vonChristian Ihle 09.08.2023

Monarchie & Alltag

Neue Bands und wichtige Filme: „As long as the music’s loud enough, we won’t hear the world falling apart“.

Mehr über diesen Blog

TRNSMT ist ein großes Festival in einem grünen Park mitten in Glasgow. Da es bewölkte 19 Grad hatte, also brüllenden Hochsommer für schottische Verhältnisse, entschieden sich die anwesenden ZuschauerInnen für maximale Textilknappheit. Ich bin mir sicher: zur gleichen Zeit waren die Strandbesucher in, sagen wir, Mallorca verhüllter gekleidet. Entgegen des manchmal über Glasgow kursierenden Klischees einer harttrinkenden Stadt, bei der man lieber aufpassen sollte, weil im Zweifel eher nicht gefragt wird, war das Festival von großer Entspanntheit, bester Organisation, tollem Street Food und Unkompliziertheit.

Das Publikum ist breit gemischt, aber mit deutlichem Einschlag zur Jugend. Das Programm nicht minder breit aufgestellt: vor Pulp als Headliner spielte ein One Direction – Mitglied, davor George Ezra, davor aber wiederum Paul Heaton von The Beautiful South bzw. den Housemartins, also im Grunde sogar ein „ältereres Semester“ als Jarvis (zumindest was die ersten Charterfolge anging).

“This is a night you will remember for the rest of your life. You are about to see the 529th concert by Pulp.“

Pulp spielten ihr 529. Konzert und begannen wunderbar theatralisch hinter einem langsam auffahrenden Theatervorhang mit der vertonten Kurzgeschichte „I Spy“. Song Zwei war dann sofort „Disco 2000“ und hier konnte man schon sehen, wie sehr sich Pulp in das kollektive Unterbewusstsein der Insel eingebrannt haben, denn unabhängig von Alter, Kleidung und Trunkenheitsgrad war wilde, stylische Extase order of the day.
Pulp konzentrierten sich stark auf ihr „Different Class“-Album, spielten dafür nur den Titelsong ihres anderen Jahrzehntalbums „This Is Hardcore“, überraschten aber mit einer B-Seite im Zugabenteil, dem sehr tollen, eigentlich nur aus der Zuarbeit auf einen einzigen Klimax bestehenden „Like A Friend“. Auch wenn der Kautrock-Exkurs zu „Weeds“ mittig im Set das Publikum kurz zu verlieren drohte, war Pulp ein gefeierter Headliner und ist Jarvis auch in seinen alten Jahren noch der gleiche linkisch-brillante Performer, der den Act des Auftritts, des Tanzens im gleichen Moment zelebrieren kann wie er ihn in seiner ihm eigenen Art immer zugleich etwas ad absurdum führt und damit dekonstruiert. „Something changed“? Ne. Erinnert mich immer noch an das erste Mal.

“Thank you for being here. It’s really boring without an audience. We did it the other day, it’s called a rehearsal.“ (Jarvis)

Paul Heaton, Glasgow TRNSMT

Die anderen Acts:

Paul Heaton: ebenfalls erstaunlich gefeierter Auftritt, der sich aus Solostücken wie Songs aus dem Beautiful South & Housemartins Backcatalog zusammensetzte. Erst jetzt ist mir so richtig aufgefallen, wie sehr die Housemartins eigentlich eine Soulband mit anderen Mitteln war.
George Ezra: live eher noch mehr Middle Of The Road Songwriter-Pop. Klar, sicher besser als Tim Bendzko, aber in voller Bandbehandlung live verliert ein so zarter kleiner Folkie wie „Budapest“ schon enorm. Dafür zugegeben: man versteht schon, warum „Shotgun“ ein veritabler Hit war.
Swim School: junge schottische Band, die stilistisch noch etwas zu breit scheint, um eine eindeutige Stimme zu finden, aber dafür in manchen Momenten sehr schönen, hymnischen Westcoast-Pop spielte, nicht unverwandt zu „California Daze“ von Peace beispielsweise.

High Vis, Glasgow TRNSMT

High Vis: dass die Jungs aus dem Hardcore-Bereich kommen, ist stilistisch nicht zu übersehen. Musikalisch vereinen sie aber diese Hardcore-Punk-Attitude mit Oasis-Refrains und Madchester-Drums, was insgesamt doch eine ziemlich interessante Mischung ergibt. Stark, aber verblüffend früh im Lineup. In Berlin haben sie zuletzt das SO36 restlos ausverkauft, in Glasgow spielen die Briten auf der kleinsten Garten-Bühne um 14 Uhr.
Warmduscher: aus dem Brixton-Umfeld der Fat White Family kommend, sehen sich Warmduscher sicher in der Devo – oder LCD Soundsystem – Tradition, ohne deren Händchen für Melodien zu haben. Dennoch einige der enthusiastischsten Publikumreaktionen des ganzen Festivals für diesen groove-orientierten Post-Punk.
The View: denkt man auch nicht, dass es die noch gibt! in den späten 2000er zur Zeit des Landfill-Indie-Phänomens unter der Tutorenschaft von Pete Doherty für einen kurzen Moment im Rampenlicht, ist ihr „Same Jeans“ immer noch ein schöner Indiekracher, wenngleich nicht zwingend ein poetischer Höhepunkt der modernen Gitarrenmusik. Auf die Setlänge von einer Stunde dann doch eher öde.
Hamish Hawk: schottischer Singer/Songwriter, der in Songs wie „The Mauritian Badminton Doubles Champion, 1973“ manchmal an die Decemberists erinnert. Mit interessanten Ansätzen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/popblog/2023/08/09/pulp-live-in-glasgow-nothing-changed/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert