Heute feiert Immanuel Kant, am 22. April 1724 in Königberg geboren, den 294. Geburtstag. Welche Rolle hatte er in der Aufklärung und was lehrt uns sein Konzept für heute?
Immanuel Kant ist der Aufklärer der Aufklärung. Das macht ihn bis heute modern. Denn die Entfesselung der Industrie im 19. Jh. und die Grunderfahrung zwei barbarischer Weltkriege im 20. Jh. sowie die fortlaufenden brutalen Verteilungskriege bis heute beweisen, dass wir selbst noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter leben. Sollte die Geschichte so etwas wie hoffnungslosen Optimismus besitzen, ist die zweite Jahrtausendwende u.Z. noch im Skopus der Aufklärung gefangen. Dann könnte man trotz Lohnarbeit, Kapital und Kulturindustrie von Glück sprechen. Was können wir für diesen Fall von Kants kurzer Schrift über die Aufklärung lernen?
Was ist Aufklärung?
Unter dem Eindruck der Virginia Declaration of Rights (1776) und der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) sowie den französischen Aufklärern verfasste Kant 1784 seine epochemachende und programmatische Schrift zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Sie erschien in der Berlinischen Monatsschrift, um die Verwirrung des Pfarrers J.F. Zöllner zu entwirren. Mit dieser Schrift, die so was wie eine klassische Definition der Aufklärung liefert und trotz ihrer Kürze eine verborgene Gedankentiefe besitzt, geschieht etwas nahezu einmaliges im philosophischen Denken. In der haltlosen Bewegung der Geschichte, die damals auf einen Paradigmenwechsel zusteuerte, der fünf Jahre nach Kants Schrift seinen Höhepunkt 1789 im Sturm auf die Bastille fand, hält ein Denker die Geschichte im Gedanken an, um die Epoche seiner Gegenwart zu definieren. Üblicherweise titulieren nachgeborene Generationen die hinter ihnen liegenden Epochen, die wie Fliehkräfte auf ihre geschichtliche Gegenwart wirken. Kant indessen beweist Genie. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass Kants Schrift, und damit die Aktivität seines Denkens, eine augenblickliche Höhe erreichte, auf der sie mit dem Gang der Geschichte, also ihrer Aktualität, zusammenfiel. Wie schon Foucault in seiner gleichnamigen Schrift erkannte, ermöglichte die „reine Aktualität“ des Denkens Kant, die Frage zu stellen: „Welche Differenz führt das Heute im Unterschied zu dem Gestern ein?“
Neben dieser methodischen Besonderheit, die Foucault zu einem „Ethos“ erhob, ist die kurze Schrift Kants geschichtsphilosophischer und politischer Natur. Schließlich sei sein Zeitalter „das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs,“ nämlich des Preußenkönigs Friedrich II., an den er sich mit wohlwollendem Rat wie ein Kanzler wendet, der Heil und Unheil am Horizont herannahen sieht. In geschichtsphilosophischer Hinsicht aber ist diese kurze Schrift der Auftakt einer geschichtlichen Mission der Vernunft, der ihre Aufgaben und Perspektiven in den folgenden Schriften Kants (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795)) diktiert werden. Denn „alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten“, wie Engels jene Zeit charakterisierte. Mit diesen Worten ist das Grundsatzprogramm der Aufklärer, ihr schärfster Vertreter Kant, zusammengefasst. In der französischen Revolution geriet die Vernunft in Ekstase. Man überhöhte sie zu einer Vernunftreligion, ehe sie in Napoleon, dem „Weltgeist zu Pferde,“ ihre Apotheose feiern sollte. Die Vernunft in der Geschichte wurde entdeckt. Die vernunftoptimistischen Erben Kants, die deutschen Idealisten, küren die Vernunft zum Gott der Geschichte. Endlich findet sie drei Jahrzehnte später ihren höchsten Ausdruck als Arroganz der Macht in Hegels Rechtsphilosophie: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
Die fremdverschuldete Unmündigkeit
Wie sieht das Konzept des Aufklärers der Aufklärung aus, das dem Bürgertum bis heute mit Anleihen für die Legitimität ihrer Klassengewalt dient?
Kant definiert die Aufklärung negativ als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit,“ womit die positive Zielbestimmung die Mündigkeit des Menschen ist. Denn „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Selbstverschuldet ist sie, wenn der Mut zur Selbstbestimmung fehlt. Daher der „Wahlspruch:“ Sapere aude! Wenn die Aufklärung ein „Ausgang“ ist, dann ist sie zugleich als Prozess gesetzt. Sie ist ein Prozess des Werdens von Unmündigkeit zur Mündigkeit des Menschen. Sie sollen ihre Geschichte und ihr Sein selbst in die Hand nehmen.
„Faulheit und Feigheit“ seien die Ursachen, „warum ein so großer Teil der Menschen (…) unmündig bleiben“ will. Denn „es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Hier fingiert Kant einen sozialen Tatbestand, der nicht unserer Realität entspricht und nicht der ständischen entsprach. „Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann“, konnten nur zahlungsfähige Klassen, ebenso wie heute, objektiv für sich reklamieren. So reduziert sich der „große Teil der Menschen“ auf eine Clique der Macht. Meint Kant jedoch „den großen Teil der Menschen“ im ernsten Sinn des Wortes, also nominell, so verkennt er, dass eben jener Teil weder die Zahlungsmittel besitzt bzw. besaß noch überhaupt damals alphabetisiert war, um überhaupt ihr Selbst entdecken zu können. Die produktiven Klassen, Bauern wie Arbeiter, die erst mit Manufaktur und Industrie allmählich entstehen, waren neben ihrem materiellen Elend politisch umnachtet. „Faulheit und Feigheit“ sind oberflächliche Wirkungen der Unmündigkeit, die die Klassenstruktur einer sozialen Ordnung damals wie heute erzeugt, indem sie den Mut zur Selbstleitung raubt. So enthüllen sich die Wirkungen als Ermattung und Resignation. Insofern lässt sich Kants Formel umkehren. Insofern könnte man Kants „Ausgang“ mit gutem Recht in die Formel umkehren, dass die Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der fremd verschuldeten (oder mindestens unverschuldeten) Unmündigkeit ist. Die Heteronomie der Vielen war und ist die Kehrseite der Autonomie der „selbstverschuldet“ Zahlungskräftigen. Unter dem Begriff „Mensch,“ so wie ihn Kant verwendet, verschwindet diese soziologische Differenz in der Indifferenz der Anonymität. Damit verschleiert Kant den materiellen Boden, auf dem sich die Aufklärung zum gestirnten Himmel erhebt.
Die Schranken der Freiheit
Wie soll sich der Mensch von seinen Vormündern, wie z. B. „ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät erteilt usw.“, befreien können?
Die Aufklärung, so sein politisches Konzept, erfordert die Freiheit der Vernunft. Dabei unterscheidet Kant zwischen dem öffentlichen und privaten Vernunftgebrauch. Mit Ersterem ist er „als Gelehrter (…) vor dem ganzen Publikum der Leserwelt“ gemeint. Hier ist die Vernunft unbeschränkt. Jeder Bürger kann in der „Qualität eines Gelehrten“ auftreten.
Das Zweite meint soziale Funktionen, wo Pflichten gegenüber dem bürgerlichen Gesellschaftskörper, bspw. als Amtsträger oder schlicht als Steuerzahler, bestehen. Diese Pflichten diktiert die Wirtschaftsordnung, auf der sich Staat und Gesetz erhebt. In Kants Worten heißt das, „Teil der Maschine“ zu sein. Diese „Maschine“ verkörpert den politisch-ökonomischen Gesamtzusammenhang. Hier darf die Vernunft beschränkt werden. Die „Maschine“ hat Vorrang, der Mensch bleibt Anhängsel der Maschine.
Der praktische Ausdruck der Freiheit ist also die freie Presse und, wie schon Karl Marx die vierte Gewalt deklarierte, ist „die freie Presse das überall offene Auge des Volksgeistes, das verkörperte Vertrauen eines Volkes zu sich selbst.“
Damit endet die Praxis Kants, die zum aufgeklärten Zeitalter führen soll, bis der Mensch „mehr als Maschine ist“ und auf die Staatsmacht zurückwirkt, sodass sie ihn „seiner Würde gemäß zu behandeln“ beginnt. Aufklärung und „Maschine“ sind versöhnt. Die kantische Utopie des Bürgertums ist erfüllt. Und dennoch wird ermahnt: „Räsoniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“ Für Gehorsam und „öffentliche Ruhe“ hat ein „Heer“, also Polizei und Militär, zu sorgen. Mündig-Sein scheint ohne Repression nicht zu klappen. Die Dialektik in Kants Schrift erreicht hier ihren Höhepunkt. Die mit Blick auf heute relevante Frage ist die nach der Bedingung aller Freiheit, die Kant permanent voraussetzt. Sie entpuppt sich als Doppelcharakter der Vernunft.
Kant, ein Seiltänzer
Was Aufklärung ist, beantwortet die Antwort auf die Frage, was Vernunft ist. „Verstand ohne Leitung eines anderen“ heißt, wie Horkheimer und Adorno erkannten, ein „von Vernunft geleiteter Verstand.“
Zum einen ist die Vernunft die Instanz des sachlichen Kalküls. Sie hierarchisiert die Begriffe. Hier waltet die „Maschine,“ die allem den Stempel des Alternativlosen aufdrückt und im Sachzwang die Individuen zwingt sich ihrer normenden Logik zu beugen. Diese Tendenz ist konformistisch. Auch die emotionale Struktur des Menschen leidet darunter. Sie wird rationalisiert, sobald sie Impulse des Widerstrebens anzeigt. Sie hat sich anzupassen an die technokratische Kälte der Vernunft. Der Sachzwang perpetuiert sich.
Zum anderen hat die Vernunft die Bestimmung der Kritik, um sich und die Welt zu reinigen, damit ein menschenwürdiges Dasein geebnet wird. So sucht sie in der skeptischen Selbstreflexion permanent den Fluchtraum für eine freie Assoziation freier Individuen zu öffnen, die zugleich allesamt Philosophenkönige sind, um den in der Geschichte noch körperlosen Traum der klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen.
Der kritische wie der Verwaltungscharakter gehört zugleich zur Vernunft, was Kants Sapare Aude und seine drei Kritiken beweisen. Im Ergebnis hat die zur Aufklärung leitende Vernunft also auf der einen Seite die berechnende „Maschine“, die alles Werden unter ihre Sachzwangsontologie subsumiert, mithin Menschen zu Vernunftmaschinen normt, und auf der anderen Seite hat sie das kritische Moment der Reinigung inne, die Bedingung zur Mündigkeit ist.
In Verlegenheit bringt sich Kant nun damit, dass „der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, in der Frage [liegt]: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?“ Könnte es das aber, bräuchte es keinen Gesetzgeber über sich, da es ja selbst sein eigener Gesetzgeber wäre. Das Volk würde alle von ihm ausgehende Gewalt unter sich organisieren, statt dass sie oben gegen es als Staatsgewalt organsiert wird. Die Staatsgewalt würde sich obsolet machen. Sie würde aufgehoben sein. Hier streiten sich die zwei faustischen Seelen in Kants Brust. Die „Liebeslust,“ die sich an die Welt klammert, drückt dabei den Willen zur kritischen Seite der Vernunft aus und die „Gefilden hoher Ahnen“ die Hörigkeit zur herrschenden, sachwaltenden Seite der Vernunft. Die Kollisionen beider in der Vernunft selbst sind unvermeidlich, auch wenn Kant diese mit dem Apell an den Monarchen Friedrich II. als Versöhnung zu verkleiden versucht, obwohl er einige Jahre später, paradox genug, im ewigen Frieden ein Europa der Republiken fordert. Kant erinnert hier an Nietzsches Seiltänzer. Der Seiltanz ist ebenso selbstverräterisch. Die zur Aufklärung leitende Vernunft kann nicht Inquisition und zugleich Befreierin sein. Entweder zerstört sie den Aufklärungsprozess oder sie verwirklicht ihn. Beide Rollen hat die Vernunft im Pendel zwischen sozialer Barbarei und sozialem Fortschritt in der Geschichte oft zu erfüllen gewusst. Die eine sucht die Bejahung des Bestehenden, um das Werden zu versteinern, und die andere ist die Negation des Bestehenden, um das Werden zu entfesseln. So oder so: Die Vernunft ist totalitär.
Die Vernünftigen von heute
Heute jedoch steht die Welt im Korsett des globalisierten Sachzwangs. Die Vernunft des Bürgertums enthüllt sich als globale Zerstörungswut des Kapitals. Man denke an das „Management“ in der EU-Krise. Die offizielle Vernunft verkündet überall: So, wie es ist, bleibt es. Aber schon Hegel sah die Dialektik der Vernunft voraus, in der „der Kampf der Vernunft darin [besteht], dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.“ Es scheint, dass die kalkulierende Seite der Vernunft sich mit ihrer allumfassenden Macht selbst verwirklicht hat als alles fixierenden Verstand, wohin sie die Gesamtvernunft, die regrediert, mitschleift. Das zu überwinden, heißt, sich der Vernunft der Negation zu bedienen, der Kritik also, der Selbstverständigung in und mit der Zeit, um das Werden atmen zu lassen. Folglich besteht die Konkretisierung der Mündigkeit darin, wie Adorno schon sagte, „dass die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, dass die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“ Unter diesem Gesichtspunkt hat Kants kurze Schrift herausragende Relevanz. Damals verlangte die Erziehung zum Widerspruch unbeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit. Heute, wo wir sie haben und zum Schweigen erzogen werden, verlangt die Erziehung zum Widerspruch unbeschränkte soziale Freiheit. In diesem Sinn hat „die Vernunft (…) immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.“ Heute verkleidet sich die Unvernunft, die sachzwangskonforme Stereotypen bildet, in vernünftiger Form und suggeriert einen Schein der Mündigkeit, der den Siegeszug einer Pseudoindividualität feiert.
Wer heute an die Vernunft appellieren will, wie es Kant in einer vernunftoptimistischen Epoche tat, und zugleich das Versprechen der Aufklärung einfordert, muss in der Epoche des Vernunftpessimismus danach fragen, wer die Vernünftigen sind. Vernünftig, das sind aber heute die Unvernünftigen, die das kalkulierende Medusenhaupt mit Worten und Knüppeln, mit Waren und Preisen zu Stein denunziert.
Sie haben homerischen Durst. Sie sind Lebensbejaher.
Titelbild/Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kant5.jpg (Zur Wiederverwendung gekennzeichnet!)
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