Christian Ihle:
5. Die Goldenen Zitronen – Lenin
Dass das neue Goldene Zitronen Album nicht allerorten als Sensation des Jahres besprochen wurde, liegt am Fluch der guten Tat.
Nur weil von den Goldenen Zitronen nicht weniger als herausragendes erwartet wird, kann ein fieses Miststück wie „Lenin“ im großen Bild mehr oder minder unbeachtet bleiben. Globalisierungskritik für den Dancefloor in „Wenn ich ein Turnschuh wär’“, die spokenword-Hasstirade „Mila“ und das Kommunistenschlaflied „Lenin“ sind die Höhepunkte auf einem zu Unrecht als „sperrig“ abgestempelten Album – wie Blumfeld ist auch die andere ewige Hamburger Band einen weiten Weg gegangen, doch schaffen beide es bis heute, anzuspornen, aufzustacheln, aufzuregen. Mit „Lenin“ vielleicht sogar noch ein Stück besser als in der Vergangenheit.
Höhepunkte: Mila, Wenn ich ein Turnschuh wär’
Charts: –
Die Goldenen Zitronen – Wenn ich ein Turnschuh wär‘ (live, Hannover 2006):
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4. The Rapture – Pieces Of The People We Love
“Echoes” und vor allem die bereits ein Jahr zuvor veröffentlichte Single „House Of Jealous Lovers“ hatte derart epochale Wirkung auf die Musik der letzten Jahre, dass The Rapture nach einer dreijährigen Pause eigentlich nur scheitern konnten. Dass sie trotzdem die Post-Punk/Punk-Funk-Vorlage aus „Echoes“ weiter verfeinerten, sich einerseits treu blieben und doch mit Modifizierungen hinsichtlich des Soundgewands dem Rest der New/No Wave – Bande wieder einen Schritt voraus blieben, ist ihnen nur noch höher anzurechnen.
Besonders hervorzuheben ist dabei der beste Liedtitel des Jahres „Whoo! Alright – Yeah… Uh huh“, der die Sprachlosigkeit, die herausragende Clubmusik verursachen kann endlich einmal in Worte fasst. Desweitern gilt nun gerade bei The Rapture ihre eigene Liedzeile „People don’t dance no more, they just stand there like this: They cross their arms and stare you down and drink and moan and diss” nicht, denn wer bitte kann bei diesen New Yorkern denn still stehen?
Höhepunkte: Whoo! Alright – Yeah… Uh huh, Get Myself Into It
Charts: –
The Rapture – Whoo! Alright – Yeah… Uh huh:
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3. Two Gallants – What The Toll Tells
Vielleicht die Überraschung des Jahres im Albensektor: zwei Amerikaner, die tief in der amerikanischen Musikgeschichte verwurzelte Songs schreiben, die irgendwo zwischen Bob Dylan, Johnny Cash und den White Stripes zu verorten sind. Eine runde Mischung aus good old fashioned Storytelling über Tod, Mord und Liebe, Country, Folk wie Punk, die über neun Stücke ausgebreitet wird und deren Songs nicht nur einmal die Zehn-Minuten-Marke streifen. Dass der Countrypunkknaller „Las Cruces Jail“ gleichwertig neben ruhigen Neuneinhalbminutenstücken wie „Waves Of Grain“ steht und das Album eben gerade als Ganzes funktioniert, ist das Geheimnis von „What The Toll Tells“. Wenn man die beiden dazu einmal live gesehen hat und man mit offenem Mund vor der Bühne stand und nicht glauben mag, dass dieser ganze Lärm tatsächlich nur von diesen zwei ungewaschenen Menschen vor dir gemacht wird, dann spätestens hast du dein Herz verloren.
Höhepunkte: Las Cruces Jail, Waves Of Grain
Charts: –
Two Gallants – Steady Rollin‘:
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2. The Strokes – First Impressions Of Earth
Es muss ein seltsames Gefühl sein, wenn du noch keine 28 bist, aber bereits vor fünf Jahren offiziell der „saviour of rock’n’roll“ warst. Verfolgt man die Strokes-Karriere hat man durchaus das Gefühl, dass Songwriter Julian Casablancas mit dieser enormen Bürde in den Folgejahren nach dem – heute noch ! – schlicht und einfach perfekten Debütalbum „Is This It“ zu kämpfen hatte. Nicht, dass das Zweitalbum schwach gewesen wäre, aber musste denn Goethe zwei Jahre nach „Faust“ den Folgeteil veröffentlichen?
Beim dritten Album angelangt war der mediale Bonus des Debüts verbraucht und es wurde unverhältnismäßig auf die fünf New Yorker mit ihren schicken engen Jäckchen und den tollen Frisuren eingeschlagen, was natürlich Unsinn war. Denn mag auch auf „First Impressions Of Earth“ der erste mittelmäßige Strokes-Song veröffentlicht sein, Treffer waren in Hülle und Fülle vorhanden. Sie haben sich etwas vom Garagen Punk der Frühzeit wegentwickelt und ein amtlich produziertes Indie-Rock-Album vorgelegt, das sich aber immer noch den üblichen Vereinnahmungsmechanismen widersetzt. Die großen Refrains, die Background-Chöre, man sucht sie immer noch vergebens. Es bleibt Julian Casablancas seltsame Mischung aus Aggressivität und Ennui, die über den Gitarrenschichten von Hammond Jr. und Valensi Geschichten aus dem nächtlichen Leben der City erzählt: „I don’t feel bitter when I am fucking around” aber eben auch “now it’s three in the morning and you’re eating alone”.
Höhepunkte: Heart In A Cage, Ask Me Anything
Charts: 11
The Strokes – You Only Live Once:
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1. Love Is All – 9 Times That Same Song
Was Love Is All so außergewöhnlich macht, wurde im Popblog bereits einmal in aller Ausführlichkeit hier behandelt. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass kein Album im Jahr 2006 so wenig Leerlauf zu bieten hatte und dass „9 Times That Same Song“ trotz des augenzwinkernden Titels keine Sekunde Redundanz aufweist, sondern ein frenetisches Dauerfeuer, ein enthusiastisches Feuerwerk klassischen Indiepops bietet. Vor Love Is All hätte man auf die Indiepop-Szene der letzten 20 Jahre geblickt und nur noch kopfschüttelnd „they don’t make it like that anymore“ gemurmelt. Nach Love Is All steht man zu diesen Songs kopfschüttelnd in der ersten Reihe und freut sich, dass es endlich wieder Lieder gibt, die dafür gemacht sind, deine Frisur zu zerstören. Das beste Album 2006, mit einer Meile Abstand.
Höhepunkte: Spinning & Scratching, Make Out Fall Out Make Up
Charts: –
Love Is All – Make Out Fall Out Make Up:
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Horst Motor:
5. The Whitest Boy Alive – Dreams
Also zuerst definierten die Kings Of Convenience das „Quiet Is The New Loud“-Genre, dann begeisterte Erlend Oye als „Singing DJ“ und hielt den Moment auf seiner „DJ Kicks“-Episode fest und jetzt hat er wieder ein neues Ding? Der muss doch mal scheitern? Kann sein, aber mit diesem Werk auf jeden Fall schon mal nicht. Sehr 70er-Jahre-Disko orientierter Sound, jedoch live von einer vierköpfigen Band gespielt, bei der kein Instrument dominiert, sondern sich jeder dem Zweck unterordnet. Selbst Erlends Stimme ist nur eine Nuance, die einem Song ein zusätzliches Element gibt, nichts Alles-Dominierendes. Live extrem tanzbar, meist auch eher als „DJ-Set“ gespielt, d.h. oft gehen Songs ineinander über, anstatt dem üblichen Song-Applaus-Ansage-Song-Schema zu entsprechen. Wunderbar.
Höhepunkte: Burning, Inflation
Charts: –
Whitest Boy Alive – Burning:
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4. Thom Yorke – The Eraser
Vielleicht das einzige Werk, das hier eine wirkliche Berechtigung hat,eben als „Album des Jahres“. Der Grund ist der, dass ich hier kein einziges herausragendes Stück benennen kann, die CD aber trotzdem immer wieder durchlief. Eben ein Gesamtkunstwerk bzw. die Summe der einzelnen Teile. Musikalisch eher wieder „Kid A“ als „Hail To The Thief“ und veröffentlichungstechnisch doch etwas überraschend. Denn irgendwie war dies ein Album, das plötzlich da war anstatt dass man Monate darauf wartete. Was man natürlich auch gerne gemacht hätte.
Höhepunkte: The Eraser
Charts: 11
Thom Yorke – Harrowdown Hill:
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3. Blumfeld – Verbotene Früchte
Ja, klar. Wie können die nur? Der Apfelmann? So ein Scheiß! Und dann noch die ganzen Tiere und Pflanzen. Wie schrecklich. Wie bürgerlich. Waren jetzt alle Vorurteile des Jahres dabei? Mir egal. Blumfeld dürfen zum einen sowieso machen, was sie wollen. Zum anderen kann man sich überall eine Meta-Ebene dazu denken, egal ob die da ist oder nicht. Zum dritten ist „Strobohobo“ doch ein klasse Text und „Tiere um uns“ ein tolles Lied. Kurz gesagt: Die Platte bietet jedem etwas. Auch demjenigen, der sich noch nicht von der „Die klingen ja wie Münchner Freiheit“-Phase erholt hat.
Höhepunkte: Strobohobo, Heiß‘ die Segel
Charts: 21
Blumfeld – Tics:
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2. Die Goldenen Zitronen – Lenin
Neben Deichkind die andere Band, die von vorneherein mit Missinterpretationen konfrontiert wird. So wenig wie Deichkind noch HipHop ist, lassen sich die Goldenen Zitronen noch unter „Fun Punk“ ablegen. Schon seit etlichen Jahren rotieren die Instrumente zwischen den Mitgliedern, Elektronik und Effekte gehören selbstverständlich zu den Songs. Mit „Lenin“ gelingt ihnen das vielleicht textlich beste Album des Jahres. Gerade die beiden Über-Hits „Mila“ und „Wenn ich ein Turnschuh wär'“ funktionieren aufgrund des minimalistischen Sounds, der eine Beschäftigung mit den Lyrics unumgänglich macht. Die skizzenhaften Stream-of-Conciousness-artigen Gedanken ermöglichen dabei das immer wieder und wieder anhören, bei dem es stets neues zu entdecken gilt. Und liefern nebenbei den Begriff des Jahres: „Flachbildscheiß“.
Höhepunkte: Mila, Wenn ich ein Turnschuh wär‘
Charts: –
1. Kante – Die Tiere sind unruhig
Gerüchten zufolge stand die Band am Scheideweg, ob sie sich auflösen oder weitermachen sollten. Glücklicherweise haben sie sich für letzteres entschieden. Auf diesem Album vereinen Kante die besten Elemente ihrer alten Werke mit einem neuen, treibenden und – naja, so blöd wie es klingt – rockenden Sound. Vom Sphärischen (Die Hitze dauert an) übers Energische (Ich hab’s gesehen) bis zum Ausgelassen-Ausgeflippte (Die größte Party der Geschichte) ist alles dabei. Dazu die gewohnten Klasse-Texte, die immer den „Inzwischen die besseren Blumfeld“-Gedanken in den Kopf zaubern. Nur, falls mal ein Zweifler überzeugt werden muss.
Höhepunkte: Die Wahrheit, Ich hab’s gesehen
Charts: 28
Kante – Ich hab’s gesehen:
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Ich frage mich ja mit gewisser Regelmässigkeit, ob der Inhalt von „Wenn ich ein Turnschuh‘ wär“ von den tendenziell unpolitischen Popkids in seiner Radikalität verstanden wird. Dechiffriert ein Monster eines Liedes.