vonPeter Strack 29.07.2023

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Am 8. und 9. August findet in Belém do Pará (Brasilien) der Präsidentengipfel der Amazonasstaaten statt. Es ist eines der diplomatischen Ereignisse, auf denen die indigenen Völker in farbenfroher Kleidung fotografiert und wegen ihrer Schutzfunktion für die grünen Lungen der Erde zumeist gelobt, häufig aber nicht so sehr ernst genommen werden. Eine „Diplomatie der Völker für ein Leben in Harmonie mit der Natur“ ist erklärtes Ziel der bolivianischen Außenpolitik. Doch im Landesinnern treibt die Regierung im Tiefland eine aggressive Besiedlungspolitik zur Ausweitung der Agrarexporte auf Kosten der Natur und der angestammten indigenen Völker voran. Großflächige Waldbrände, Trockenheit und Ernteausfälle der Kleinbauernfamilien sind die Folge. Sprecher indigener Gemeinden, die sich gegen die Zerstörung ihres Habitats wehren, werden vor Gericht gezerrt.

Raub, Rassistische Beschimpfungen, Bedrohung, Freiheitsentzug, genderbasierte psychologische Gewalt, Verleumdung, Behinderung der Behörden und Verletzung des Rechts auf Arbeit sind die Vorwürfe, wegen derer die Leiterin der Agrarreformbehörde von Santa Cruz gegen Sprecherinnen und Sprecher des „Komitees zur Verteidigung des Landes“ des Munizips von San Miguel de Velasco Anzeige erstattet hat. José Luis Dorado ist einer von ihnen. „Das Komitee beobachtet die Lage und schlägt Alarm, wenn es eine neue Besetzung gibt“, erklärt der Bauer, der im Weiler Las Barreras in kleinem Rahmen Vieh züchtet. „Die Landbesetzungen in San Miguel begannen ungefähr im Jahr 2015. (Zum Hintergrund siehe diesen früheren Beitrag auf latinorama).

José Luis Dorado, Foto: Erwin Melgar

Damals hat man versucht, 85 neue Siedlungen von Migranten aus dem Hochland zu gründen, ohne die Autoritäten des Munizips überhaupt zu fragen. Dabei geht es um ein traditionelles indigenes Territorium. Früher richteten sich unsere Forderungen an die staatlichen Autoritäten. Die große Mehrzahl der Landtitel von den Behörden konnten wir annullieren lassen. Bei den übrigen mussten wir selbst dafür sorgen, dass die Besetzer wieder abzogen. Aber heute stehen die Behörden auf der Seite der Landbesetzer. Die Regierung hat die Leute selbst geschickt.“ Ihr Ziel sei es, fürchtet Dorado, der auch aktueller Präsident des Bürgerschaftskomitees von San Miguel ist, das Tiefland zu kolonisieren.

Schwerwiegende Anschuldigungen gegen das Komitee zur Verteidigung des Landes

Die Staatsanwaltschaft untersucht schwerwiegende Anschuldigungen, die sich auf Ereignisse im Mai diesen Jahres in der Gemeinde Villa Armonía beziehen. Damals wurde eine kleine Delegation der Agrarreformbehörde von dem Komitee und Bewohner*innen von San Miguel daran gehindert, zu prüfen, ob auf dem besetzen Boden Ackerbau betrieben wird. Es ist eine Voraussetzung dafür, einen Landtitel ausstellen zu können. Man habe den Mitarbeiter*innen gedroht, ihnen die Unterlagen und das Benzin entwendet, die Information auf ihren Mobiltelefonen gelöscht, sie geschlagen. Frauen hätten einen Mitarbeiter in den Intimbereich getreten. Die Rechtsanwältin des Agrarreforminstituts gab an, wegen ihres Akzents beleidigt worden zu sein. Das Team sei bis in die Nacht festgehalten worden, heißt es in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft, mit der die Beteiligten vor Gericht zitiert wurden. Dann habe man sie mit der Drohung freigelassen, nie wieder zurück zu kommen. Es habe zwar keine Spuren körperlicher Gewalt gegeben. Das habe aber an der dicken Kleidung gelegen. Die Aussage sehen die Angeklagten als einen Hinweis darauf, dass die Anschuldigungen erfunden oder zumindest übertrieben sind. Denn damals hätten die Temperaturen bei weit über 30 Grad Celsius gelegen. Dicke Kleidung? Und bei der Gerichtsanhörung zeigten sie Fotos der Landbesetzer mit den Kanistern Benzin, deren Diebstahl sie die Staatsanwaltschaft beschuldigt.

Bilder einer früheren Auseinandersetzung um Land in San Miguel, Foto: E.Melgar

Der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit

„Es gibt keine unabhängige Justiz mehr. Und jeder weiß, dass Amtsträger bestochen werden, “ rechtfertigt José Luis Dorado, dass sie versuchen, selbst gegen die Landnahmen vorzugehen (siehe auch diesen Beitrag aus einer Nachbarregion in den Lateinamerika-Nachrichten). Der Soziologe und Agrarexperte Erwin Melgar, der die indigenen Gemeinden berät, teilt die Einschätzung. Das Agrarreformgesetz sehe vor, dass staatliches Land zuerst an die indigenen Gemeinden vor Ort verteilt werden müsse, wenn es dort einen Bedarf gebe. Anfang des Jahres hatte die Behörde bei Verhandlungen mit dem regierungsnahen Dachverband der Tieflandgemeinden zugesagt, sich bei der Landvergabe strikt an die Gesetze zu halten und gegen Landbesetzungen vorzugehen. Doch in der Praxis habe die Agrarreformbehörde die Landbesetzer auch in der Folge weiter unterstützt und werde der Boden im Tiefland seit vielen Jahren fast nur noch an Siedler aus dem Hochland verteilt, schreibt Melgar in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift ila. „Nicht nur die indigenen Gemeinden sind von den Besetzungen betroffen, auch private Landwirtschaftsbetriebe“, ergänzt Dorado.

Indigene Pflichten zur Verteidigung des Landes

Traditionellen Autoritäten der Chiquitano aus San Miguel berufen sich ihrerseits auf die bolivianische Verfassung und internationale Abkommen zugunsten indigener Völker, wenn sie der ordinären Justiz die Zuständigkeit für die Landkonflikte in den indigenen Territorien absprechen. In einem eigenen Urteil spricht die junge Generalkazikin von San Miguel, Fatima Gabriela Rodríguez, über die „Bedrohung der Natur durch die neuen Ansiedlungen“, in denen kommerzielle Aktivitäten vorherrschen würden, die dem „Guten Leben“ entgegenstehen.

Fatima Gabriela Rodriguez bei der Urteilsverkündung in San Miguel de Velasco, Screenshot Internet/OICH

Sie konstatiert, dass die von der Staatsanwaltschaft Beschuldigten nur ihrer Pflicht nachgekommen seien, ihr angestammtes Territorium zu schützen. Deshalb seien alle Verfahren in der ordinären Justiz einzustellen. Die Direktorin der Agrarreformbehörde müsse im Gegenteil den wirtschaftlichen Schaden ersetzen, den sie dadurch verursacht habe, dass die Behörde ohne Absprache mit den lokalen Autoritäten in ihr Territorium gekommen seien. Und wegen ihrer falschen Anzeige müsse sie sich öffentlich entschuldigen. Das Urteil trägt dutzende weitere Unterschriften indigener Autoritäten. Die zu Schadenersatz und einer Entschuldigung verurteilte Direktorin der Agrarreformbehörde wird sich kaum um das Urteil der Indigenen scheren. Zwar spricht die Verfassung von der Gleichberechtigung beider Justizsysteme (siehe diesen Beitrag aus dem Jahr 2013 in E+Z), doch das Gesetz zur Abgrenzung der Kompetenzen schränkt die indigene Justiz auf die Mitglieder der eigenen Gemeinde ein. Rodríguez und den anderen Kaziken von San Miguel geht es allerdings vor allem darum, deutlich zu machen, dass die staatlichen Behörden nicht für die Landfragen in ihrem Territorium zuständig sind. Einer der Kaziken von San Miguel erinnerte bei der Urteilsverkündung (hier ein Video der Veranstaltung ) daran, dass er vom Agrarreforminstitut eingefordert habe, den Prüfbesuch begleiten zu können. Das sei von der Behörde jedoch mit dem Argument abgelehnt worden, die Kaziken hätten in diesem Thema nichts zu sagen. Etwas überraschend, wo Eulogio Nuñez, der nationale Direktor des INRA in einem Interview mit Radio Santa Cruz am 29. Juli von einer offiziellen Politik der Agrarreformbehörde sprach, immer alle Betroffenen zu Gesprächen an einen Tisch holen zu wollen. Immerhin sind es Hinweise, dass die Agrarreformbehörde den Konflikt nicht weiter eskalieren lassen will.  „Unsere Regierung wird keine Landbesetzungen dulden“, bekräftigte der nationale Direktor der Agrarreformbehörde Eulogio Nuñez in dem Interview. Landbesetzungen würden durch die Polizei rückgängig gemacht. Doch in San Miguel halten die Siedler aus dem Hochland den fremden Boden erst einmal weiter besetzt und roden die Wälder.

Das Große Haus, das uns mit Nahrung versorgt

Umstrittenes Territorium in San Miguel,  Foto: E.Melgar

„Es ist unser großes Haus, das uns mit Nahrung versorgt“, heißt es in dem Urteil der Kazikin Rodríguez, das sie für die künftigen Generationen schützen würden und „in dem wir unsere Sitten und Gebräuche pflegen und unsere Kultur weitergeben“. Das trage auch dazu bei, die globale Klimaerwärmung zu verringern. Das meint auch José Luis Dorado: „Wir sind die Beschützer von Pflanzen und Tieren und die Chiquitanía ist eine der Sauerstofflungen der Welt. Die großen Waldbrände der letzten Jahre wurden von den Landbesetzern verursacht, die keine Erfahrung haben und deshalb keine Schutzmaßnahmen ergreifen, wenn sie mit Feuer roden. Auf tausenden Hektar Land wurden Tiere getötet (siehe zu den Waldbränden diesen früheren Beitrag auf Latinorama). Der Verlust des Waldes führt zu großen Problemen mit der Trockenheit. Unsere Gemeinden drohen ihre Lebensweise und Kultur zu verlieren. Deshalb hoffen wir, dass wir widerstehen und unser Territorium verteidigen können.“

Auch die Schlusserklärung eines Treffens indigener Gemeinden aus dem Hoch- und dem Tiefland Ende Juli im Vorfeld eines bevorstehenden panamazonischen Sozialforums bekräftigte die Kritik an der bolivianischen Agrarreformbehörde, wie auch an der Forst- und der Bergwerksbehörde. Sie alle würden die Rechte indigener Völker und die kollektiven Besitztitel missachten. Die Justiz wurde aufgefordert, die Entscheidungen der indigenen Gerichtsbarkeit zu respektieren. Vielmehr sollten Unternehmen, Kooperativen oder Einzelpersonen, die mit ihren Aktivitäten die Natur zerstören, zur Rechenschaft gezogen werden. Dies gelte insbesondere für Bergwerkswirtschaft oder Staudämme in Naturschutzgebieten. Die Pläne, weitere Wälder zur Produktion von Biotreibstoffen abzuholzen, werden abgelehnt… es ist nur ein kleiner Teil einer langen Liste von Forderungen, die einer „Diplomatie der Völker für ein Leben im Einklang mit der Natur“ gut zu Gesicht stehen würden.

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