vonDaria Schweigolz 16.11.2023

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Das Leben ist von kurzer Dauer. Und ich darf jetzt hier sein, was für ein Geschenk. Dafür bin ich dankbar.

Von meinem Küchenfenster aus sehe ich drei Bäume und die Dächer. Wenn ich es aufmache, kommt der Wind von außerhalb der Stadt zu mir in die Wohnung. Nachts sehe ich Sternbilder. Eines der Bäume ist eine Birke und tagsüber sitzt eine sehr große Taube darauf, manchmal eine Elster, und sehr selten zwei Tauben symmetrisch zu einander und parallel zu meinem Blickfeld. Dafür bin ich dankbar.

Ich bekomme Sozialhilfe und einen Hunni von meiner Mutter. Ich habe es auch bekommen, als ich PTBS hatte, ich habe es bekommen, als ich eine langwierige Depression hatte und auch in den Wochen, als ich nicht mehr als vier oder fünf Stunden pro Nacht schlafen konnte ich mich gefühlt habe wie ein Zombi. Sie waren nicht genug Unterstützung, aber sie haben mir etwas Spielraum gelassen und jetzt bin ich wieder da und dafür bin ich dankbar.

Lieben ist das Beste auf der Welt

Ich bin dankbar für Menschen, die morgens aufstehen, um mir im Laden meine Lebensmittel zu verkaufen und ein Lächeln zu schenken.

Ich bin dankbar für meine gute Nachbarschaft, für meine Freunde, für alle Menschen, die mir zugehört haben, wenn ich mich elend gefühlt habe. Ich bin dankbar für alle, die mich für nichts verurteilt haben, während ich kein gutes Haar an mir lassen konnte. Für Menschen, auf deren Couch ich schlafen konnte, die mir eine Mahlzeit hingestellt haben, wenn ich nichts hatte. Für Menschen, die mir Mut gemacht haben, wenn ich erschöpft war. Ich bin dankbar für all diejenigen, die ich verdientermaßen geliebt habe und liebe – nein, nicht alle, die ich geliebt habe, haben meine Liebe verdient. Lieben ist einfach das Beste auf der Welt.

Ich bin dankbar dafür, dass ich die Gewalt, die ich selbst erfahren – in der Familie und in Beziehungen – oder gesehen und gehört habe: auf der Straße, in den Nachbarwohnungen – dass ich das überlebt habe. Ja, das hatte seinen Preis für mich, aber ich bin nun wieder da und mir fehlt nichts. Ich bin dankbar für die bedingungslose Liebe meiner Eltern, meine Großeltern, für meinen kleinen eigenen Clan, auch wenn unsere Geschichte überschattet ist von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Unwissen und enttäuschtem Idealismus. Auch, wenn es viel Zeit braucht, zu heilen, bin ich dankbar.

Ich bin dankbar für alles, was ich im Leben lernen konnte und noch lernen werde. Ich kann so massiv viel, viele meiner Talente konnte ich entfalten und mehr noch wartet auf mich. Ich bin dankbar für meinen Körper, weil er funktioniert. Mit zwanzig habe ich gestaunt, was ich alles kann. Und nach langen Jahren, die überschattet waren von Blockaden, Trauer, Einsamkeit, bin ich immer noch oder wieder in der Lage, etwas zu schaffen, das ich mag.

Ich bin dankbar für die unerschütterliche Liebe meines Sohnes. Dankbar dafür, wie er aufwächst: ohne Diskriminierung, finanzieller Not, ohne Hunger und Existenzangst. Er kann lernen und spielen. Als er emotional angegriffen wurde, konnte ich ihn verteidigen. Als ich nicht für ihn da sein konnte, waren andere Menschen für ihn da. Ich bin dankbar für unsere Gespräche, für seine Ehrlichkeit, für seinen Gerechtigkeitssinn, dafür, wie er wächst, was er kann, was ich von ihm noch sehen werde.

Ich bin dankbar dafür, dass weder er noch ich in den Krieg müssen – andere müssen es. Israelis und Ukrainer*innen haben keine Wahl. Junge Frauen und Männer, nicht minder begabt oder lebenswert als ich, kämpfen für ihr recht auf politische Selbstbestimmung. In Jemen werden Menschen gezwungen, gegen Saudi Arabien zu kämpfen, in Gaza Kinder zum Morden erzogen, und ist ja bei weitem nicht alles. Viele russische Soldaten kennen keine Alternative. Wie furchtbar!

Ich bin nicht in Lebensgefahr. Ich muss gar nicht wissen, wie ein Maschinengewehr funktioniert. Über mir fallen keine Bomben, keine faschistische Miliz zieht mich in ihrem schmutzigen Krieg, – niemand hasst mich oder verachtet mich für meine Sprache oder für mein Aussehen – hier, wo ich jetzt bin. Mein Kind geht sicher zur Schule und kommt sicher wieder zu hause an. Seine Schule ist nicht umzäunt. Die israelischen Schulen sind es aus Sicherheitsgründen, aus Angst vor Massakern – sie waren es schon vor dem 7. Oktober. Ich bin dankbar dafür, dass meine Mutter uns hierher gebracht hat. Ich bekomme Medikamente verschrieben und in der Apotheke ausgehändigt. Ich bin dankbar dafür, in einem vergleichsweise sicheren Land zu leben, in dem ich mehr oder weniger sein darf, was ich bin.

Obgleich nicht immer und nicht überall – ertragen einander, helfen einander, handeln immer wieder empatihsch und solidarisch. Treffen die harten Entscheidungen nicht nur in ihrem eigenen Sinne und kurzfristig sondern in Weitsicht und auch im Sinne anderer Menschen. Ich bin dankbar für die anderen Feminist*innen (wenn sie nicht antisemitisch sind) – denn ich bin eine seit ich 14 bin. Dankbar für alle, denen es an einer besseren Zukunft für uns liegt; für Menschen, die sich für den Erhalt der Schöpfung einsetzen, für Mediziner*innen, Sozialarbeiter*innen, passionierte Lehrer*innen und und und und. Heute ist der Internationaler Tag für Toleranz. So Viele Menschen geben nicht auf, wenn es darum geht, für Gerechtigkeit und für ein glückliches Zusammenleben einzustehen. Für sie, meine Verbündeten, bin ich dankbar.

Und so spreche ich:

Möge die Erde uns tragen
Mögen unsere Kinder zu uns zurückkehren
Mögen die Menschen, die wir lieben, in unserem Herzen leben

 

 

 

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