Wir sind Belagerte, beraubt um unser Selbst. Wo ist meine Existenz, in einer zweitürigen Welt, in der eine Überfülle von Dingen mich einreiht, mich zerreißt? Ein Anstoß
Sobald ein Mensch die Augen öffnet, wird er belagert, von allen Seiten. Daran könnte man schon verzweifeln. Nicht allein, weil es stattfindet, sondern weil es mit unerbittlicher Gleichgültigkeit geschieht. Das Dasein wird präkonfiguriert, umspült von der Belagerung, ehe das Bewusstsein den Schalter für seine Glühbirnen entdeckt, von denen einige schon zerschlagen sind. Die Umstehenden schweigen und schauen zu. Täter werden Opfer, Opfer werden Täter, die Wirklichkeit wird verfälscht und alle sind entstellt, ehe sie in den Spiegel schauen. Unsere Weltbezüglichkeit ist ohne unser Zutun besetzt, nicht im metaphysischen, sondern im geschichtlichen Sinn. Wir sind der Belagerung ausgeliefert. Sie verzehrt uns beim ersten Atemzug. Wir leben ein Leben, das wir nicht gewählt haben, nicht wählen konnten, und dulden die Belagerung, die uns entwürdigt, oder präziser: die uns den Weg versperrt, mit Würde das Leben zu verlassen. Wir werden gebrochen, von Anfang an, wir sind gebrochene Existenzen.
Wovon belagert?
Ich werde belagert vom Druck der Lohnarbeit, dessen Bedingungen sich verschlechtern.
Ich werde belagert von Versprechen und Verklärungen der Familie, dessen innerer Zusammenhang zerreißt und tiefgreifende Kränkungen in Vätern, Müttern, Söhnen und Töchtern hinterlässt.
Ich werde belagert vom Profitimperativ einer vergleichsweisen kleinen Gruppe mit unerhörter Macht, der ich mich zu beugen habe, wenn ich atmen will.
Ich werde belagert von der Manipulation der Massenmedien, die vom Profitimperativ beherrscht und gesteuert werden.
Ich werde belagert mit der Arroganz der Staatsgewalt, die mir mit seiner Knüppel- und Reizgaspräsenz befiehlt, zu gehorchen oder Schmerzen zu erleiden, obwohl alle Gewalt vom Volk ausgeht.
Ich werde belagert von den Ausbeutungskriegen, hinter denen die Industrien des eigenen Landes stehen, von denen ich die Mittel der Lebenserhaltung bekomme, indem ich für sie mittel- oder unmittelbar arbeite.
Ich werde belagert von der Horizontlosigkeit der Zukunft, die der Gegenwart zuruft: So, wie es ist, bleibt es.
Ich werde belagert vom Schutt der Lügen, die mir sagen, dass Wahrheit relativ, nur eine Ansichtssache sei, obwohl ich den Hunger in meinem Magen und in meinem Kopf als Unanfechtbares spüre.
Ich werde belagert von der Meinung über eine Sache, die die Überzeugung von einer Sache verunmöglicht, das heißt, mein Wille ist umringt von bewaffneter Feigheit.
Ich werde belagert vom Licht- und Farbspiel der digitalen Mystifikation, die die konkrete Wirklichkeit wie eine Brausetablette im Wasser in einer abstrakten Realität auflöst.
Ich werde belagert von einem Schematismus der Ontologie, die anstelle der zertrümmernden Dialektik eine Metaphysik setzt und den Wandel lähmt.
Ich werde belagert von Verheißungen des Wettstreits und der Konkurrenz, Verheißungen, die mich vom Klassenkampf für Frieden abhalten.
Ich werde belagert von Institutionen, die mich zu einem Verwalteten degradieren.
Ich werde belagert von selbsternannten Heilsbringern, die die Fiktion von Staatsgrenzen, Nation und Rasse verewigen wollen.
Ich werde belagert von Kulturindustrien, die der Kunst totalitäre Vorgaben diktiert, um Andersdenkende zu isolieren, zu verbannen, auszumerzen, damit im Sinne des Kulturmonopols gedacht wird.
Ich werde belagert mit den falschen Botschaften der Kunst, die, nachdem ich als Produzent gewirkt habe, mich als Konsumenten mit komplizierten Verblendungszusammenhängen ablenken soll von gesellschaftlichen wie individuellen Konflikten, die ihren Ursprung in der Produktion haben.
Ich werde belagert vom Paradigma der liberalen Toleranz, die eine radikale Haltung für soziale Freiheit denunziert und das Rückgrat der Konsequenten bricht.
Ich werde belagert von der herzlosen Aufforderung, kritisch zu sein, um die Kritik zu neutralisieren, die nach den Wirkungen die Prinzipien angreift, weil sie erkennt, dass die bloße Kritik der Wirkungen die Prinzipien verfestigt.
Ich werde belagert von der Religion des Individualismus, die die Passion nach Individualität im Keim erstickt.
Ich werde belagert mit der Wirklichkeit, damit ich erblinde vor der Möglichkeit der Wirklichkeit.
Ich werde belagert von Führern, die mich so zu erziehen versuchen, dass ich Führer brauche.
Ich werde belagert von der Unvernunft der Herrschenden, die die soziale Vernunft der Beherrschten durchlöchert.
Ich lebe im allseitigen Belagerungszustand, den ich erst verlassen werde, wenn mein Besuch auf Erden endet. Das weiß ich. Darüber möchte ich nicht jammern. Ich nehme es hin, aber ich akzeptiere es nicht, das heißt, ich verurteile mich zur Unzufriedenheit mit Veränderbarem. Die Aufzählung könnte ich endlos weiterführen, auch wenn die Leser irgendwo da draußen sich sicherlich über den Stil beklagen, von dem ich weiß, dass er schlecht ist. Um offen zu sein: der Stil ist ein Gebrechen. Nichtsdestotrotz bedarf die Wahrheit bekanntlich keines Stils, wenn sie Inhalt hat. Nur darauf stütze ich mich, auf Inhalt. Ich lasse den Inhalt erbrechen. Deswegen schreibe ich diese Schrift, die voller Mängel ist und nur noch einen Absatz haben wird.
Eine Silbe
Ich befrage mich selbst: Habe ich Grund zur Hoffnung? Nein, offensichtlich nicht. Habe ich Grund zur Verzweiflung? Wenn ich mich umsehe: Ja, offensichtlich. Spätestens jetzt wird man mir Pessimismus oder dergleichen vorwerfen. Das tut man gerne, wenn es mit den Meinungen schlecht bestellt ist. Nur zu. Das bestätigt meine stillose Schrift. Diese Vorwürfe werden ins Leere gehen. Denn trotz alledem besitze ich etwas, das nur eine Silbe hat und mich mit der Geschichte, die hinter uns liegt, und der Geschichte, die vor uns liegt, verbindet, etwas, das mit dieser einen Silbe immer die Freiheit auf seiner Seite hatte und überhaupt erst mit dieser Silbe Geschichte zu Geschichte machte, nämlich: Nein. Ich sage, Nein. Nein zur Belagerung. Und dieses Nein ist der Anfang meiner Existenz. Ich verneine, also werde ich. Ich ergreife Partei für das Leben. Das ist meine Macht, eine Silbe, keine göttliche, keine verewigende, wie das Ja, sondern eine profane, eine, die in jedem Sachverhalt unmissverständlich auf den Menschen verweist, auf Verbündete und Feinde, auf Verantwortliche, ein Nein, mit dem ich zum zweiten Mal geboren werde, nicht als Tier, das Tier bleiben muss, wie beim ersten Mal, sondern als Tier, das Mensch werden will.
*Beitragsbild von Kamil Tybel