vonLeisz Shernhart 15.05.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Genau 18 Tage sind vergangen, seit sich mir Iljushans Passwort offenbarte. Sein Werk postum, zumindest in Teilen, herauszugeben, soll mir ein Ehrenamt sein, doch leider gestaltet es sich schwierig. Die prosaischen Pflichten des täglichen Lebens verunmöglichen es mir, mich auf mein Schaffen zu konzentrieren. Auch meine Tochter beansprucht mich sehr, wenn sie da ist.

So sichte ich Jushis Texte ausschließlich des Nachts. Es ist schwer, mein Ukrainisch ist schlecht, die Texte poetisch verfremdet. Eine besondere Form der Sprachverwendung, Inversion der herkömmlichen Syntax, rhetorische Mittel, exotischer Wortschatz. Bisweilen denke ich, Jushi hält mich zum Narren. An schlechten Tagen verschwimmen mir auch die Buchstaben in einem Tränenschleier. Dann trauere ich um ihn.

In manchen Nächten frage ich mich überdies ernsthaft, ob Iljushan überhaupt wollte, dass ich das hier tue, doch Nataliya bestärkt mich darin, wenngleich sie sich von den Texten selbst fernhält. Eine eigentümliche Art der Trauerarbeit, doch erlaubt ist, was gefällt, es gibt dabei kein richtig oder falsch.

Am Montag, den 02.05.2022, entdecke ich nachts die nachfolgende Parabel. Ein großartiger Text! Jushi verstand sich selbst immer als Lyriker, doch diese Prosa ist überragend! Er selbst hielt sie wohl für nichts Besonderes, denn ich habe die Parabel bei zufälligem Stöbern in seinem Ausschussordner entdeckt. Heute erst bin ich mit der letzten Version meiner Übersetzung fertig geworden. Der Text trägt im Ukrainischen den Titel аварія. Ich nenne sie „Der Absturz“. Das folgende Zitat gibt den Wortlaut meiner Übersetzung der Parabel wieder. Die Worte eines toten Bruders…


• Iljushan Berenskiev – Der Absturz

Der Absturz

 

Stelle man sich einmal Folgendes vor:

 

Ein Künstler sitzt in einem Passierflugzeug, befindet sich auf dem Weg zu einem Vorspiel. Einen vollständig öden Landstrich überquerend, gelangt das Luftfahrzeug in schweres Wetter und zerschellt auf dem wüsten Gelände. Niemand überlebt den Zwischenfall, einzig der Künstler kriecht, leicht versehrt mit ein paar Beulen, aus den Trümmern. Panisch rafft er ein paar Habseligkeiten, welche er der hochtechnisierten Karkasse abzutrotzen vermag. Darunter befinden sich eine Notration, ein eiserner Scherben, die Jacke eines zerschmetterten Flugbegleiters, eine mit Wasser gefüllte Trinkflasche sowie ein Druckwerk, das ihm in einem holotischen Chaos wie beiläufig in die Hände fällt. All dies lässt er in eine blutbefleckte Rückentasche gleiten. Überdies trägt er nichts als dieselbe Kleidung wie beim Abflug der Maschine bei sich am Leib. Wo er nun ist, ist es kalt. Fürchterliche Beklemmung bemächtigt sich des Künstlers. Ahnungslos und aufgepeitscht. Beherzt stapft er los, die Richtung wahllos. Der Himmel beginnt bereits zu dämmern. Nach einigen hundert Metern bricht der tapfere Cruisoe zusammen. Als er das Bewusstsein wiedererlangt, müssen einige Stunden vergangen sein, es herrscht bereits finstere Nacht. Halb kriechend, halb stolpernd und tastend findet der Gestrandete glücklich zurück zum Wrack, welches ihm Schutz bietet vor Wind und Wetter. Zusammengekauert zwischen den Trümmern verbringt er die Nacht. Er spürt nun die Schmerzen seiner Versehrung, wimmert, weint bitterliche Tränen. Wie sehr wünscht er sich nun die Welt, die ihn doch oft so schmerzlich schmähte. Wachträumend und fest in die zerfetzte Jacke des Stewarts gehüllt, überdauert er die Zeit bis zum Morgen. Als die Sonne aufgeht, ist es eine Offenbarung. Die Sonnenstrahlen umschmeicheln ihn, küssen ihn wach. Er schöpft neue Hoffnung. Fast ist es schön. Die Flasche hat der Bedauernswerte längst geleert, die Notration verzehrt. So fällt ihm beim Durchwühlen der Tasche das Druckwerk in die Hände. Es scheint, als habe es den Unfall gänzlich unbeschadet überstanden. Die Lektüre eines Mitreisenden, höchst wahrscheinlich. Der Künstler betastet das Buch. Ein fester Einband, hochwertig, blau, scheinbar ungelesen und makellos. Er zögert, spart es sich auf. Dann schlägt er das Druckwerk auf. Wie groß aber ist seine Enttäuschung, als er den Druck in einer ihm völlig unbekannten Sprache gewahrt. Nicht einmal das Alphabet kommt ihm bekannt vor. Weder Lateinisch noch Kyrillisch oder Arabisch. Oder vielleicht doch? Was ist das für ein Buch? Was mag es sein? Prosa höchstwahrscheinlich, keine Versform. Ein längerer Erzähltext, womöglich ein Roman. Eine weitere Nacht verbringt der Schiffbrüchige hadernd, frierend, hungrig, das Schicksal verwünschend. Abermals untersucht er am Tage das stählerne Grab. Die Leichen sind nun starr. Der Künstler bedeckt sie, sofern erreichbar, mit Resten der Verkleidung, spricht ein Gebet und schweigt. Stechende Schmerzen zermartern ihm den Schädel, Hunger und Durst zerpeinigen ihn. Der kargen Umgebung lässt sich verschwendend wenig abringen, ein paar Tautropfen des Morgens, einige Graswurzeln, ausgegraben mit dem stählernen Spaten. Eine weitere Nacht vergeht in komatösem Taumel. Am dritten Tage besinnt sich der Hungerleider des Buches. Erneut prüft er es, streichelt es, schmiegt sich daran, schlägt es auf, betastet es, verzehrt seinen Geruch, ahnt auch nur die leichteste Erhebung der namenlosen Druckerschwärze auf dem unentdeckten Weiß. Und endlich beginnt er zu lesen. Wenngleich die exotischen Schriftzeichen ihm anonym und unzugänglich sind, so liest er sie doch. Die schönsten Sätze müssen es sein, die er verzehrt. Hunger und Durst emigrieren ob der Lektüre dieser heiligsten aller Schriften. Wie berauscht, atmet der armselige Rezipient Wort für Wort, Satz für Satz in der ihm fremdartigen Diktion. Er atmet sie ein, er atmet sie aus. Er nimmt sie zu sich und scheidet sie aus. So verbringt er den Tag. Beinahe glücklich versinkt er des Abends in dämmrigen Schlaf. Die nächsten beiden Tage vergehen mit Lektüre. Jeder neue Satz hat tausendfache Bedeutung. Es ist ein Roman. Ein Figureninventar erscheint, tanzt in verschiedensten Formationen zu dutzenden von Handlungsmelodien. Mal langsam, mal schnell. Erzählfäden wickeln sich von selbst von der Spindel und verweben sich zu glänzender Fantasie. Kaskaden prächtigster Prosa stürzen in üppig bewachsene geistreiche Täler. Wie herrlich ist dieses Buch! Inzwischen liest der Gestrandete auch des Nachts. Trotz Dunkelheit erkennt er die Farben der schillernd illustrierten Dichtung. Indes bemerkt der Leser nicht, wie sein körperlicher Zustand immer desolater wird. Diametral zu seinem geistigen Glück fällt sein fleischlicher Leib dem anwachsenden Zerfall anheim. Als er die letzte Seite beendet, schließt er die Augen und wird sie nicht wieder öffnen, bis er, wie durch ein Wunder gerettet, in einem Krankenhausbett erwacht. Als die Suchtrupps ihn finden, so sagt man ihm später, sei es denkbar schlecht um ihn gestanden. Ein Buch umklammernd habe man ihn halbtot als einzigen Überlebenden aus den Trümmern geborgen. Sein Fortdauern gleiche einem sensationellen Phänomen. Ein Wunder, wie die Presse es nenne. Noch im Krankenlager beginnt der Künstler die fremdartige Sprache seiner heiligen Schrift, die man neben ihn auf den Nachttisch gelegt hatte, zu studieren. Nachdem er vollständig wiederhergestellt ist, intensiviert er seine Studien, richtet all sein Streben darauf. Zwei Wochen kostet es ihn alleine, das exotische Alphabet sich anzueignen. Drei weitere Monate, bis er die Sprache leidlich beherrscht. Während dieser Zeit rührt er das Buch nicht an. Jede neue Vokabel, jede weitere Grammatiklektion steigern die Vorfreude ins Unermessliche. Was ist das für ein Buch? Was mag es sein? Endlich ist der Tag gekommen. Der Künstler ist der Meinung, er beherrsche die fremde Zunge nun in ausreichendem Maße, um das Kunstwerk zu zelebrieren. Er öffnet es, liest die ersten Seiten, liest sie noch einmal. Er liest weiter, liest, schlägt Vokabeln nach, liest weiter und beginnt sich zu wundern. Er legt das Buch beiseite, nimmt es erneut zur Hand, liest den kompletten Anfang noch einmal und einige Seiten weiter. Mit wachsender Gewissheit bemächtigt sich ein gewisses Gefühl des Lesenden. Es ist das Gefühl des Soldaten, dessen Kamerad direkt neben ihm auf dem Schlachtfeld fällt. Blutbefleckt hält der Soldat inne, betrachtet die Reste des Gefallenen Waffenbruders, einen Wimpernschlag, eine Ewigkeit lang. Schließlich nimmt er zitternd den Helm vom Kopf. Er tut dies langsam, die Hand sinkt und sein Helm fällt auf den blutdurchtränkten Boden des Feldes. Es gibt nun keine Hoffnung mehr. Der Kampf ist verloren, gänzlich ungeachtet des Ausgangs der Schlacht. Dieses Gefühl empfindend, legt der Narr den Text beiseite, denn er weiß nun, es ist ein Groschenroman…


Iljushan Berenskiev (1981 – 2022) – Der Absturz
Originaltitel аварія, aus dem Ukrainischen übersetzt und herausgegeben von Leisz Shernhart, redaktionell nicht überarbeitet.

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