vonDetlef Berentzen 29.06.2018

Dr. Feelgood

Detlef Berentzen, Ex-tazler, Autor für Funk und Print, verbreitete hier „News“ der anderen Art. Gute zum Beispiel. Machte die Welt hör-und lesbar.

Mehr über diesen Blog

Lieber Detlef,
Jakob Modern, erinnerst du dich?  Eine ganze Reihe von Mietshäusern ist nach seinen Entwürfen zwischen 1882 und 1907 in Wien entstanden. Und eine Synagoge. Modern, Schüler der berühmten Ringstraßenarchitekten August von Sicardsburg (Wiener Staatsoper) und Friedrich Schmidt (Wiener Rathaus) war ein typischer Vertreter des späten Historismus in Wien. Nur zweimal hat er außerhalb der damaligen Residenzstadt gebaut. Zwei kleine Synagogen waren das: Eine in Raab, dem heutigen Györ, und eine im niederösterreichischen Gänserndorf, knapp 30 Kilometer von Wien entfernt.

Um 1890 zählte die jüdische Gemeinde Gänserndorfs noch rund 100 Mitglieder. Deshalb hatte man bereits 1888 um 400 Gulden in der Bahnhofstraße 60 ein passendes Grundstück zur Errichtung eines neuen Bethauses erworben und Jakob Modern mit der Planung beauftragt. Sie mag kein epochaler architektonischer Wurf gewesen sein, die Gänserndorfer Synagoge (s. Foto). Aber sie hatte eine ansprechende gründerzeitliche Fassade mit Lisenengliederung, Blendbögen, einem Zahnschnittfries unter der Traufkante und Rundbogenfenster.

Nach dem sogenannten Anschluss im Jahre 1938 erwarb die Gemeinde Gänserndorf das Synagogengebäude flugs um wohlfeile 9000 Reichsmark. Sie brauchte die Räumlichkeiten für die NS-Volkswohlfahrt! „Arisierung“ nannte man das. Doch immerhin wurde das Gebäude solcherart vor den brandschatzenden Horden in der Reichspogromnacht gerettet. Nach dem Krieg gab es keine jüdische Gemeinde mehr in Gänserndorf. Aus dem ehemaligen jüdischen Bethaus wurde erst eine Berufsschule, dann die örtliche Musikschule. Nun ist da das Jugendzentrum untergebracht (s.u.). Die jungen Leute erhalten aber bald ein neues Haus.


Und was macht man mit der ehemaligen Synagoge? Nun, die Gemeinde Gänserndorf könnte ein kleines Museum einrichten, ein Haus der Geschichte. Das könnte ein Begegnungsort werden, an dem sich vor allem die jungen Leute mit der Geschichte ihres Landes, ihrer Herkunft auseinandersetzen. Das wäre wichtig in einem Land, in dem der Opfermythos noch immer in weiten Teilen das historische Denken bestimmt. Wo kleingeistiger Provinznationalismus den Menschen das Selbstbewusstsein ersetzt und Gabalier, der beliebteste Volksbarde des Landes, heimattreu von den Segnungen des „Scheitelkniens“ singt (Scheitelknien: SchülerInnen müssen/mussten sich zwecks Bestrafung auf die scharfe Kante eines dreieckigen Holzscheits knien). Insofern: ein Haus der Geschichte und der Begegnung, das wär doch etwas für die stark wachsende Gemeinde Gänserndorf vor den Toren Wiens.

Wäre! Denn der Bürgermeister und die Mehrheit des Gemeinderates haben andere Pläne. Die Synagoge soll abgerissen und durch einen Parkplatz ersetzt werden. Autos statt Bildung. Die Gemeinde brauche dringend zentrumsnahe Autoabstellplätze, meint der Bürgermeister. Wir wollen nun nicht davon reden, dass Gänserndorf flach ist und selbst unsportliche Menschen dort mit dem Rad fahren können. Darum geht es nicht. Es geht um den Mangel an Bildung, den Mangel an Geschichtsbewusstsein hierzulande. Der wird nicht behoben. Nein, er wird verstärkt. Dieser Dumpfsinn kam Österreich schon einmal teuer zu stehen. Die Geschichte könnte sich wiederholen. Als Farce mit Parkplatz.

Ich harre dennoch aus.

Herzlich
Dein Michael

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/spurensuche/2018/06/29/wiener-korrespondenzen-33/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert