Der zweite Teil unserer definitiven Dekadenfilmliste, die Plätze 21 bis 34. (Teil 1: Plätze 35-50, Teil 3: Plätze 20 – 11, Teil 4: Plätze 10 – 1)
34. The Tracey Fragments (Regie: Bruce McDonald, Kanada 2007)
Die zwei Gesichter der Ellen Page: die Nachwuchs-Hoffnung pendelt seit einigen Jahren schon zwischen niveaulosen Blockbustern („X-Men“), erfolgreichen Feel-Good-Indiefilmchen („Juno“) und brutalen Arthouse-Movies („Hard Candy“). „The Tracey Fragments“ ist der letzteren Rubrik zuzuordnen und zeigt eine Ellen Page in teils bis zu 15 verschiedenen Splitscenes auf der Kinoleinwand.
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Sie zetert und weint, schreit oder sitzt apathisch auf der Rückbank eines Busses und sucht ihren kleinen Bruder Sonny – von dem nicht klar ist, ob er weggelaufen oder Opfer eines Verbrechens geworden ist. Die Tour-de-Force, der Ellen Page da ausgesetzt wird, ist Oscar-verdächtig. Aufgrund der wirklich bitteren und desillusionierenden Grundstimmung sollte man sich aber genau überlegen, wann man die kleine Low-Budget-Perle anschaut. (RH)
33. 13 Tzameti (Regie: Géla Babluani, Frankreich 2005)
Das französisch-georgische Kinokunststück „13 Tzameti“ hat sich nachhaltig in das filmhistorische Gedächtnis gebrannt. Kaum ein Low-Budget Film aus Europa hatte in den vergangenen Jahren einen ähnlichen Spannungs-Overkill und eine ähnlich abstruse Grundidee zu bieten. Der junge georgische Einwanderer Sèbastien klaut während seiner Dachdecker-Arbeiten einen geheimnisvollen Brief, der ihn in ein entlegenes Waldhaus führt… die menschenverachtenden Wettspielchen, die dort ablaufen, sollen an dieser Stelle aber nicht verraten werden. (RH)
32. [REC] (Regie: Jaume Balagueró & Paco Plaza, Spanien 2007)
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Der Trailer wies schon den Weg – hier kam ein Film, der mit den denkbar einfachsten Mitteln die größte Spannung erzeugen sollte. Wie der Trailer ein einziger Geniestreich war, in dem er nichts anderes tat, als die Publikumsreaktionen mit der Nachtkamera zu filmen, so hatte auch [REC] selbst eine ursimple Prämisse: wir sind in einem Haus, etwas passiert, das Haus wird abgeriegelt, wir wissen nicht mehr als die Filmpersonen. Der durchgängige Einsatz der subjektiven Kamera verstärkt den Eindruck des Nichtwissens und steigert die klaustrophobische Anmutung ins Unendliche. Dazu gelingt es Belaguero dieses Mal die beiden gegensätzlichen Brüder Schock und Spannung gleichermaßen engagiert auftreten zu lassen, so dass bis in die letzten Minuten, die uns mit subjektiver Kamera im Nachtsichtmodus präsentiert werden, Angst in ihrer reinsten Form den Kinosessel hochschleicht. Endlich ein Horrorfilm, dessen Ende nichts kaputt, sondern alles nur noch schlimmer macht! (CI)
31. City Of God (Regie: Fernando Meirelles, Brasilien 2002. Originaltitel: Cidade de Deus)
Der Film „City of God“ ist stilprägend – bis heute. Die großen Filmemacher bedienen sich, wenn es um die realistische und gleichzeitig mitreißende Inszenierung der Favelas geht, immer wieder bei dem brasilianischen Kino-Exportschlager von Fernando Meirelles. Das Drehbuch orientiert sich an dem gleichnamigen Roman von Paulo Lins, der selbst in der „Stadt Gottes“ aufwuchs. Meirelles selbst machte der Film weltberühmt. (RH)
30. Alle Anderen (Regie: Maren Ade, Deutschland 2009)
Man kann es nicht oft genug sagen: Maren Ade ist die deutsche Kino-Entdeckung der letzten Dekade. „Alle Anderen“, ihr Zweitwerk, ist ein fast zweistündige Beziehungsmosaik, das sich durch scharfe Intelligenz auszeichnet und schwerelos alle Klischees umschifft, für die der deutsche Beziehungsfilm so berühmt-berüchtigt ist. Beide Hauptdarsteller, Birgit Minichmayr als Gitti und Lars Eidinger als Chris, haben so gar nichts von der aufdringlichen Art einer Katja Riemann oder dem enervierenden Gestus eines Heiner Lauterbach. “Alle Anderen” ist das Kino einer neuen Generation deutscher FilmemacherInnen… (RH)
29. Der Maschinist (Regie: Brad Anderson, Spanien 2004. Originaltitel: El maquinista)
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Christian Bale ist ohne Frage ein Ausnahme-Schauspieler. Vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung hat er inzischen den Ruf, ein Exzentriker zu sein und seine Rolle manchmal ein wenig zu ernst zu nehmen – die humorlose Darstellung des letzten Batmans spricht Bände. Humorlos ist auch „The Machinist“ über weite Strecken und damit der schmutzige, kleine Evil-Twin von „Fight Club“. Für die Rolle des Trevor Reznik, einem unter Schlaflosigkeit leidenden Fabrikarbeiter, verlor Christian Bale knapp 30 Kilogramm Körpergewicht – fast ein Drittel seines Gesamtgewichts. Das überragende Ende, das deprimierende Setting und die Schauspielperformance auch von Jennifer Jason Leigh machen den Film zu einem echten Geheimtipp. (RH)
28. In The Mood For Love (Regie: Wong Kar Wai, China 2000,OT: Fa yeung nin wa)
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=BnFjSHQFVkA&feature=related[/youtube]
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Dieser Arthouse-Film ist ein Plädoyer für Bilder und gegen Worte. Wong Kar-Wai erzählt in melancholischen Einstellungen die Geschichte zweier Paare, von denen zwei miteinander fremd gehen, während die beiden Betrogenen sich platonisch anfreunden. Aus dieser Freundschaft im Hotelzimmer 2046, wo die beiden Martial Arts-Geschichten schreiben, wird allmählich eine zarte Liebe.
Doch auch eine, die die beiden nicht leben wollen, weil ihr Ausgangspunkt Schmerz und Demütigung war. Und dann ist es für beide zu spät. Sie verlieren sich, suchen sich, finden sich nicht mehr. All diese Sätze werden jedoch nicht konkret ausgesprochen – weil die in Zeitlupe eingefangenen Bewegungen, sehnenden Blicke, verstohlenen Berührungen und klagenden Geigentöne schon alles gesagt haben. Wenn Wong Kar Wais „Chungking Express“ ein Film über die Liebe war, dann ist „In The Mood For Love“ einer über die ganz große Sehnsucht nach ihr. (SW)
27. The House Of The Devil (Regie: Ti West, USA 2009)
Wer Eighties-Horror mag, wird House Of The Devil lieben. Der Überraschungshit aus den USA ist eine einzige Hommage an die Slasherfilme der 80er Jahre geworden – nur in besser. Die knallgelben Opening Credits, der wirklich gute Marketinggag den Film stilecht auf VHS-Kassette zu veröffentlichen. Regisseur Ti West zieht dermaßen liebevoll sämtliche Register des Genres, wie es wohl nur spätgeborene Fans tun können (nicht ganz zufällig spielt der Film 1980 im Geburtsjahr Wests).
Zum Inhalt: Eine bankrotte College-Studentin nimmt in einem verlassenen viktorianischen Haus im Wald, einen mysteriösen Babysitterjob an. And then one thing leads to another wie die One Hit Wonder-Band The Fixx jetzt so schön sagen würde (und es in der besten Szene des Films sogar auch tut):
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Was bleibt, ist der vielleicht beste Horrorfilm in den von Torture Porn dominierten Nullerjahren und die Erkenntnis, dass alte Menschen noch immer zum gruseligsten Inventar eines jeden anständigen Horrorfilms gehören. Gutes kann so simpel sein! (KP)
26. Little Children (Regie: Todd Field, USA 2006)
Todd Fields Film „Little Children“ hat eine ganz besondere Bedeutung für die „Noughties“. Er seziert die biedere amerikanische Vorstadt-Romantik (die auch eine europäische ist!) und lässt das Grauen dort Einzug halten. Damit schließt er konsequent an „American Beauty“ an. Gleichzeitig werden die ur-amerikanischen Tugenden ad absurdum geführt: Selbstreflexion und Wahrnehmung, Community-Gedanke und Gerechtigkeitssinn werden im Verlauf der Geschichte und angesichts des Pädophilen Ronnie ins Gegenteil verkehrt. Am Ende steht die Welt, die eigentlich aufgeräumt sein sollte, Kopf. Und Kate Winslet liefert einen ihrer wenigen Karriere-Höhepunkte. Anschauen! (RH)
25. Artificial Intelligence: AI (Regie: Steven Spielberg, USA 2001)
Es hätte unter gar keinen Umständen funktionieren dürfen. Und zugegeben: für viele hat „A.I.“ auch nie funktioniert – ein Drehbuch an dem Stanley Kubrick Jahrzehnte gearbeitet hat, das er zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertigstellen konnte und kurz vor seinem Tod an das ewige Kind Steven Spielberg übergab. Tatsächlich ist „A.I.“ das beste aus zwei Welten: die strenge Kühle des späten Kubrick und die verspielte Romantik von Spielberg erzählen gemeinsam diese herzzerreissende Geschichte um ein Robertkind, das von seinen Menscheneltern ausgesetzt wird. Natürlich ist vieles in „A.I.“ ganz großer Kitsch – aber Spielberg bebildert Kubricks Drehbuch mit Szenen und Settings, die einem die Luft rauben. Der junge Haley Joel Osment übertrifft seine gespenstisch gute Darstellung aus „The Sixth Sense“ hier noch einmal mit einer nuancierten Performance, dank der man das von ihm gespielte Roboterkind ins Herz schließt wie das liebste Kuscheltier als man noch auf allen Vieren krabbelte. Spielberg erschafft mit der untergegangenen Zukunftsstadt im Meer, seinem Atlantisnewyork, die schönste Dystopie des Jahrzehnts – nicht einmal der Meister selbst, Kubrick, hätte diese Bilder mit größerer Wucht auf Film bannen können. Ein wunderbarer Film über Liebe und Vertrauen, Enttäuschung und Verzweiflung. (CI)
24. Juno (Regie: Jason Reitman, USA 2007)
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Wer war nach Juno eigentlich nicht in Ellen Page verliebt? Für solche Filme wurden Adjektive wie quirky und twee geradezu erfunden. Denn wirklich alles, aber auch ALLES, ist an der Coming Of Age-Komödie von Diablo Cody niedlich und skurril: die gezeichnete Titelsequenz, Ellen Pages Burgertelefon, die schlagfertigen Dialoge der Hauptdarsteller, das Stirnband von Michael Cera, der charmante Indiesoundtrack… Wie aus dem Handbuch für Indiefilme, aber immer noch tausendmal besser als Dawsons Creek damals, hm?! (KP)
23. Irréversible (Regie: Gaspar Noé, Frankreich 2002)
Der härteste Film des Jahrzehnts. In jeder Hinsicht. Und auch der konsequenteste. „Antichrist“ hin oder her – es gab nur einen Film, der in den letzten zehn Jahren wirklich an die Grenzen des Erträglichen ging (und darüber hinaus). Gaspar Noés verstörender Geniestreich bricht auf so vielen Ebenen mit den Konventionen des Kinos und der Darstellung von Gewalt, dass man gar nicht glauben mag, dass er hier nach dem gleichfalls hervorragenden „Seul Contre Tous“ erst seinen zweiten Film drehte.
„Irréversible“ war dank eines brutalen Totschlags (talk about „zu Brei schlagen“ wörtlich nehmen…) in der Anfangssequenz und einer neunminütigen Vergewaltigungsszene ein „Skandalfilm“. Skandal ist aber vielmehr, wie falsch verstanden dieses eindrucksvolle Plädoyer gegen Filmgewalt und die Beiläufigkeit ihrer Rezeption war! Seit Pasolinis „Salo“ hatte kein Regisseur mehr den Mut, soweit zu gehen, dabei nie exploitativ – sondern bewusst unerträglich! – zu werden und zugleich unablässig mit dem Zuschauer in einen Diskurs zu treten, wie er Bilder auf der Leinwand verarbeitet und welche Konsequenzen er daraus zieht. Der vielleicht wichtigste Film des Jahrzehnts, ein Muss für jeden, der ihn ertragen kann: Siehst du, Haneke, so wird das gemacht! (CI)
22. The Eternal Sunshine Of The Spotless Mind (Regie: Michel Gondry, USA 2004. Dt. Titel: Vergiss Mein Nicht)
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=JHRRk_0Gi1I&feature=related[/youtube]
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Den Exliebhaber selektiv aus dem Gedächtnis löschen, um wieder glücklich leben zu können?
Das geht. Zumindest in diesem Film. Jim Carrey tut es. Doch damit alle Erinnerungen an seine Ex aus seinem Gehirn gelöscht werden können, muss er noch einmal durch alle Höhen und Tiefen der Beziehung, in völlig chaotischer Reihenfolge, bis hin zum Moment des Kennenlernens.
Zu spät wird ihm bewusst, dass er seine frühere Liebe gar nicht vergessen will, und er versucht, auszusteigen. „Vergiss mein nicht!“ ist ein philosophischer und äußerst tragischer Diskurs über Gedächtnis und Erinnerung, aber auch ein Film über die ästhetischen Möglichkeiten des Films. In schöneren, verwirrenderen, romantischeren und schmerzhafteren Bildern waren Gefühle, Gedanken und Erinnerungsfetzen noch nie zu sehen. (SW)
21. Waltz With Bashir (Regie: Ari Folman, Israel 2008. OT: Vals Im Bashir)
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Nicht nur der Fastbundespräsident war beeindruckt von Waltz With Bashir – auch das Popblog! Der israelische Zeichentrickfilm ist nicht nur technisch beeindruckend, er schafft es auch, Bilder vom Grauen des Krieges zu finden, die man so noch nie gesehen hat – und nutzt den größeren visuellen Spielraum der Zeichnungen im Vergleich zum Realbild zu seinen Gunsten aus. Hier wird der Wahnsinn des Krieges in psychedelisches Flimmern übersetzt, treibt die Musik die Kämpfer voran, findet Folman Bilder von grauenvoller Schönheit. Hinter all der offensichtlichen Kriegskritik findet sich in „Waltz With Bashir“ aber auch eine Meditation über das eigene Erinnern und die zwangsläufige Subjektivität einer jeden Erinnerung. Ein ohne Abstriche gelungener Film. (CI)
(Texte: Robert Heldner, Christian Ihle, Katja Peglow, Silvia Weber, v.l.n.r.)
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Teil 1: Plätze 35 – 50
Teil 3: Plätze 20 – 11
Teil 4: Plätze 10 – 1
Juchhei! Jetzt hab ich tatsächlich 15 Minuten gesucht, fast hätte ich eine Mail geschrieben. Vielen Dank, auch hier. Wunderbar, schon wieder Sachen entdeckt.