vonChristian Ihle 07.11.2009

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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Ich merkte, dass es richtig war, Jens mitzunehmen. Unsere Island-Reisegruppe hatte sich in den letzten vier Jahren immer jährlich um mindestens eine Person vergrößert. Heuer waren wir erstmals zu sechst nach Island geflogen, um das Iceland Airwaves Festival mitzufeiern. Jens, selbst Musiker, stand neben mir im Keller einer isländischen Postfiliale und konnte nicht glauben, was er hörte und sah. Gerade eben hatten wir in einem Club namens Sódóma noch ein paar -gerade mal volljährige- Jungs gesehen, die sich Soundspell nannten und so klangen, wie Radiohead zu ihren besten Zeiten („Kid A“).

soundspell
Soundspell

Jetzt im Postkeller standen vielleicht mal 15- oder 16-Jährige namens We went to Space auf der Bühne und klangen… genau wie Radiohead zu ihren zweitbesten Zeiten („OK Computer“). Ich hatte Jens, der zum ersten Mal auf Island war, vor der Reise nicht zuviel versprochen. Hier würden sich Rock-Anfänger nicht an „Highway to hell“ und „When I come around“ auslassen. Das hier war anders.

Das Iceland Airwaves Festival 2009 stand wegen der Finanzkrise lange auf der Kippe. Erst kurz vor knapp rückten die Veranstalter mit Termin und (im Vergleich zu den Vorjahren abgespeckten) Line up raus. Rock-Schwergewichte wie die Kaiser Chiefs und Bloc Party (siehe: die vergangenen Jahre) wurden nicht mehr eingeflogen. Die größte Nummer hieß in diesem Jahr Kings of Convenience und die spielten ein exklusives Konzert vor 500 Zuschauern in der Reykjaviker Frikirkjan, einer kleinen Kirche, in der am Vorabend noch Hjaltalin mit einem Kammerorchester aufgetreten waren. Doch um die Kings of Convenience zu sehen, mussten sich Festivalbesucher wie auch Pressevertreter anstellen.

KoC

Um 12 Uhr mittags sollten Armbänder ausgeteilt werden, doch die Schlange vor dem Plattenladen, in dem es die bunten Bänder gab, war unüberschaubar lang. Erlend Oye sollte dann bitte ohne uns musizieren.

Wie immer beim Iceland Airwaves Festival ging es eher darum, zu entdecken, was man noch nicht kennt. Und das war in diesem Jahr zweifellos Micachu & the Shapes. Die Britin Mica Levi musizierte mit ihrer Band und einer notdürftig mit einem Strick zusammengehaltenen Schrottgitarre in der größten Airwaves Location, dem Reykjavik Art Museum (in dem gleichzeitig im ersten Stock eine Ausstellung geöffnet war – inklusive Lars von Trier-Ölgemälde).

Micachu
Micachu & The Shapes, Shapes not pictured.

Irgendwo zwischen den Moldy Peaches und Santigold mit selbstgebastelten Instrumenten, schafften es Micachu & the Shapes den gleichzeitig stattfindenden Auftritt von James Yuill in einem Club auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstmal vergessen zu lassen. Dort mit einer einiger Verspätung doch noch angekommen, sahen wir eine Show, bei der Yuill die Geschwindigkeit zur Freude der isländischen Rave-Jugend ordentlich nach oben geschraubt hat und bei der er mehr mit House-Remixen seiner eigenen Songs als mit Kuschelelektronik begeisterte.

disa
Dísa

Die isländische Musikerin Dísa überzeugte früher am Abend im Schneidersitz auf der Bühne des Iðnó, einer Villa, die von Mitgliedern der Reykjaviker Handwerksvereinigung als Vereinsheim hergerichtet wurde. Dísa zeigte mit Songs wie „Fast Train“, dass sie ein Händchen für Pophits hat, gleichzeitig aber auch die nötige Verschrobenheit besitzt, um als wundersames isländisches Original vermarktet zu werden.

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=86m6H9kFrHk[/youtube]
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Auf ihrem Album zeigt Dísa, die längst auch schon mit Mark Ronson zusammengearbeitet hat, auch, dass sie vor durchproduzierten Radiohits nicht zurückschreckt. Die isländischen Charts hat sie damit schon geentert.

Weniger für den Radiogebrauch ist die Musik von Ben Frost gemacht. Vor zwei wuchtigen Bassboxen und hinter einem Notebook spielt er mit E-Gitarre Sounds ein, die er gleichzeitig bösartig verfremdet. Ohne Rhythmus und Melodie bearbeitet er das Publikum mit brummenden Basslauten, Hundeknurren und einer Lautstärke, bei der Freund Markus sich sicher war, dass seine „Zähne während dem Auftritt mitvibrierten“. Das Publikum hielt sich geschlossen die Ohren zu, blieb aber andächtig und begeistert sitzen.

Andächtig sitzen blieb auch das Publikum am Bühnenrand nach dem Konzert von The New Wine, Schützlingen von Erlend Oye, die auch die letzte Whitest Boy Alive-Tournee begleiteten. Arg zwischen dem Sound von Phoenix und eben The Whitest Boy Alive pendelnd, spielten die jungen Hüpfer aus Norwegen tanzbarsten Pop nicht nur bei ihrem offiziellen Iceland Airwaves-Gig, sondern auch am Vortag in einem kleinen Klamottenladen. Der ambitionierte T-Shirt-Verkäufer, der den Auftritt organisiert hatte, vergaß übrigens Schlagzeuger und Verstärker bereitzustellen und so musste man die knapp einstündige Wartezeit mit Freibier, das er schuldbewusst spendierte, vertreiben. Ging auch.

the new wine
The New Wine

Der Rest? Raven bei FM Belfast, der alljährliche Tanz in der Blauen Lagune (bei 40 Grad Wassertemperatur und strömenden Regen), eine Ex-Ballerina namens „Oh Land“ (die norwegische Antwort auf La Roux?), die ein Haus als Kopfschmuck trug und angeblich vor ihrem Debütalbum nichts mit Musik zu tun hatte und die Schattenseite der Popkultur: eine Rockabilly-Kapelle mit scratchendem DJ auf der Bühne… Die kann man bei einer Auswahl von knapp 200 Acts, die während des fünftägigen Festivals zum Teil mehrmals auftreten, dann auch irgendwie verschmerzen.

Oh Land
Oh Land

Und nein, wir haben heuer keinen Wal gegessen. (Text & Fotos: Säm Wagner)

Iceland Airwaves im Popblog:
* 2008 (Teil 1): Der Rhythmus der Etikettiermaschine
* 2008 (Teil 2): Der Waldschrat mit der Frickelstation
* 2007 (Teil 1): Warum Reykjavik nie zu Berlin geworden ist
* 2007 (Teil 2): Isländischer Hair Metal und die örtliche Antwort auf 50 Cent

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