vonNora 23.02.2023

Gesellschaft auseinander puzzlen

Gesellschaft: ein Puzzle aus vielen Teilen. Blog-Autorin Nora nimmt es kritisch auseinander und schafft ein gerechteres Bild.

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Ich habe 2020 mein Abitur gemacht und das sollte mir eine Grundbildung in lebenswichtigen Bereichen geben. Warum wurde ich dann nicht über meinen Körper aufgeklärt? Mein Biologieunterricht bestand entweder aus dem Aufbau der Zelle oder anderen Themen, die man in der Natur beobachten kann. Der Sexualkundeunterricht wurde immer ans Ende des Schuljahres geschoben. So weit weg wie möglich. Ich habe gespürt, dass es den Lehrpersonen unangenehm war. Diese Scham wurde auf die Schüler:innen übertragen und diese Scham führte dazu, dass wir uns nicht richtig mit unseren Körpern auskennen. Besonders weibliche Sexualität ist ein großes Tabuthema.

Ich habe einzelne Erinnerungsstücke, an die ich mich aus meinem Sexualkundeunterricht erinnern kann: Videos von „Du bist kein Werwolf“. Kleine Boxen mit Tampons und Binden, die mir vorkamen, als müsste man sie verstecken. Getrennte Gruppen in Mädchen und Jungen. Wir Mädchen saßen auf den Flur und sollten Kondome über einen Holzpenis ziehen. Eine Mitschülerin erzählte lang und breit darüber, dass dieser Kondom für ihren Freund ja viel zu klein wäre und nur zwei von uns haben den Kondom wirklich nach Anleitung auf die Holzpenise gezogen. Aus dem Klassenraum von den Jungen hörte man die ganze Zeit nur Lachen. Mir war das alles einfach nur unangenehm und es wurde immer nur gefragt: Habt ihr Fragen? Aber ich hatte irgendwie keine Fragen. Ich wusste nicht, was ich fragen könnte.

Ich kann mir gut vorstellen, dass es nie ganz leicht ist mit Jugendlichen über Sexualität, sich verändernde Körper und Liebe zu sprechen, aber es ist ganz sicher noch schwieriger, wenn es sogar den Lehrpersonen unangenehm ist. Natürlich ist es gut den Unterricht für Fragen von den Schüler:innen offen zu halten, aber Themen, die die Schüler:innen vielleicht noch nicht auf dem Schirm haben und wichtig sind, sollten trotzdem angesprochen werden:

Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass bei Liebe und Sex nicht immer nur von Mann und Frau gesprochen wird. Unterschiedliche sexuelle Orientierungen und auch Geschlechtsidentitäten gehören in den Unterricht. Das würde nicht nur Menschen aus der queeren Community helfen, sich akzeptierter zu fühlen oder sich überhaupt irgendwo wieder zu erkennen. Es würde auch allen anderen Menschen helfen, sensibilisiert zu werden und um unterstützend für die Community da zu sein.

Der weibliche Zyklus wurde rein von den biologischen Vorgängen besprochen: Eissprung, Aufbau der Schleimhaut und Abstoßen dieser, wenn die Befruchtung ausbleibt. Leider wurde dabei jedoch nicht auf die Effekte im ganzen Körper eingegangen oder hilfreiche Orientierung im Bereich der Verhütung, Periodenpodukten oder anderem gegeben. Es hätte geholfen zu wissen, welche Symptome mit der Periode einhergehen, was PMS ist, was eine Menstruationstasse ist. Bei der Verhütung heißt es oft: Pille ist die sicherste Verhütung und Kondome schützen vor Geschlechtskrankheiten. Die zahlreichen und zum Teil schweren Nebenwirkungen der Pille werden dabei oft ausgeblendet. Und niemand spricht über Verhütung bei gleichgeschlechtlichem Geschlechtsverkehr. Was ist also, wenn sich Schüler:innen gegen eine Verhütung mit Kondom oder Pille entscheiden? Was ist, wenn junge Menschen mit Gebärmutter auf ihren Körper hören und merken, dass der Kapitalismus und das Patriarchat ein System erschaffen haben, dass sich am 24-Stunden-Hormonzykus des Mannes orientiert?

Aber nicht nur über die biologischen Vorgänge sollte gesprochen werden, auch über gesellschaftliche Auswirkungen des Patriarchats und unserer heteronormativen Gesellschaft. Warum werden die Klassen in Mädchen und Jungen getrennt? Es kann bestimmt sinnvoll sein, die Klassen zweitweise in kleinere Gruppen aufzuteilen und somit eine vertrautere Atmosphäre zu schaffen. Doch über beispielsweise die Periode sollten alle Bescheid wissen. Dann würde vielleicht auch nicht mehr so oft bei Frauen, die sich aufregen oder emotional sind, gefragt werden, ob sie gerade ihre Tage haben. Es sollte außerdem im Unterricht Raum geben, um über Grenzen, Konsens und traditionelle Rollenverteilungen zu reden. Es sollte zur Normalität werden, dass Jugendliche einvernehmlich handeln. Es sollte Normalität sein, dass über toxische und gesunde Beziehungen, Machtverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten bei Gefahrensituationen gesprochen wird. Es sollten Schönheitsideale aufgegriffen werden und warum wir das Gefühl haben, ihnen folgen zu müssen. Über das Konstrukt von „Jungfräulichkeit“ und warum es bei Frauen immer noch als „rein“ und „gut“ angesehen wird, sollte geredet werden und über die gesellschaftlichen Vorstellungen vom perfekten ersten Mal.

Auch von Lust sollte gesprochen werden. Es ist vollkommen veraltet, dass Sex als etwas gilt, dass Mann und Frau tun, wenn sie sich ganz doll lieben und sie ein Kind wollen. Lust, besonders weibliche Lust, ist ein Tabu. Warum sollen Frauen sich für alles schämen? Auch Sexarbeit sollte thematisiert werden. Nicht nur zur Prävention von Sexarbeit von Minderjährigen oder Zwangsprostitution, sondern auch, um diese Arbeit zu enttabuisieren.

Der Sexualkundeunterricht kann vielfältige Themen haben, aber vor allem sollte er auf unsere plurale und offene Gesellschaft angepasst werden und die Tabuthemen, Scham und Mythen, die noch bestehen, abbauen. Ich habe mich durch das Internet aufgeklärt. Der Staat sollte diese wichtigen Themen jedoch nicht einfach aus der Hand geben. Und wenn die Lehrpersonen sich dieser Aufklärung nicht gewachsen fühlen, sollen sie bitte außerschulische Sexualpädagog:innen hinzuziehen.

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