vonSchröder & Kalender 02.10.2011

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
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Ausstellung ›Aus anderer Sicht · Die frühe Berliner Mauer‹

Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Wiedervereinigung proklamiert, ein Jahr vorher war die Berliner Mauer gefallen, die in den frühen Sechzigern noch ein absurdes Provisorium aus Hohlblocksteinen, Stacheldraht, Mauerresten und verschweißten Eisenbahnschienen als Panzerblockaden war. Wie dies aussah, mit Blick von der Ostseite, das ist neu und ungewohnt. Wenn wir im Westen an die Berliner Mauer denken, von Schönefeld im Süden bis zum Nordgraben in Pankow, dann denken wir an das monströse mit Rohrwulst bewährte ursprünglich creme-weiße Unikum. Die Westseite wurde sehr bald mit Millionen von Mauersprüchen und Graffitis garniert.


»Fünf Zentimeter an Höhe fehlen«,
wie Joseph Beuys ironisch feststellte. Fünf Zentimeter fehlen den Deutschen meist. Alles in Allem ein Spießerunikum, das wir in der Ausstellung ›Aus anderer Sicht · Die frühe Berliner Mauer‹ sahen mitsamt den dusseligen Stammtischsprüchen und alkoholisierten Auftritten, mit denen die Westberliner Dumpfmeisterinnen und Dumpfmeister die DDR-Grenzer zu provozieren oder auch zu erheitern dachten:

Grenzübergang Chausseestraße, 13.57 Uhr
Ein 35jähriger bis 40jähriger West-Berliner legt in Höhe Sicherungslinie einen Brief und zwei Zigaretten auf das Geländer und ruft dem Posten zu: »An Walter Ulbricht weiterleiten!« Der Posten gibt zwei Warnschüsse ab, der Mann täuscht ein Getroffensein vor und krümmt sich mit den Worten zusammen: »Ich sterbe für Deutschland.«

Bernauer Straße, 14.15 Uh
Der mit dem Abriss des Hauses Nr. 48 betraute Brigadier ruft aus dem 1. Stock der Ruine eine auf Westberliner Gebiet stehende Frau mit »Mama« an. Als der Hauptmann ihn auffordert, die Baustelle umgehend zu verlassen, sagt er unter Tränen: »Siehst du nicht, dass das meine Mutter ist?«

Potsdamer Platz, 12.36 Uhr
Kommt doch rüber, wir haben schöne Frauen für euch. Einen Wagen bekommt ihr auch. Ob nun jetzt oder später, wir kriegen euch sowieso!

Kieler Brücke, 10.00 Uhr
Zwei Westberliner Zöllner: Guten Morgen, ihr habt ja schönes Wetter.

Liesenstraße, 4.30 Uhr
Ein Mann schreit: »Erschießt den Hund dahinten, ich kann nicht mehr schlafen!«
(Anmerkung: An der Grenze wurden am Anfang Hunde eingesetzt, die aber wieder abgeschafft wurden, weil Anwohner sich über die Lärmbelästigung beschwerten.)

Brunnenstraße, 7.13 Uhr
Ein Westberliner Polizist und ein Zöllner rufen dem Posten zu: »Schmeiß deinen Mist hin und komm zu uns!«

Bernauer Straße / Eberswalder Straße, 22.15 Uhr
Ein Mann ruft durch ein Megafon: »Keine Kohlen im Keller, keine Eier im Sack, das ist euer 20. Jahrestag.«


Ausstellung ›Aus anderer Sicht · Die frühe Berliner Mauer‹

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Korsörer Straße, 1.13 Uhr
Einer von zwei Männern wirft vom Gelände des Güterbahnhofs eine Zigarettenschachtel Marke Ernte 23 über die Mauer: »Die könnt ihr rauchen!«

Schulzestraße, 17.15 Uhr
Der Posten wird von einer auf dem S-Bahnsteig wartenden 16-Jährigen angesprochen: »Mal ’ne Frage, wie spät ist es?«

Friedhof Pankow III, Bahnhofstraße, 23.25 Uhr
Es werden Blinkzeichen vom Weißen Haus gegenüber dem Städtischen Friedhof III gegeben. Die Suche bleibt erfolglos.

Schönholz, Schützenstraße, 3.35 Uhr
Drei Westberliner Zöllner mit gezogenen Karabinern. Einer ruft: »Na, Langer, hast wohl Angst?« Anschließend werfen sie mit Schneebällen und entfernen sich wieder.

Provinzstraße, 19.35 Uhr
Der Posten wird von einem Mann zur Fahnenflucht aufgefordert. Dabei fällt dem Mann die Tasche herunter. Er springt über die Mauer, um sie zu holen, und wird verhaftet.

Siedlung Schönholz, Höhe Bunkergelände, 17.45 Uhr
Ein Jugendlicher ruft herüber: »Die Mauer wird abgerissen, ihr könnt rüberkommen!«

Kopenhagener Straße, 17.15 Uhr
Acht Mann Besatzung zweier Jeeps versuchen durch gemeinsames Rütteln die Mauer zu beschädigen.

Siedlung Grüneck / Dankmarsteig, Rudower Höhe, 20.46 Uhr
Als der Grenzposten niest, ruft der Zöllner auf der anderen Seite: »Gesundheit!«

Posten Straße C, 12.45 Uhr
Der Grenzposten wird von einem Mann angesprochen: »Wir sind doch alles Deutsche, gestern war der 1. Mai.«

Teltowkanal, 12.19 Uhr
Ein circa 30-jähriger Mann ruft: »Hoffentlich hört die Scheiße bald auf, dann sind wir wieder gute Kumpel!«

Grenzübergangsstelle Sonnenallee, 12.35 Uhr
Zwei unter Alkoholeinfluss stehende Westberliner Zöllner grölen die Internationale (… erkämpft das Menschenrecht …) setzen ihr Stahlhelme auf und robben ohne Waffen auf dem Grünstreifen bis unmittelbar an den gelben Strich. Die Handlung wird abgebrochen, als ein Zolloffizier erscheint.

Heidekampgraben, 7.00 Uhr
Ein Westberliner Polizist: »Macht mal das Licht an der Trasse aus, das brennt lange genug!«

Heidekampgraben, Posten Köllnische Heide, 8,40 Uhr
Aus dem Fenster der zweiten Etage der Wegastraße 36 winkt ein circa 16-jähriges Mädchen dem Posten zu. Die Jugendliche hat ihren Oberkörper entblößt, aus einem Kofferradio kommt laute Musik. 9.20 Uhr zieht sie einen Pullover über.

Puderstraße, 18.10 Uhr
Wachhund Trux beißt sich durch die Maschen der Hundelaufanlage und fällt den auf einem Kontrollgang befindlichen Kommandeur und seinen Adjutanten an. Sie geben 12 Schuss ab, das Tier verendet.

Leuschnerdamm, 18.00 Uhr
In einem Fenster im 3. Stock des Hauses Nr. 19 wird ein Transparent angebracht: »Es lebe Stalin, Mao und Dubcek.«

Sebastianstraße / Heinrich-Heine-Straße, 19.30 Uhr
Ein Mann um die sechzig prophezeit: »Ihr lebt nicht länger als 40 Jahre.«
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Annett Gröschner hat diese Exempel des Volksvermögens hintersinnig aus den Akten der Grenzbrigaden dokumentiert und der frühen Mauer zugeordnet. Die Zurufe aus Westberlin passen perfekt zu den öden Urban-Art-Panoramen von der Mauer. Arwed Messmer hat die Fotos, die für den internen Dienstgebrauch und zur Mauerverbesserung gefertigt wurden, zu Panoramabildern zusammengefügt.

Nach dem Rundgang durch die Ausstellung waren wir nachträglich über die beiden Deutschlands empört – und amüsiert (muss man zugeben).

Besonders interessiert hat uns Pankow III, denn dort liegt meine Mutter begraben. Sie wollte in Niederschönhausen beerdigt werden, dort lebten wir ja, bevor wir in den Westen gingen. Und gleich um die Ecke von unserer alten Wohnung gibt es den Friedhof Pankow III. Edith Neusch van Deelen liegt in bester Gesellschaft, hier ist auch die Lyrikerin und Schriftstellerin Inge Müller begraben, Heiner Müllers zweite Frau. Auch Ernst Busch, der »Barrikaden-Tauber«, wurde hier beerdigt. Er ohrfeigte einst den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und musste sich deshalb »aus Krankheitsgründen« von der Bühne zurückziehen – so die offizielle Lesart. Immerhin wurde 1981, ein Jahr nach seinem Tode, die Hochschule für Schauspielkunst nach ihm benannt. Selbst Erich Honecker konnte also vergeben, jedoch erst post mortem. Auch Hans Fallada war hier beerdigt worden, wir suchten sein Grab vergebens und erfuhren, daß man ihn in den achtziger Jahren in seine Heimat nach Feldberg umgebettet hatte.

Dieser Friedhof wurde zu DDR-Zeiten streng bewacht, weil er entlang der Grenze zum fanzössischen Sektor lag. Wenn in den grenznahen Grabstätten eine Bestattung stattfand, marschierten Soldaten der Grenztruppen auf, um die Trauergemeinde zu überwachen und Fluchtversuche zu unterbinden. Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gelang es in der ersten Zeit nach dem Mauerbau, einen Fluchttunnel zu graben. Der wurde entdeckt, und man bettete nun die Toten, die in der Nähe der Mauer lagen, in das Innere der Anlage um.

Ein Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung fragte uns, ob wir ein Einzel- oder Familienurnengrab wünschten. Wir wählten ein Familiengrab, in dem bis zu vier Urnen beigesetzt werden können, und suchten uns einen Platz aus. Dann bestellten wir einen polierten graphitschwarzen Grabstein, links mit rundem Rücken, den Kopfschnitt und den Buchblock rauhte der Steinmetz auf, so daß der Eindruck eines Buches entstand. Wir ließen zwei Bronzeplatten gießen, am oberen Rand des Steins stehen Ediths Geburts- und Sterbedaten, am Fuß des Steins das MÄRZ-Logo, natürlich in unserer Hausschrift ›Block‹. Der Stein ist so konzipiert, dass noch Platz für Barbaras und meine Bronzeplatte ist.

Friedhof Pankow III. Copyright: Bundesarchiv und Panoramen: Arwed Messmer

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Morgen ist der letzte Tag, dann schließt diese interessante Ausstellung:

5. August bis 3. Oktober 2011, 
Unter den Linden 40, 2. Etage, D-10117 Berlin

Für alle, die sich für dieses Thema interessieren, gibt es den Katalog ›Aus anderer Sicht · Die frühe Berliner Mauer‹.

Blick aus dem Fenster Unter den Linden 40, hier residierte zu DDR-Zeiten die Italienische Botschaft.

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(AG / AM / BK / JS)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2011/10/02/von_den_zwei_deutschlands/

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kommentare

  • Liebe Barbara, lieber Jörg,
    na, da hätten wir uns in der Ausstellung doch fast getroffen! Ich war einen Tag vorher da – wirklich großartige und interessante Ausstellung (und guter Katalog), kann euch in allem nur beipflichten. Die besondere Note gaben die toll montierten Kommentare – mir fiel auf, daß es im Grunde nur ein paar wenige Kategorien der Zurufe aus dem Westen gab, die den Westen dieses komischen Landes nicht viel weniger desavouieren als den Osten die Errichtung der Mauer: 1. ist auffällig, wieviele Zurufe und Aktionen mit sexuellen Angeboten zu tun haben (Frauen ziehen sich im Auto vor den DDR-Grenzern aus, ziehen Röcke hoch, blanke Busen usw.). 2. die Selbstvergewisserungszurufe nach dem Motto „wir habens im Westen besser als ihr“. In diese Kategorie gehören auch Genußmittel über die Mauer werfen usw. 3. Alles, was mit Schießen zu tun hat – nicht selten ja auch simple „Waffenbruder“-Bitten („könnt ihr nicht mal den Hund da drüber – bzw. die Krähe etc. – abschießen, der stört mich / wegen dem kann ich nicht schlafen“ o.ä.). Und 4. natürlich jede Menge Provokationen. Diese Ausstellung stellt die beiden Deutschländer eben sehr gut dar, und warum letztlich zusammenwächst, was zusammengehört…
    Mir haben auch diese zwei sehr gut gefallen:
    „Eine ca. 50-jährige Frau: Ich will in die DDR, aber es ist so schwierig, und hier komme ich auch nicht durch.“
    Und:
    „Eine Person fragt: Was haltet ihr von Springer?“ (Sebastianstraße / Heinrich-Heine-Straße)
    Und der erste Eintrag von der Ausstellung in meinem Notizbuch lautet „Friedhof Pankow III“…
    Herzliche Grüße & hoffentlich bis bald mal wieder
    Euer BS

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