vonMesut Bayraktar 15.04.2018

Stil-Bruch

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Eribons Verdienst ist, dass er zeigt, wie der Riss, der durch die Gesellschaft geht, das Individuum zerreißt – ihn zerreißt. In den Wäldern der Klassengesellschaft lauert die Gewalt überall. Sie grinst uns täglich an. Darin spottet unser Dasein unserem Selbst.

Didier Eribon hat uns mit seinem 2015 in Deutschland erschienen Buch Rückkehr nach Reims den Atem geraubt. Warum? Weil er uns mit seiner unbestechlichen Autosozialanalyse fasziniert hat. Er hat Wahrheiten gelüftet, die in den Kulissen sozialer und politischer Lügen seit Jahrzehnten verschleiert werden – mit System verschleiert werden. Reims ist überall, wo Getretene sind, und überall, wohin man schaut, ob in NRW, in Hamburg, Stuttgart oder Berlin, überhaupt in Europa, überall sind Getretene. Für einen Augenblick machte er sichtbar, was sonst die durch Klassengewalt aufrechterhaltenen Machtverhältnisse unsichtbar machen: soziales Elend, soziale Reproduktion, soziale Scham, soziale Unterdrückung. Das wichtigste Ereignis seines Buches war die revitalisierende Handhabbarmachung des Klassenbegriffs. Ja, die modernen Gesellschaften – mag man sie noch so hartnäckig und verlogen mit Euphemismen wie freie, inklusive, liberale, demokratische usw. usf. etikettieren – sie sind und bleiben Klassengesellschaften! Das, was Eribon damals forderte, nämlich eine performative Klassenpolitik, hat er zugleich von sich selbst gefordert; und überdies auch erreicht: die In-Diskurs-Setzung des Klassenbegriffs. Antonio Gramsci hätte dies als diskursiven Erfolg bezeichnet.
Jedenfalls war das notwendig. Um das Chaos der Welt von heute, von der Individuen mit Konkurrenz, Lohnarbeit, Kulturindustrie, Krieg und Kapital belagert werden, zu verstehen, ist der Begriff der Klasse notwendig. Sonst tritt eine unsägliche Desorientierung ein, die wir nur allzu gut aus den kommerziellen Medien, den parlamentarischen Debatten und den fachmännisch-abgehobenen Mündern aus dem Fernsehen kennen. Auch sie tragen nicht wenig dazu bei, dass diese von ihnen potenzierte Desorientierung zu den Rezepten der Rechten verführt.
Daher wiederhole ich, damit es auch die Letzten in diesem Land erfahren: Das wichtigste Ereignis von Rückkehr nach Reims war die revitalisierende Handhabbarmachung des Klassenbegriffs.
Im Folgebuch Gesellschaft als Urteil, das als Teil II und Kommentar gelesen werden muss, dekliniert er den Klassenbegriff durch nach Geschichte, Klasse, Milieu, Familie und Individuum. Der Wesenskern aller Deklinationen, worauf er stößt, ist die den gesellschaftlichen Verhältnissen immanente Klassengewalt westlicher Gesellschaften. „Es ging in diesem Buch weniger um >mich selbst<“, wie Eribon mit Blick auf Rückkehr nach Reims schreibt, „als um die soziale Wirklichkeit, die überall ihre Urteile spricht und ihre Markierungen hinterlässt, das heißt um die Gewalt, die der Gesellschaft innewohnt und sie sogar definiert.“ Diesen Urteilsverkündungen, die Kafka in seiner Literatur bereits am Anfang des 20. Jhd. prophetisch geahnt hat, ist Eribon nun auf der Spur.

Rückkehr heißt Denken

Wie ist eine Rückkehr möglich? Ist sie überhaupt möglich? Offen gesagt, und da wird mir jeder zustimmen, ist eine Rückkehr inmitten eines heraklitischen Fortschreitens von Raum und Zeit eine Unmöglichkeit. Es gibt kein Zu-Rückkehren, es gibt nur ein Voranschreiten. So sind wir gefangen in der Zeitlichkeit des Jetzt, das von Vergangenheit und Zukunft umspült wird. Unsere Geschichtlichkeit und unsere Mitwelt sind kolossale Fliehkräfte im Verhältnis zu der isolierten Kraft des Individuums. Der Möglichkeitsraum, den man >Zukunft< nennt, wird von diesen Fliehkräften permanent präformiert; was nicht heißt, dass die Gegenwart nicht imstande wäre jene Kräfte umzulenken, umzurichten, umzuwerfen oder umzubrechen, um den Möglichkeitsraum, der vor uns liegt, zu öffnen.
Aber was ist die Bedingung für eine Umrichtung? Schon Karl Marx schrieb, dass der Mensch seine eigene Geschichte macht; aber er mache sie nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Gramsci fügte hinzu, unter vorgefundenen Bedingungen, die der Mensch verändert. Insofern ist die Bedingung einer Umrichtung das Erkennen und Verstehen des Vorangegangen, anders gesagt: die Rückkehr.
Tatsächlich ist eine Rückkehr, wie gesagt, unmöglich. Doch sofern mit einer Rückkehr der Versuch einer Rückwendung, oder besser: Wiederaneignung gewagt wird, so könnte dieser Versuch gelingen. Das ist der Versuch, den Eribon anhand seiner Biografie wagt. Er nennt es „soziologische Introspektion.“ Soziologisch, denn die Subjektwerdung ist für ihn durch und durch ein gesellschaftlicher Akt, woraus folgt, dass das Subjekt selbst durch und durch ein gesellschaftliches Produkt ist. Das Subjekt ist das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Eribons Methode: „Meine Befunde erlangen ihren Sinn, wenn sie mit literarischen und theoretischen Texten in Resonanz treten, die sich mit ähnlichen Problemen befasst haben.“ Dabei rekurriert er auf Proust, Nietzsche, Foucault, Genet, Sartre, Beauvoir, Bourdieu, Ernaux, Hoggart, Marx und einigen anderen.
Ebenso wie in Rückkehr nach Reims greift Eribon zu Beginn des Buches nach der insistierenden Präsenz der Fotografie, um sich einholen zu lassen. Denn Fotografien sind in dem, was sie zeigen, unanfechtbar das, was einmal war. Sie sind nicht, bspw. wie in der noch so objektivistischen Malerei, mit einem Mindestmaß an Subjektivität, Restsubjektivität, belastet. Sie sind Lichtfänger sozio-geologischer Körper, d.h. optische Zeugnisse dessen, was unmittelbar und unleugbar war. Das Foto ist Eribons Fenster zum Rückkehrmodus. Anhand der Fotografie schreibt er: „Die >Rückkehr< zwingt einen dazu, den Weg, den man zurückgelegt hat, aufs Neue zu durchdenken und sich zu fragen, was die hergestellte Distanz bedeutet.“
Rückkehr als Versuch einer Rückwendung ist also Denken, Nach-Denken. Worüber aber denkt er nach? Über seine Geschichtlichkeit, die immer aufs Neue im Fließen des Jetzt resultiert. Das ist seine Rückkehr. Das ist eine Dialektik. Das Bewusstsein ist immer der Zu-Spät-Kommende. Dabei versucht er „immer tiefer in die Geheimnisse der sozialen Magie einzudringen, die mit furchtbarer Effizienz dafür sorgt, dass Herrschaftsmechanismen fortbestehen und dass die politische Ordnung sich hält. Man möchte einfach verstehen, wie und warum das alles auch weiterhin >funktioniert<. Wenn diese Ordnung besteht, bedeutet das dann nicht auch, dass jeder von uns auf eine bestimmte Weise an ihrer Reproduktion beteiligt ist?“ Und was macht diese Reproduktion mit dem Einzelnen inmitten eines klassengesellschaftlichen Geflechts; was hat sie mit Eribon, einem homosexuellen Arbeiterkind aus Reims, der zum klassenflüchtigen Intellektuellen aufstieg, gemacht?
Das ist die Kernfrage, die Eribon stellt.

Die Allgegenwart des gesellschaftlichen Seins

Mit der Selbstanalyse anhand der Fotografie geht Eribon über auf die physiologische These Marcel Prousts, die er in seinem Lebenswerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufstellt. Diese These lässt sich in dem Satz zusammenfassen, dass die Lebenden „von den Toten ergriffen“ seien, dass nämlich habituelle Eigenheiten sich durch die Zeit fortsetzen würden. Physische und psychische Züge, „welche die Milieuzugehörigkeit ausdrücken, werden von einer Generation zur nächsten vererbt. (…) Das biologische Erbe wird von den Eltern auf die Kinder weitergegeben und bringt mit der Zeit eine fast absolute Ähnlichkeit zwischen beiden hervor (…); dass die Kinder die Physiognomie und den Charakter ihrer Eltern übernehmen bzw. dass sie diese nach deren Tod geradezu ersetzen. (…) Die Zeit scheint aufgehoben oder besser auf eine zyklischen Wiederholung des Gleichen reduziert worden zu sein.“ Die verlorene Zeit entpuppt sich als errungene Zeitlosigkeit.
Den subtilen Beobachtungen Prousts, die dieser in physiologische Schemata ausdrückt, räumt Eribon ihre Richtigkeit ein, legt jedoch frei, warum die physiologische Kontinuität zwischen Individuen überhaupt möglich ist. Er legt sozusagen das Primat der Physiologie mit der glasklaren Feststellung frei: „Die von Proust beschriebenen Phänomene können sich nur innerhalb eines bestimmten Milieus ereignen.“ Der physiologischen Kontinuität geht also eine gesellschaftliche Kontinuität voraus; die Selbsterhaltung des Milieus. „Die Weitergabe des Klassenhabitus von einer Generation zur nächsten erscheint uns lediglich deshalb als ein biologisches oder physiologisches Gesetz, weil das Milieu alles daransetzt, sich unverändert zu erhalten. Nur weil jede Klasse (oder jeder Teil einer Klasse) und innerhalb dieser jedes Geschlecht ihr bzw. sein eigenes Wesen verstetigen will, können Trägheit und Wiederholung über den Wandel, die Evolution, die Abweichung obsiegen; nur deshalb kann der Anschein entstehen, dass >der Lebende von dem Toten ergriffen wird<.“ Damit enthüllt Eribon das Substrat, um das herum sich die Physiologie wie eine Kruste bildet: nämlich die Sozialität bzw. Gesellschaftlichkeit. Physiologische Kontinuität ist mithin die Folge klassengesellschaftlicher Kontinuität. 

Mit Blick auf Friedrich Nietzsche greift er dessen Theorie der genetischen Kontinuität auf, die Nietzsche am Ausdrücklichsten zu Beginn seines Ecce Homo schreibt, nämlich die „Schmerzen der physiologischen Vererbung. Sein philosophisches Werk habe in der ererbten schwachen Gesundheit seinen Ausgangspunkt,“ eine schwache Gesundheit, die er von seinem Vater geerbt haben soll; daher das große >Ja< zum Leben, das sich wie ein roter Faden durch die Werke Nietzsches zieht. Auch hier unternimmt Eribon dasselbe, wie mit Proust. Gleichwohl das genetische Erbe, das seinen Niederschlag im Körper findet und uns in unserem Spiegelbild täglich verfremdend mit einem >Wer bist du? – Das bist du!< verfolgt, stellt Eribon präzise fest, dass die genetische Kontinuität sich jedenfalls ohne eine soziale und auch geschlechtliche gar nicht erst entfalten könnte. Gerade die Störung sozialer Reproduktionsmechanismen zeigt, dass alle Stränge der Genealogie zusammenfallen. Beispielsweise wenn das Kind von Arbeitereltern durch Bildung und dem Zusammentreffen glücklicher Umstände das Milieu, ja die Klasse verlässt, findet ein solcher Bruch statt. Die identische Reproduktion wird durchbrochen. Das heißt aber auch: „Zwischen Eltern und Kindern entsteht ein Graben; man versteht sich nicht mehr, jeder Bezug zueinander – besonders der affektive – wird erschwert.“ Man verlernt die Sprache der Familie zu sprechen. Diese Erfahrung kennt jedes Arbeiterkind, dass es als eines der ersten der Familie dahin bringt, die Universität zu besuchen. Hier gilt also entsprechend dasselbe: die genealogische Kontinuität ist nur unter der vorausgehenden klassengesellschaftlichen Kontinuität möglich.

Schließlich geht Eribon auf das Problem der Scham über und berührt dabei die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Auch hier räumt er die Berechtigung des aufschlussreichen Werks von Freud ein, aber verweist auf die Dunkelstellen, die die Psychoanalyse innehat. Eribon stellt ganz klar seine Position dar: „Was ist diese innere Welt, wenn nicht das in uns eingeschriebene, allmählich sedimentierte Resultat des andauernden Umgangs mit der äußeren? Psychologische Mechanismen sind nichts anderes als die Verinnerlichung der sozialen Welt mit all ihren organischen Herrschaftsweisen und Hierarchien.“ Das heißt, dass psychologische Identität aus der Identität vorherrschender Klassenstrukturen resultiert. 

Was folgt aus diesen drei kurzen Exkursen, die Eribon, ein organischer Intellektueller aus der Arbeiterklasse, wie Gramsci sagen würde, in seinem Buch ausführt?

Eribon ist ein Richtigsteller. So notwendig die Physiologie, die Genealogie und die Psychologie auch ist, so offensichtlich ist es, dass sie ohne die Rückkoppelung an die Sozialität, an die gesellschaftlichen Verhältnisse, ins Leere laufen, d.h. hinfällig werden. Anders gesagt: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das physiologische, genealogische und psychologische Sein. Die Zerrissenheit des Seins ist demzufolge das Ergebnis der Zerrissenheit der Gesellschaft, die in Klassen geteilt ist und sich in Klassengegensätzen reproduziert. Eribons Verdienst ist, dass er zeigt, wie der Riss, der durch die Gesellschaft geht, das Individuum zerreißt – ihn zerreißt.
Im Grunde genommen, konsequent zu Ende gedacht, liegt die Radikalität solcher Klarstellungen in der Schlussfolgerung, die Kontinuität der Geschichte zu sprengen.
An dieser Stelle hätte Max Horkheimer hinzugefügt, dass „solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.“

Die Wegwischung der Unterdrückten

„Meine >Genealogie<“, schreibt Eribon, „ist grau, sie ist anonym und stumm (…) Meine Genealogie ist die Genealogie der Unterdrückten. (…) Wenn ich etwas über die Vergangenheit erfahren möchte, verfüge ich, abgesehen von kollektiven Abstammungskategorien (das >Volk<, die >einfachen Leute<), über keine Informationen, die meine Großeltern und Urgroßeltern betreffen. (…) Meine Vorfahren dienten den Reichen und Mächtigen, beziehungsweise ihre Arbeit diente den Reichen und Mächtigen dabei, sich weiter zu bereichern. Ihre Vergangenheit verliert sich im Dunkel der Zeiten weit vor dem Mittelalter – in einer Welt allerdings, in der das Recht auf eine Geschichte, auf das jahrhundertelange >Zurückreichen< nicht existiert: in der Welt der Ausgebeuteten.“
Welchen Arbeiterkindern von heute geht es nicht so? Welche spüren diese Leerstelle ihrer geschichtlichen Herkunft nicht, wenn sie auf die Ströme ihrer Abstammung blicken oder welche verblüfft nicht die Ahnentafel wohlsituierter Mitschüler, da sie so etwas noch nie gesehen haben? Welche dieser Kinder können für sich reklamieren, wer ihre Urgroßeltern und darüberhinaus waren, vor allem, wie sie gelebt haben; ich kann es nicht, das gebe ich gerne zu, und wenn wir diesen Versuch wagen, bleibt uns nichts anderes übrig als durch die Fenster herrschender Klassen auf unsere Vorfahren herabzusehen – so wie es die Herrschenden tun. Geschichtsbücher, Memoiren, Briefkorrespondenzen, ja gar auch die große Weltliteratur ist stets von Mitgliedern der herrschenden Klassen geschrieben worden. Nicht nur dies, sondern auch auf dem Klassenstandpunkt der Herrschenden, mit entsprechenden Trägerrollen und Ereignissen. Das ist kein persönlicher Vorwurf; das ist eine Tatsache. Der Sklave, der Bauer, der Arbeiter, der Hausdiener, die Frau aus unteren Schichten spielt selten die Heldenrolle, im Gegenteil: die Helden weiden sich im Schweiß derer, die dem Helden die Bedingungen des Held-Seins sichern. Vielmehr schielen Menschen wie ich durch die Augen großer Helden in Werken eines Tolstois, Balzacs, Goethes usw. auf die Nebenschauplätze, wo die Diener wie Schatten vorbeiziehen, um dem Raum der Helden Plastizität und Fülle zu verleihen. Sie sind statistische Platzhalter. Das ist unsere Bürde. In der Geschichte, die stets eine Geschichte von Klassenkämpfen und Klassenherrschaft war, versinkt die produktive Masse im Schatten der geschichtlichen Anonymität; diese Masse, die schuf, die diente, die machte, die getreten und bespuckt wurde, die analphabetisch war und verrohen sollte. Dieser Zynismus und diese Verachtung gegen die Unteren verstetigt sich bis heute.
Mit jenen Zeilen bringt Eribon zu Wort, was die Unterdrückten täglich im Instinkt ihres Selbsterkenntniswillens spüren: ihre Geschichtslosigkeit, oder anders, die Wegwischung der Unterdrückten aus der Geschichte. An ihrer statt setzt die Klassenherrschaft das „es war einmal“ ein. Diese Erzählung nannte Walter Benjamin seinerzeit in seinem Aufsatz Begriff der Geschichte die „Hure des Historismus.“ Dank dem großen Werk von Karl Marx, – vielleicht sein größtes Verdienst – haben wir seither jedoch einen zweiten Blick auf die Geschichte gewonnen, nämlich den Blick von unten auf die Großen, statt wie bis heute von den Großen nach unten. (Man denke an dieser Stelle nur an das geniale Gedicht von Bertolt Brecht Fragen eines lesenden Arbeiters!) Dieser zweite Blick verrät viel; er verrät, dass die Geschichte bzw. die Rückkehr als das Denken seiner Geschichtlichkeit, aus dem das Selbst permanent resultiert, eine Geschichte von Schweiß, Blut, Tränen, Tritten und Gewalt ist. Auch stellt er permanent die Gegenwart in Frage. Jeder Sieg der herrschenden Klassen erzeugt zugleich ein Unbehagen in der Kultur, weil die unteren Klassen das Tieropfer des Triumphs sind. (Man denke nur an die EU-Politik mit Griechenland.)
Wenn also Eribon in seinen Schlusskapiteln eine Gedächtnispolitik der Unterdrückten fordert, dann wollen wir konsequenter und personeller sein. Wir fordern historische Materialisten. Nur dieser grundlegende Standpunkt des historischen Materialismus, auf dem sich Moral, Ästhetik, Philosophie und Politik erheben muss, „betrachtet es als seine Aufgabe“, wie Walter Benjamin in seinem oben genannten Aufsatz schrieb, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.“ Anders ist Gedächtnispolitik, also eine kollektive Rückkehr der unterdrückten Klassen nicht denkbar; eine Rückkehr, aus der sie ihr Selbstbewusstsein gewinnen, anreichern, rüsten, um wie ein Elefant in die Gegenwart zu springen. Dann, so darf man hoffen, folgt eine Umrichtung, ein Umbruch der Geschichte. Dann enthüllt sich das Sein als Werden. Zumindest ist ein solches Klassengedächtnis unerlässliche Bedingung für die Überwindung kapitalistischer Unterdrückungsverhältnisse.

Gesellschaft als Urteil

An einer Stelle erwähnt Eribon Franz Kafka. Kafka selbst hatte mit der Undurchsichtigkeit klassengesellschaftlicher Hierarchien zu kämpfen. Nicht wenig hat er darunter gelitten. Sein Abzugskanal gegen die Repressionen des Bürgertums war das Schreiben. Deswegen konnte er nicht anders, als Literatur zu sein. Schreiben ist für ihn nicht nur Weltbewältigung, sondern auch Weltkampf gewesen. In diesem Kampf zeigt sich die prophetische Ahnung seines Werkes, nämlich der metallene Stempel, den die Gesellschaft dem Individuum wie auf Wachs eindrückt. Deswegen ist Kafkas Werk die Fackel in düsterer Finsternis. „Man weiß nicht, warum und woher diese Urteile gesprochen werden.“, schreibt Eribon mit Blick auf Kafka, „Aber man entdeckt eines Tages, dass sie uns vorangehen, uns umgeben, uns begleiten, bewerten und ohne irgendeine weitere Erklärung verurteilen. Gesellschaft als Urteil.“
Diese Urteile entziffert Eribon im vorliegenden Buch als Chiffren der Klassengewalt. Wenn nicht das sogenannte „man“, dann möchte ich Eribon für dieses Buch danken, und ich hoffe, dass auch ein Teil III, IV, V usw. folgen wird. Denn auf dem Boden seiner Autosozialanalyse, auf den Abgründen seiner Subjektivität, liegt, wie in aller Subjektivität, das Portal zu universellen Wahrheiten. Diese Universalität heißt Sozialität. Diese Türen und Tore in uns gehören geöffnet, auch wenn es mit Schmerzen und ungeheuerlichen Widerständen verbunden ist. Aber nur wenn diese Türen und Tore in uns, den Unterdrückten, geöffnet werden, in der Kompromisslosigkeit eines delphischen „Erkenne dich Selbst“, nur dann ist es möglich, durch sie hindurch in die Wälder der Klassengesellschaft außer uns zu treten. Und hier lauert die Gewalt überall. Sie grinst uns täglich an. Darin spottet unser Dasein unserem Selbst.


Quellen
Titelbild: ©Stephanie Füssenich
Bilder im Text: http://www.suhrkamp.de/buecher/gesellschaft_als_urteil-didier_eribon_7330.html 

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