vonChristian Ihle 08.10.2019

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

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„Midsommar“ ist ein Film, an dem sich Ari Aster sein Leben lang wird messen lassen müssen und ein Werk, das in 20 Jahren noch als Ereignis gelten wird.

Nahezu alles an „Midsommar“ ist Perfektion. Die unheimliche Stimmung, die Aster mit simpelsten Mitteln im Vorspann erzeugt (eine Mail, keine Antwort) und die die atmosphärische Vergiftung für die kommenden zweieinhalb Stunden legen wird.
Die punktgenau eingefangene Beziehung der beiden Hauptpersonen im passiv-aggressiven Endstadium, die genug vorzeichnet, ohne die endgültige Auflösung der Beziehung tatsächlich schon zu prophezeien.
Und dann natürlich: der Trip nach Schweden. Shot um Shot, Szene um Szene gelingen Aster hier Bilder, die selbst den offensichtlichen „Wicker Man“ – Vergleich in den Hintergrund treten lassen – ich kann hier nur an Kubrick denken, wer solche Tableaus so inszenieren konnte.

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„Midsommar“ hat das beste World Building seit langem. Alles ist hier schlüssig, mit Geduld hergeleitet, aus sich selbst ergebend. Nichts einfach nur behauptet oder platt erklärt. Das World Building von „Midsommar“ ist so gut, dass ich nach über einer Stunde Spielzeit, in der praktisch nichts passiert außer einem Sommerausflug von vier amerikanischen Teenagern nach Schweden, sogar wollte, dass hier weiter einfach nichts passieren soll, dass der Plot gar nicht einsetzen muss, dass ich einfach dieser Welt beim Entstehen zuschauen will, mich in die Absonderlichkeiten der schwedischen Kommune wie den zwischenmenschlichen Spannungen seiner amerikanischen Besucher hineinlegen und in dieser Welt verschwinden möchte.

Wenn der erste Hammerschlag die zweite Hälfte des Films einleitet, ist es gerade nicht die Überraschung darüber dass und was passiert, sondern wie Aster diese Szene einfängt: eine bedrückende, anderweltliche Schönheit in der Vernichtung, die wir mit dem gleichen Staunen wie die amerikanischen Fremden erleben.
Gerade in diesen Momenten ist „Midsommar“ natürlich ein Film in der Tradition des Folk Horrors wie des bereits erwähnten „Wicker Man“ oder „The Blood on Satan’s Claw“, aber Aster zeigt darüberhinaus dass man auch 2019 noch einen Horrorfilm komplett ohne jump scares, schnelle Schnitte, Action oder Tonspurschrecken erzählen kann. Deshalb ist die Atmosphäre von „Midsommar“ auch nicht gruselig oder spannend, sondern einnehmend und beklemmend, Hals und Herz zuschnürend.

Dazu gelingt es Aster durchgehend eine Ambivalenz in seinen Figuren aufzubauen. Weder geht er den offensichtlichen Weg, dass die Amerikaner die Eindringlinge von außen sind – auch wenn gerade die drei Männer die Ignoranz (Christian), Arroganz (Mark) und Ausbeutung (Josh) durch die westliche Welt/Kapitalismus symbolisieren – und die Natur in Form der heidnischen Kommune zurückschlägt, noch wählt er den Weg der Erkenntnis, Befreiung und den letztendlichen Triumph der Geläuterten. Die beiden Seiten bleiben im Gleichgewicht, haben ihr Licht wie ihren Schatten.

Herz der Geschichte ist aber natürlich (eine fantastische!) Florence Pugh in der Rolle der traumatisierten Dani, die von Trauer um ihre Famlie geplagt wird und in ihrer Unsicherheit über die Beziehung zu ihrem Freund Christian gefangen ist. Dani sucht widerwillig einen Weg nach außen und ist vielleicht die Einzige, die eine wie auch immer geartete Erlösung findet. Doch auch diese Erlösung bleibt ambivalent, denn stellt Aster nicht letztenendes die Frage, inwieweit eine Befreiung durch andere überhaupt möglich ist oder ob dadurch nur die eine durch die andere Gefangenschaft des Selbst getauscht wird?

Mit „Midsommar“ ist Ari Aster nach seinem hervorragenden Debütfilm „Hereditary“ (mein Film des Jahres 2018) nun der zweite Paukenschlag gelungen, der zudem vom Scope der Erzählung und seinen Bildern einen Quantensprung zu seinem Debüt darstellt.

Wie Sean Baker, Regisseur von „Florida Project“ über Aster und „Midsommar“ völlig zu recht geschrieben hat:

„Such an immersive, funny, disturbing and beautiful experience. Right now, it’s my fave of the year.
If Ari makes one more horror film of this quality level, he will be in the ranks of Carpenter, Romero, Craven.“

All hail Ari Aster!

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kommentare

  • Ja stimmt, im Rückblick kann man „Hereditary“ fast als Fingerübung vor dem großen Werk „Midsommar“ sehen. Gerade das Ende von „Hereditary“, das ja schon sehr eigene Wege bestritt, wirkt jetzt fast wie ein „Midsommar“ in klein.

  • War auch sehr angetan von „Midsommar“. Löst sich noch stärker als „Hereditary“ von den Horrorschablonen und macht etwas ganz Eigenes. An Aster kommt im Horrorgenre aktuell nichts ran – leider ist die Konkurrenz auch nicht sonderlich am Start.

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