vonMesut Bayraktar 07.11.2017

Stil-Bruch

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Außer sich, Debütroman von Sasha Marianna Salzmann, trifft mit beachtlicher Radikalität einen Zeitnerv, nämlich die Konstruktion der Identität: Wer bestimmt, was ich bin?

Haltlos auf der Suche nach Halt erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman eine diskontinuierliche Familiengeschichte, die zugleich mit hemmungsloser Radikalität das Ich kernspaltet. Dabei sind die autobiografischen Eckpunkte, die Sie mit ihrer Heldin – erst Alissa, dann Ali – teilt, unübersehbar. Mit Ihrem polythematischen Debütroman trifft sie einen Zeitnerv, nämlich die Konstruktion der Identität: Wer bestimmt, was ich bin?
Außer sich, mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet, ist bereits in dreizehn Sprachen übersetzt und war in die Longlist des deutschen Buchpreises 2017 nominiert. Schon jetzt lässt sich voraussagen, dass man über diesen Roman noch in den kommenden Jahren sprechen wird. Denn eins ist klar: Außer sich ist ein rascher, kausalitätsloser Ansturm von Momentaufnahmen und Jahrzehntbilanzen, von flüchtigen Eindrücken reiner Subjektivität und eruptiven Wendepunkten der Geschichte, von in Papier eingewickelten toten Vögeln, die einen beißenden Geschmack auf der Zunge hinterlassen, und von der tückischen Bildpotenz der russischen Sprache, weil sie so viel besser ist als die Welt, aus der sie kommt. Erst nachdem der Sturm vorüber gezogen ist, hat mein Zeit, über die Umstülpung nachzudenken, die er hinterlassen hat.

Auf der Suche nach dem verlorenen Ich

Sasha Marianna Salzmann, 1985 geboren und seit 2013 Hausautorin am Maxim-Gorki Theater Berlin, hat Literatur, Theater und Medien in Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin studiert. Seit 2015 leitet sie das Studio Я des Gorki-Theaters. Davor hatte sie zwölf Jahre lang die Kultur-Zeitschrift „Freitext“ redigiert, die sie mit ein paar Verbündeten gegründet hatte. Der Titel Außer sich geht auf eine Schrift zurück, die sie seinerzeit in dem Magazin veröffentlicht hatte. Als Dramatikerin ist sie bereits eine anerkannte Größe, die progressive Impulse auf die Bühne bringt. Ihre Theaterstücke sind mehrfach ausgezeichnet und werden international aufgeführt. Kurz gesagt: Salzmann ist verdammt erfolgt.

Salzmann erzählt in ihrem Debütroman eine Geschichte über vier Generationen, die zwischen Sowjetunion, Deutschland, der Türkei, zwischen Odessa, Moskau, Berlin und Istanbul gewürfelt werden. Die Erzählperson ist Alissa, Ali – Schwester, Bruder, ich, wie es auf der ersten Seite heißt, auf die ein Zitat von Ingeborg Bachmann folgt. Alissa, ihr Zwillingsbruder Anton und die Eltern kentern als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge aus dem postsowjetischen Russland in einem deutschen Asylheim, wo die Kinder Zigaretten stehlen und auf meterhohe Gerüste klettern. Später, als Alissa ihr Mathematikstudium abgebrochen hat, weil sie lieber zum Boxtraining geht, verschwindet Anton. Eines Tages strandet eine Postkarte aus Istanbul, der Stadt außerhalb der Zeit, im Briefkasten – ohne Text und Absender. Alissa macht sich nun auf die Suche nach ihrem Zwillingsbruder Anton in der kosmopoliten Weltstadt an der Kontinentalschneise, wo die zärtliche Melancholie des Morgenlandes mit der strebsamen Herrlichkeit des Abendlandes zusammentrifft und sich im Westwind verliert.
Trotz der hier in Chronologie gebrachten Erzählung setzt der Roman direkt in Istanbul an. In Istanbul beginnen die Grenzen von Vaterland, Sprache, Geschlecht allmählich ineinander zu laufen, zu verschwimmen, zu pulverisieren. Wie Glassplitter sammelt Alissa ihre Erinnerungen zusammen und ahnt dabei nach und nach, dass sie kein Ganzes ergeben, ja kein Ganzes ergeben können, bis schließlich Wirklichkeit zur Fiktion wird – und Fiktion zur Wirklichkeit.

Die offenen Wunden der Identität

Der Titel des Romans verrät im Grunde genommen seine Thematik. Was heißt Außer sich? Man kann es in zweierlei Hinsicht verstehen: Zum einen kann Außer sich bedeuten, dass man im Rausch ist, d.h. die Kontrolle über sich verloren hat; ebenso wenn man auf jemanden deutet, der wütend ist, sozusagen wutentbrannt, und seinem Gesprächspartner sagt, dieser jemand, auf den man deutet, sei außer sich. Dann will das Außer sich sagen, dass man – im übertragenen Sinne – den Kopf verloren hat. Der klare Gedanke ist abhanden gekommen. Der innere Halt ist verloren. Man fällt, haltlos. Man ist in das Vakuum der Unruhe gefallen, das einen klaren Gedanken erstickt. Alles rauscht an einem vorbei und man ist >außer sich<, wenn man mit mitrauscht. Diese Hinsicht nenne ich die historische Seite, denn das Historische im weitesten Sinne heißt das einen Subjekt Umgebende. Der Außer-Sich-Geratene löst sich in der Bewegung seines ihn Umgebenden auf. Anders gesagt: Das außer sich geratene Bewusstsein wird vom Sein fortgerissen und umspült.
Andererseits kann Außer sich nahezu das Entgegengesetzte bedeuten. Darunter kann man verstehen, dass man schlichtweg außer sich tritt. Man verlässt also das Sich, das Selbst, man transzendiert in gewisser Weise von sich selbst, um seinem Selbst zu begegnen. Das Selbst wird exterritorial. Man beobachtet sich, ohne man selbst zu sein. Man versucht, sich selbst zu durchdringen, aus einem Standpunkt, der nicht zum Selbst gehört, eben weil er sich vom Selbst abtrennt. Man wird außer sich. Wie der Bedeutungsgehalt des Worts >Reflexion< beugt man sich zurück auf etwas. In diesem Fall ist das Etwas die Schale, aus der man entschlüpft ist, nämlich das Sich, das Selbst.
Allerdings stellt sich hier die Frage des Unmöglichen. Was ist nun dasjenige, das übrig bleibt und sich zurück auf die Schale beugt, aus der es entschlüpft ist; Alissa, Ali, Anton, das Ich, das Geschlecht, die Sexualität?
Diese Hinsicht nenne ich die kontemplative Seite, denn hier wird das Bewusstsein nicht vom Sein überwältigt, was berauscht, sondern das Bewusstsein betastet das Sein, indem es außer das Sein tritt, d.h. es denkt, oder besser: es schreibt Literatur, das – ebenfalls kontemplativ – ein Spiegel vor dem Selbst hebt. Wie soll ich anders, als mit Literatur mein Selbst beobachten, ohne – indem das Bewusstsein die Seinsschale verlässt – zugrunde zu gehen? Das ist praktisch unmöglich, wenn man Denken und Schreiben als Möglichkeiten ausschließt.

Diese beiden Seiten ihres Titels Außer sich hat Salzmann in ihrem Roman stilistisch wie thematisch fast meisterhaft vereint. Allein deswegen lohnt sich die Lektüre, die ein Stück der Fährten zeitgenössischer Literatur aufzeigt. Doch hier interessiert uns die thematische Auseinandersetzung des Romans, inmitten dessen uns der Titel – wie oben ausgelegt – platziert. Diese Auseinandersetzung ist ein (vielleicht) unauflöslicher Konflikt um die eigene Identität. Dieser Konflikt könnte in einer Aporie münden, aber soweit will ich nicht gehen. Denn auch wenn uns Salzmann zeigt, dass das Selbst ein wandelbares Nichts ist, so zeigt sie uns auch, dass das Nichts des Selbst zugleich der immense Möglichkeitsraum der Freiheit ist. Das Nichts ist und bleibt schließlich wandelbar. Das Selbst ist also kontingent, aber eben weil es kontingent ist, ist es zugleich ebenso frei wie desperat. Beide Seiten greift Salzmann nüchtern auf; die Zuversicht und die Hoffnungslosigkeit des Zufälligen im Notwendigen.
Also, wer bin ich? eine typische Frage der Identität. Doch was wenn die Identität, die ich wie Klarsichtfolie um mich gewickelt und mit Acrylfarben bemalt sehe, sobald ich mich das erste Mal vor dem Spiegel meines Bewusstseins beobachte, was wenn diese Identität nicht prädisponiert ist, gleichwohl der Druck der Geschichte meine Lebensbedingungen konfiguriert? Diese Prädisponierung stellt Salzmann in Frage: sie fragt, angenommen, wir seien prädisponiert, ist diese Prädisponierung nicht wiederum selbst verhandelbar? Dabei ist der Ausgangspunkt ihrer Fragestellung nach Identität die Sexualität und Geschlechtlichkeit. Eben deswegen erscheint ihr Roman radikal. Im Sinne des Transgenderismus radiziert sie die Sexualität auf eine Indifferenz der Geschlechter, d.h. Geschlechter sind wie Stiefel, die ich nach Lage des Wetters an und ausziehen kann.
An einer Stelle fragt Alissa oder Ali oder und Ali signifikant: Wenn du mich anschaust, bin ich ein er oder eine sie? Allein diese Frage zu stellen, ist radikal. Das mag einige Leser frappieren. Aber das Interessante an dieser Frage ist, dass sie zugleich ihre Antwort im Schatten ihres Fragezeichens verbirgt. Diese Frage zu stellen impliziert nämlich zugleich, dass ein „er“ oder eine „sie“ nicht wesentlich dafür ist, was hinter diesen beiden Bestimmungen steht. Denn sie sind Bestimmungen von etwas ein und demselben, nämlich der Existenz. Anders gesagt, man ist nicht als ein „er“ oder „sie“ geboren, man wird eines der beiden. Im modernen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts wird man nicht entwurzelt, man ist entwurzelt, sobald man existiert. Der Begriff der Identität ist das Epizentrum des Romans. Damit hackt Salzmann ihren Roman offene Wunden der Gegenwart ein, auch wenn trotz des Außer-sich-Seins in beider Hinsicht jedes Individuum zum In-Sich-Sein verdammt ist.

Sprache der Metamorphosen

Entsprechend der thematischen Auseinandersetzung findet Salzmann eine entsprechende Stil- und Erzähltechnik, die vielleicht noch weitere und auch neue Wege eines Romans ebnen wird. Das bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird hier, wie bei Salzmann zu erwarten war, die Vermischung von Epik und Dramatik (auch Post-Dramatik), sichtbar; in gewisser Weise liest sich der Roman wie Post-Dramatik in Prosa.
Der Roman besitzt keine narrative Kausalitätsstruktur, trotz unzähliger Versöhnungsversuche zwischen Gesamterzählung mit Gesamtnarrativ. (Diese Dialektik macht den Stil eben interessant und dekuvriert zugleich das Gaukelspiel von der Abgeschlossenheit der Handlungen in klassischen Romanformen.) Die Sprache ist diskontinuierlich und unzweckmäßig. Sie besitzt weder Teleologie noch Genealogie. Sie ist vielmehr eine Dekonstruktion des Notwendigen und schraubt sich in prismatischen Verwandlungen zwischen Raum und Zeit in ein unbestimmbares Gewinde. So stellt sie sich in metamorphischem Stil vor, d.h. eine permanente Verwandlung von Bildern findet statt, die sich mehr und mehr verdichten, ohne eine in sich logische (Ur)Totalität zu ergeben. Alle Kausalität zertrümmert in akausalen Umschreibungen, die fließen wie ein Strom. Russisch, Jiddisch, Türkisch werden zusammengeworfen und gerührt und es kommt dabei immer etwas raus. Ein ontologisches Anhalten ist unmöglich. Der metamorphische Stil von Salzmann löst Grenzen der Erzähltechnik auf, indem ihre Technik grenzenlos ist. Es gibt kein Sein, nur Werden, ohne Anfang und ohne Ende. Im Roman charakterisiert Sie ihren Stil wie folgt: Zeit ist für mich eine Drehscheibe. Bilder verschwimmen vor meinen Augen, und immer aufs Neue stelle ich Vermutungen darüber an, wie irgendetwas vielleicht ausgesehen haben könnte, wie die Straßen hießen, in denen ich nie gewesen bin, die Treppen der Städte, die Boote, die leer blieben. Versuche, die auseinanderzuhalten, deren Namen sich über Jahrhunderte immer wiederholten. Streckenweise scheint es tatsächlich so, als hätte die Erzählperson ihre Weltbezüglichkeit verloren, bis plötzlich die Welt die Geschichte wieder überholt und die Erzählperson immer aufs Neue erwacht.
Ich bin mir sicher, dass ihr nächster Roman in ähnlicher Technik verfasst sein wird. Jedenfalls ist ihre Technik vital und frisch, in gewisser Weise eine Mahlmühle, auch wenn ihr nicht jeder Übergang überzeugend gelingt.

Gezi ist überall

„Ich hätte dieses Buch nur in Istanbul so schreiben können. Ich begab mich in eine Stadt, die sehr wild ist und sehr rau und sehr zärtlich gleichzeitig, und ich glaube, dieser Fluss von Informationen und dieser Rausch von Stadt hat sehr meinen Stil geprägt“, hat Sasha Marianna Salzmann zu der Struktur ihres Romans in einem Interview gesagt. Hintergrund ist, dass Sie als Stipendiatin der Akademie Tarabaya in Istanbul lebte, während sie Außer sich schrieb. Dabei erlebte Sie die Gezi-Proteste, die um die Welt posaunten. Jeder kennt das Bild der jungen Frau mit rotem Kleid, der ein Polizist unvermittelt Reizgas ins Gesicht und auf den Oberkörper strahlt. An dieses Bild musste ich öfter denken, während ich den Roman las. Salzmann gelingt es, das politische Aktionsfeld immer im Blick zu behalten und bis zum Heutigen hinein zu tragen. In den Gezi-Protesten zentriert sich das politische Aktionsfeld ihres Romans, von Anfang bis Ende, ein Aktionsfeld, das sich wie ein Gummiband ein halbes Jahrhundert bis zum zweiten Weltkrieg ausdehnt und dann mehrmals zurückschnappt. Denn die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt. In diesem Sinn lauert Gezi in den Straßen Istanbuls, in Moskau, in Wolgograd, in Odessa, in Berlin, ja in der Welt. Gezi ist überall – das ist Salzmanns stilles Manifest an die Leser.

 

 

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