Lieber Detlef,
Leopold von Sacher-Masoch (1836-1895) war Österreicher. Natürlich. Triebhaftes Schmerz- und Unterwerfungsverlangen ist offenbar tief in der österreichischen Seele verankert. Das äußert sich auch an der Wahlurne. Sebastian Kurz hat nun zum zweiten Mal innerhalb von knapp zwei Jahren eine Regierung gesprengt. Und wieder wurde er dafür vom Wahlvolk üppig belohnt.
2017 konnte Kurz sich zum jüngsten Bundeskanzler in der Geschichte Österreichs küren. Und am vergangenen Wochenende legte seine sogenannte „Neue Volkspartei“ (auch als ÖVP bekannt) bei den Europawahlen trotz der „Ibiza-Affäre“ kräftig zu. Doch nicht nur die ÖVP konnte sich freuen. Auch Heinz-Christian Strache (FPÖ), dessen Allmachtsphantasien einer heißen Sommernacht auf Ibiza den Anlass oder Vorwand für das Platzen der türkis-blauen Regierung in Wien geliefert hatten, kann zufrieden sein. Mit gut 37.000 Vorzugsstimmen katapultierten ihn die Wählerinnen und Wähler der FPÖ vom letzten Listenplatz direkt ins Europaparlament! „Diesem Vertrauen der Bürger fühle ich mich demokratiepolitisch (oha!) verpflichtet und werde daher das EU-Mandat annehmen!“, verkündete Strache entzückt auf Facebook. Seine Partei scheint mit solchen Statements weniger Freude zu haben, jedenfalls war das Posting alsbald wieder verschwunden und der ehemalige FPÖ-Klubobmann im Parlament, Walter Rosenkranz, meinte im TV-Interview schmallippig, sein Kollege Strache wisse, was er zu tun habe.
Doch ob Strache letztlich im EU-Parlament sitzt oder im Wartezimmer eines Wiener Arbeitsamtes ist eigentlich unwesentlich. Viel interessanter ist das politische Grundverständnis eines großen Teils der österreichischen Bevölkerung. Jahrzehntelang gab es hierzulande stabile Verhältnisse und eine recht ordentliche soziale Absicherung. Gute medizinische Versorgung für alle, zeitlich unbegrenztes Arbeitslosengeld statt Hartz IV, halbwegs leistbare Wohnungen, bürgerliche Freiheiten, ein leidlich funktionierendes Bildungssystem. Solche Errrungenschaften aber hat die Kurzzeitregierung von Kanzler Kurz innerhalb von knapp eineinhalb Jahren grundlegend in Frage gestellt.
Das Sozialversicherungssystem soll zerschlagen, die Mindestsicherung gekürzt und das Arbeitslosengeld in ein Hartz-IV-Modell umgewandelt werden. Der neue Familienbonus kommt – ein Bonus eben – nur denen zugute, die ohnehin schon gut verdienen. Für die unteren Einkommensschichten gibt es nix. Zudem wurde ein umfassendes Überwachungspaket geschnürt und beschlossen, von dem Erich Mielke nicht zu träumen gewagt hätte. Mehr noch: In der Volksschule werden wieder Noten verteilt, damit die Segregation zwischen Eliten und Unterschicht möglichst früh beginnt. Strache plante sogar das Wiener Leitungswasser profitabel zu machen und privatwirtschaftlich zu managen! Wien wird seit 1873 wird mit reinem Alpenhochquellwasser versorgt: „Weißes Gold“ für Strache.
Doch anscheinend wollen die Leute all das. Oder sie wissen nicht, was sie tun. Ich bin geneigt, letzteres anzunehmen, denn wie heißt es noch in einem Gedicht des früh aus dem Leben geschiedenen Konrad Bayer: „Glaubst i bin bled, dass i waas, was i wü?“ Vertont hat das die Worried Men Skiffle Group im Jahre 1970.
Ich bleibe aufmerksam.
Auf bald
Michael