“ im Jahr 2000 für die Beibehaltung der selbstverwalteten Wasserversorgung gekämpft? Strukturelle gemeinsame Lösungen, und sei es nur auf Distriktebene, werden dadurch gleichwohl erschwert.
Fast 14 Jahre lang schien Evo Morales das Land mit immer größerer Machtfülle im Griff zu haben. Worauf er gerne mit Verweis auf die zersplitterte und schwache Opposition hinzuweisen pflegte. Ein Landesrekord, für den er allerdings mehrmals Versprechen brechen, auf einige juristische Tricks und auch Methoden jenseits der Legalität hatte zurückgreifen müssen. Dies führte zu immer größerer Entfremdung. „Wir waren nicht imstande, die Bedürfnisse der Bevölkerung, der einfachen Leute zu erkennen. Wir haben uns von diesem Volk entfernt“, sagt der ehemalige Parlamentspräsident der MAS Victor Borda. Dessen Heimatort Potosí fühlte sich von der Morales-Regierung besonders benachteiligt. Und der aktuelle Parlamentspräsident Sergio Choque fügt hinzu: “Wir vom MAS glaubten, dass wir Zugang zum Präsidenten hätten, aber da war nichts mehr.“ Hinzu kam eine breite Protestbewegung, die Morales nach dem Versuch der Manipulation der Ergebnisse der Wahlen im Oktober und dreiwöchigen Straßenprotesten, an denen sich rund ein Viertel der Bevölkerung aktiv beteiligt hatte, zum Rücktritt gezwungen hat.
Als meine bolivianische Nichte, Jurastudentin an der staatlichen Universität, die ebenfalls bei den Straßenprotesten und zig Diskussionen aktiv war, gefragt wurde, ob sie selbst mal ein politisches Amt anstrebe, da winkte sie nur ab. Höchstens einen Posten als politische Beraterin in der zweiten Reihe könne sie sich vorstellen. Politische Klugheit? Was bewegt einen Politiker, ein so schwer regierbares Volk wie das bolivianische führen zu wollen? Zumal noch mehr wie nach dem Amtsantritt von Evo Morales gegenüber den Vorgängern auch die heutige Übergangsregierung die ehemaligen Funktionäre und Mitläufer der MAS mit einer Flut von Strafprozessen überzieht. Stand bei den Oktoberwahlen noch der Versuch im Mittelpunkt, die oppositionellen Kräfte zu bündeln, wonach sich die Stimmen auf Carlos Mesa von der neugegründeten Bürgervereinigung Comunidad Ciudadana als Gegenpol zur MAS konzentrierten, ist es im Vorfeld der bevorstehenden Wiederholung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 3. Mai jedoch zu einer Kandidatenflut gekommen.
Relativ schnell hatte Carlos Mesa verkündet, erneut kandidieren zu wollen. Auch der Sektenprediger, Mediziner und Universitätsrektor koreanischen Ursprungs Chi Hyun Chung, der bei den Oktoberwahlen mit rund 8% als Dritter durchs Ziel gelaufen war. Obwohl Chi’s Partei, die Christdemokraten, ihn trotz seines Überraschungserfolgs auf einmal nicht mehr als Kandidaten haben wollen und neue Namen ins Spiel bringen. Mit Jorge „Tuto“ Quiroga, der früher auch schon einmal für die Christdemokraten kandidiert hatte, kündigte nun ein weiterer Ex-Präsident seine Kandidatur an: Nicht um die MAS-Kritiker zu spalten, sondern um sie zu einen, war seine Begründung. Wie das mit einer weiteren Kandidatur praktisch funktionieren soll, bleibt Quirogas Geheimnis. Seine berechtigte Forderung, endlich über Programme zu diskutieren, und nicht über Personen, wird jedoch freundlich ignoriert.
Nun will die MNR, die nationalrevolutionäre Bewegung, die von ihrem revolutionärem Impetus aus den 1950er Jahren nichts mehr übrig hat und bei Anerkennung der Oktoberwahlen wegen minimaler Stimmenanteil ihre Rechtskörperschaft verloren hätte, plötzlich Tuto Quiroga als ihren Kandidaten. Wegen des Programmes, heißt es offiziell. Dabei war man sich eigentlich schon mit dem rechtsgerichteten Unternehmer und früheren Präsidenten des Bürgerkomitees von Santa Cruz Fernando Camacho handelseinig gewesen. Doch der meint inzwischen, eine eigene Partei gründen zu sollen. Zusammen mit Marco Pumari aus Potosí. Kurz waren sie getrennte Wege gegangen, weil keiner von beiden an zweiter Stelle stehen wollte. Immerhin haben sie gemerkt, dass sie wenn überhaupt nur zusammen eine Chance haben.
Auch der sozialdemokratische Unternehmer Doria Medina, der bei den Oktoberwahlen verzichtet hatte, damit die Opposition nicht zersplittert werde, bringt nun erneut seinen Namen ins Spiel. Und immer wieder wird spekuliert, ob die Übergangspräsidentin Jeanine Añez entgegen ihrer Ankündigung vielleicht doch kandidieren wird. Um die drei Prozent der Stimmen hatte ihre Partei im Oktober geholt. Inzwischen ist die ehemalige TV-Moderatorin so populär wie ihr Vorgänger Morales. Mit ihr als Kandidatin hofft nun mancher Parteifreund, doch wieder ein Wahlamt bekleiden zu können. Und vielleicht auch, die politischen Maßnahmen fortführen zu können, die die Regierung entgegen ihrem Übergangscharakter bereits in die Wege geleitet hat, und die wieder rückgängig gemacht werden könnten, wenn die MAS, die immer noch zweifellos stärkste Partei im Lande doch wieder das Rennen machen sollte. Unklar ist auch, ob der promovierte Aymara und derzeitige Gouvaneur Felix Patzi mit seiner Bewegung „Drittes System“ es erneut versucht. Bei den Oktober-Wahlen war er unter der 3 Prozent Hürde gelandet. Aber mit der Schwächung der MAS kann er hoffen, diesmal etwas besser abzuschneiden. Nur wenn der Aymara und langjährige Außenminister von Morales David Choquehuanca als Präsidentschaftskandidat kandiere, so Patzi, könne er sich vorstellen, auf eine eigene Kandidatur zu verzichten. So hatten sich das auch die Aymara-Organisationen im Altiplano vorgestellt. Nur Evo Morales meinte wohl, mehr auf die städtischen Mittelschichten zugehen zu müssen und bestimmte den Keynesianer und Wirtschaftsminister Arce Catacora entgegen der Empfehlung der Gewerkschaften und Bauernorganisationen der MAS zum Präsidentschaftskandidaten. Choquehuanca nur als Vizepräsident. Seitdem tobt ein Richtungsstreit in der MAS mit immer neuen Vorschlagskombinationen und Morales hat in seinem argentinischen Exil nicht nur die Kontrolle über die Regierung, sondern auch über die eigene Partei verloren. Andrónico Rodriguez, politischer Ziehsohn von Morales aus dem Chapare, der ursprünglich als Vizepräsidentschaftskandidat vorgesehen war, lobt dies bei seiner Rede in Cochabamba an einem verregneten 22. Januar vor für MAS-Verhältnisse überschaubarem, aber immer noch zahlreichen Publikum als Beispiel innerparteilicher Demokratie und Personaldebatten, die es bei den anderen Parteien nicht gebe. Es gab einige Sorge um eine Rückkehr der Gewalt bei den geplanten Demonstrationen der jeweiligen Seite. Rodriguez hatte für den 22. Januar das Ende des gewaltfreien Widerstands gegen die „Putschregierung“ angekündigt, die Regierung hatte Polizei und Militär auf die Strassen geschickt, um Präsenz zu zeigen. Zumindest bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags am nachmittag, blieb aber alles ruhig.
Einer hat sich noch nicht wieder gemeldet: René Diaz. Nachdem Evo Morales mit Unterstützung des Verfassungsgerichtes auf dem Menschenrecht bestanden hatte, auch gegen geltendes nationales Recht kandidieren zu dürfen, hatte der eine fast textgleiche Eingabe zunächst beim Wahlgericht, dann beim Verfassungsgericht gemacht. Wenn es ein Menschenrecht sei zu kandidieren, dann müsse auch er zugelassen werden, obwohl seine Partei nicht die laut Wahlgesetz erforderliche Anzahl an Unterschriften hatte zusammen bringen können. Bis heute blieb der Antrag unbearbeitet. Vielmehr beschäftigt sich das Verfassungsgericht damit, die damalige Entscheidung rückgängig zu machen.
Zwei Wochen Zeit bleibt noch, damit die Parteien ihre Kandidatinnen und Kandidaten benennen. Und es wird gemunkelt, dass manche Kandidaturen nur dazu dienen, sich ins Gespräch zu bringen, um später bei irgendwelchen Posten berücksichtigt zu werden. Es geht ja nicht nur um das Präsidentenamt, sondern auch um die Listen für die Abgeordnetensitze. Und manche hoffen trotz gegenteiliger Bekundungen zwar nicht auf einen Wahlsieg, aber später in einem zersplitterten Parlament das Zünglein an der Waage zu sein.
Vielleicht wäre es doch Zeit, endlich auch über Inhalte und Bündnisse zu diskutieren. Und auch darüber, wie das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung konkret ausgestaltet werden soll. Dezentralisierung, Pluralität und Bürgerbeteiligung auch jenseits der Parteien sind wichtige Elemente der Verfassung, deren Inkrafttreten am 22. Januar gewürdigt wird. Denn wie gesagt: Dass Bolivien in seiner Gesamtheit kein failed state ist, haben auch die Mehrheit der Bürgerbewegten wie Victor Ortiz gezeigt. Der stand an der Barrikade und gewährte Flüchtenden Schutz, als Schlägertruppen eingerückt waren und einen der Protestierer an der Huayculi-Brücke nahe dem Kami-Viertel zu Tode geprügelt hatten. Das Engagement vieler für die Verteidigung demokratischer Prinzipien, der Gewaltenteilung und der Verfassung ist unübersehbar. Und nicht zuletzt hat die Mehrheitsfraktion der MAS selbst im Parlament einen wichtigen Beitrag zur Beendigung der gewaltsamen Auseinandersetzungen nach dem erzwungenen Rücktritt von Morales, zur Sicherstellung des Übergangsprozesses und der Vorbereitung der Neuwahlen geleistet. Aber wie auch Don Victor bei schier endlos scheinenden Diskussionen in der eigenen Straße festgestellt hat: Bolivien ist eben auch ein schwer zu regierendes Land. Aber anders als beim Amt des oder der nationalen Präsidentin, gibt es für die mühsame und arbeitsintensive Funktion eines Straßenpräsidenten kaum Bewerber. Wenn Victor Ortiz fragt, wer seine Aufgabe übernehmen möge, erhält er freundliche Absagen. Die indigenen Gemeinden kennen deswegen nicht nur das Prinzip der Ämterrotation, das Machtausübung begrenzen soll, sondern auch die Pflicht einer jeden Person, ein Amt zu übernehmen. Aber das ist ein anderes Thema und bei den nationalen Wahlen bei der aktuellen Zahl der Bewerber eher irrelevant.