vonPhilipp Rhensius 07.07.2022

Reality Glitch

Alltagsszenen anhalten, während sie passieren. Sie neu zusammensetzen. Mal poetisch, mal hyperreal, mal wtf!?

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Zum ersten Mal wirklich im Westen. Wo auch immer das ist. Stehe auf kalifornischem Sandstrand. Schaue zum ersten Mal auf, keine Ahnung, China oder so.

Tiefe Nacht, im Rücken ein Vergnügungspark, hell beleuchtet, niemand sonst da. Irgendein Schiff oder das frei stehende Rohr eines Rollercoasters gibt alle 17 Sekunden einen nebelhornartigen Ton von sich. Wie eine verstärkte Endzeitvibration eines riesigen schwimmenden Handys da drüben in der Bucht. Klingt überhaupt nicht wie am Mittelmeer oder Atlantik.

Die Lifeguard-Kabinen sind auch anders. Sehen viel gepflegter aus als in Spanien oder Deutschland, mit dem satten Blau und dem auf Stelzen gebauten Holzhaus. Ich glaube, es gibt einen nationalen Heldenmythos für Rettungsschwimmer. Deshalb wurde David Hasselhoff hier einst groß. Oder wurden Rettungsschwimmer erst durch ihn groß? Ich glaube, Lifeguards sind die letzte Spezies, bei denen das Moralprinzip maximal binär und dennoch maximal erwünscht ist. Wenn sie ihr Haus verlassen, gibt es nur Leben und Tod.

Griff nach den Sternen

Kurz zusammen zucken. Ein Typ wie aus der Dunkelheit gebeamt plötzlich vor mir. Er blickt durch abwesende Augen, bewegt sich ruckartig, als würde der Prozessor noch rendern. Bückt sich, hebt einen Zigarettenstummel auf. Er ist einer der vielen Obdachlosen, die hier leben und ganz anders sind als in Berlin: so wie ich und du, sie tragen Sneaker, Hoodie und okaye Frisuren und greifen  nach den Sternen, wo auch immer sie sind.

„I get this feeling, I reach for the sky won’t you wait back for me“ oder so geht der Refrain, der mir entgegen blasted ein paar Stunden später auf einem riesigen Parkplatz in Santa Cruz, so groß wie 15 Fußballfelder. Auf der gesamten Fläche parken nur 9 Autos.

Am nächsten Tag fragt eine junge Frau im Collegealter mit Ordner in der Hand in Downtown einen älteren Mann mit langem weißen Bart im beiläufigen Ton: „Was denken Sie, ist heute das größte Problem der Menschheit? Ich beschleunige den Schritt, um die Antwort nicht hören zu müssen.

„In Kalifornien sind die Dudes so cute wie sie dumm sind“, schreibt Morgan Parker in ihrem Gedichtband „Other People’s Comfort Keeps Me Up At Night“.

Ist Luft kostenlos?

Vor einer Bar drei Senior*innen in bunten Shirts. Sie lassen eine Bong herumgehen. Nach jedem erfolgreich durchgezogenen Kick haben sie einen neuen Einfall für ihre sich im Kreis drehende Diskussion. Die Bar ist eigentlich ein Konzertclub. Es spielen drei lokale Punkrockbands. „Only cash“, sagt der Türsteher. „Come on“, sage ich mit Ausrufezeichen. „Ich komme extra aus Berlin hierher“. Er lächelt, doch bleibt bei seinem Standpunkt.

Auf einem Schild des Meadow Walk steht: „Entengras reist per Anhalter durch das Moor auf den Federn von Vögeln.“

Ich bin hineingeworfen in die Wirklichkeit und versuche, ihr zu folgen. Sie will trainiert werden wie ein Muskel. Oder gestreichelt werden wie eine Katze.

Wünsche sind die zweite Natur. Die erste ist hier im Regenwald. Auf dem mit Rest-Tinte gedruckten Infoblatt des lokalen Vereins steht: „Zähle alle umgestürzten Redwood Bäume auf dem Weg zurück.“ Bin ich in der Schule oder was? Ich zähle trotzdem, weil: „Zahlen und Geld haben eines gemeinsam. Sie sind nichts außer Symbole, bewegen aber alles.“ Schreibt Franco Bifo Berardi.

Billboard am Freeway 13: „Du denkst Luft ist kostenlos, bevor du eine Tüte Chips kaufst.“

Das Charisma von Bananenschnecken

Vor dem Café ein Van mit aufgedrucktem Text:

2 Cor 11:14 Satan disguises Angel Light
Honor Glory Power God Jesus Holy Ghost
Paul Burdick Rebecca Connoly
Witch Whores of Satan Bible Days nahum 3:4
Blind leading the blind Matthew 15:14

Ich schieße ein Foto und lade es hoch als found Art. Nur eine Person, die dieses Foto nach 17 Stunden sah, sendet ein Herz. Das reicht nicht. Ich habe Hunger. Frage mich: Woher bekomme ich um diese Zeit an diesem Ort der Welt jetzt noch ein Herz?

Na klar: Im „Redwood Trail Loop.“

Bananenschnecken wird ein beeindruckendes Charisma nachgesagt.

Eine Frau fragt. „Any questions?“ Ich sage: „Nein Danke. Ich bin fertig hier.“ Sie sagt: „Sie sehen aus wie tief in Gedanken versunken.“ Ich sage: „Ja…“

„Wann nur wird Europa in Bezug auf Russland endlich klarsehen?“ Fragt Viktor Jerofejew im Feuilleton einer deutschen Wochenzeitung. Er fordert die Aufnahme der Ukraine in die EU.

Auf dem Rückweg begegnen mir etliche allein Wandernde. Dieses freundliche Lächeln oder Winken oder Hut ziehen macht mich fertig. Im guten Sinne. Es ist kein verschämtes Lächeln oder zunicken mit diesen zusamengepressten Lippen oder verzagtes aufblasen von Wangen, wie ich es von dort kenne, wo ich sonst immer bin. Es ist ein ehrliches Lächeln. Es kommt aus dem ganzen Körper. Ich muss zurücklächeln. Ich steige hinab, die Stimmung steigt.

So ist das also, im Westen.

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