vonMesut Bayraktar 18.06.2018

Stil-Bruch

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Nach fünf Jahren verabschiedet sich Armin Petras als Schauspielintendant des Stuttgarter Staatstheaters mit George Orwell’s „1984“ – ein digitaldystopisches Effekttheater

Armin Petras hat in seiner letzten Inszenierung als Schauspielintendant des Staatstheaters Stuttgart einen spektakulären Abgang hingelegt. Mit George Orwells Roman „1984“ hat er aus dem Theater so gut wie alles rausgeholt, was es technisch rauszuholen gibt; viel Musik, viel Nebel, viel Farbe, viel Begeisterndes und viel Kraft, abgerundet durch ein panoptisches Bühnenbild des Grauens (Bühnenbild: Olaf Altmann). Die Inszenierung gehört zu den stärksten der endenden Spielzeit. Zuweilen glich sie einem bebenden Rockkonzert, das die Körper zum Zittern brachte. Höhepunkt dieses Kraftausdrucks war, als der großartige Christian Friedel, der einen mephistophelischen Großen Bruder abgab, gemeinsam mit dem ebenso beeindruckenden Wolfgang Michalek, der O’Brien mit zynischem Witz und finsterer Skrupellosigkeit spielte, in dämonischem Antlitz durch die Reihen des Publikums schwebten. Allerdings liegt hier – trotz allen Lobs, den man in anderen Theaterkritiken lesen kann und der hier nicht wiederholt zu werden braucht – eine von zwei Schwachstellen der Inszenierung, auf die ich folgend näher eingehen möchte.

Ein Rausch der Effekte

Petras Dramatisierung von „1984“ funktioniert lediglich mit den zwar berauschenden, aber überbordenden Musikeinlagen der Woods of Birnam (Band von Christian Friedel). Die Leerstellen der Dramatisierung des Stoffs sind gefüllt mit Musikpaste, mit zu viel Musik, die teilweise nicht im inhaltlichen Zusammenhang mit der dystopischen Geschichte rund um das Tagebuchführen des sehnsuchtserfüllten Winston Smith, herausragend gespielt von Robert Kuchenbuch, steht. Das Theater und ebenso das Schauspiel wird streckenweise, vor allem im ersten Teil der Inszenierung, zur Nebensache gemacht. Statt dass die Musik das Schauspiel begleitet, bespielt das Schauspiel die Musik von Friedel. Damit stehen Friedel und seine Band den ganzen Abend im Lichtkegel der nebelumhüllten Scheinwerfer.

Lässt man sich aber nicht von den gewaltigen Triebregungen der schreienden Bässe fesseln, fällt auf, dass die Einlagen der Band dramaturgische Lückenfüller sind. So katapultieren die reißenden Rockschläge das Publikum von einer szenischen Episode in der atmosphärischen Tristesse Ozeaniens in die andere. Mehr Ruhe, mehr Geduld, mehr Geist hätte der Inszenierung, die sich zuweilen aus dem ästhetischen Glanz ihrer Bildmacht zeugte, nicht geschadet, wollte sie denn überhaupt den Gedanken zum Denken stimulieren, anstatt das Gefühl in Rausch zu verrühren, ein Rausch, der das Publikum in der Gefangenschaft seiner Affekte umschloss.

Doch wie es scheint, wollte Petras auf romantische und blitzende Effekte setzen; nicht auf die unterhaltende Erkenntnis, nicht auf das Spiel des Denkens. Dass er solche Effekte zu erzeugen vermag, mögen sie auch kurzlebig sein, was einen Effekt ausmacht und von einer Erkenntnis unterscheidet, muss man Petras anerkennen. Symbolisch hat sich der Effekt der Inszenierung im matt-silbernen Kostüm von Julia (Lea Ruckpaul) manifestiert, das beim Darüberstreichen unter entsprechender Beleuchtung Gold glänzte. Dieses Darüberstreichen ist gar in Szene gesetzt worden, auch wenn man sich fragt, warum eigentlich. Wahrscheinlich wegen des schönen Wow-Effektes.

Aber großes Theater sucht nicht den Effekt, es durchbricht ihn, indem es über ihn hinausschreitet. Das Hinauskommen über Effekte hat die Inszenierung gerade wegen der regelmäßigen Dazwischenkunft durch die Musik oder der Fokussierung auf atemanhaltende Kostüme selten erreicht. Die Effekte haben die Inszenierung aufgestachelt und wieder zurückgestoßen in die Herrschaft unter die Effekte. Effekte sind amüsant, ohne Zweifel, aber durch sie wirkte das Stück wie das Produkt eines musicalförmigen Apparats.

Gelungen ist der Inszenierung das Hinwegsetzen über Effekte beispielsweise nach der Pause in der bluttriefenden und beklemmenden Konfrontation zwischen O’Brien und Smith. Dieser Abschnitt war, dramatisch betrachtet, der Höhepunkt der Inszenierung.

Mensch und Maschine

Die zweite Schwachstelle ist inhaltlicher Art. Ich werde hier nicht auf den Roman und dessen Inhalt eingehen. Vielmehr möchte ich mich ganz der Inszenierung zuwenden.
Es ist mutig von Petras, „1984“ in eine kybernetische Digitaldystopie umzuwerten, wo Likes in Face-Heften gesammelt werden etc. Dabei handelt es sich bei der Dramatisierung keinesfalls um eine billige Romanadaption, wie sie so oft dem Theater mehr Schaden als Nutzen bringt. Durchaus ist anzuerkennen, dass Petras aus dem Roman etwas Selbstständiges herausgearbeitet hat: er hat Transferarbeit geleistet. Das ist lobenswert. Allein deshalb lohnt sich der Besuch der Aufführung.

Doch der Konflikt, auf den die Dramatisierung hinausläuft, ist der eines abstrakten Gegensatzes zwischen Mensch und Maschine; abstrakt, weil Smith’ Sehnsüchte romantisiert werden und der Panoptismus des Großen Bruders zur entpersonalisierten Macht metaphysiziert wird. Was diesem Konflikt fehlte, war (und diese Kritik ist zulässig, eben da Petras den Punkt einer reinen Adaption überwunden und ein selbstständiges Stück inszeniert hat, dem andere Maßstäbe als dem Roman selbst gesetzt werden dürfen) der Rekurs auf Eigentums- und Produktionsverhältnisse.

Ich will diesen Aspekt mit Fragen aufhellen: Wem gehörten die Maschinen, die die Menschen beherrschen und kybernetisch reformulieren? Wer profitiert vom Dasein der überall seienden und wirkenden Augen der Maschine? Wer sieht durch diese Augen hindurch? Welches existentielle Interesse verfolgt O’Brien? Wie schlägt dieses individuelle Interesse in ein gesellschaftliches um? Was macht seine Position strukturell stärker als die des Smith, der im Ministerium der Wahrheit die Vergangenheit umschreibt, um die Macht des Großen Bruders in der Gegenwart zu stabilisieren? Zu welchem Zweck werden die Maschinen verwendet? Sind sie nur Mittel innerhalb eines totalitär-staatlichen Verwaltungsapparates, oder auch Mittel der Produktion von Mehrwert? Welche soziale Klasse zieht ihren Nutzen aus der Maschine? Handelt es sich in der Entgegensetzung zwischen Smith und O’Brien um typologische Repräsentanten bestimmter sozialer Klassen, oder wird uns das Milieu von „1984“ schließlich doch nur als postmodernistische Gesellschaft der Klassenfreiheit vorgestellt, wo soziale Klassenantagonismen ebenso wie heute zu kaschieren versucht werden? usw. usf.

Das Spektakel der Bühne

Diese Fragen werden nicht formuliert, geschweige denn aufgeworfen. Vielmehr hat man den Eindruck, dass die Maschine als sinnlich-übersinnliches Universalding ein selbständiges Dasein hat. So regrediert das Dystopische von „1984“ dahin, dass die Maschine als darwinsche Mutation vorgestellt wird, die in der Evolution die Gattung Mensch als Schöpfer der Maschine ablöst. Hätte Petras aber die genannten Fragen aufgegriffen, so wäre der Inszenierung eine gewisse Klassendramatik verliehen worden, die den Roman Orwells vom Gefilde seiner herkömmlich plumpen, antikommunistischen Propaganda, die bei genauerem Nachdenken reaktionär ausfällt, herausgerissen hätte. Dann hätte die Inszenierung gezeigt, dass der dystopische Gegensatz von Mensch und Maschine ein verhinderbarer wäre, weil er mit den sozialen Verhältnissen verstrickt ist.

Doch so zeichnet uns Petras vielmehr die Dystopie, die Ängste, die Furcht einer weltbürgerlichen Clique von philanthropischen Neoliberalen auf, die die soziale Frage schon gar nicht mehr zu sehen imstande sind; die soziale Frage, mit der sich die Weltgeschichte immer wieder zur Geltung bringt und bringen wird, mag man sie auch mit so viel Post-Ismus wie möglich leugnen. Insofern ist die Inszenierung aus dem Standpunkt eines linksliberalen Ethos gemacht, das seine Hölle im Schein der Bühne sanktioniert, ohne seinen eigenen Standpunkt grundlegend in Frage zu stellen. Die Inszenierung ist vielmehr eine Selbstbestätigung der Klassenprivilegien von heute, die es im Angesicht einer >bösen< Maschine zu verteidigen gilt. Ansonsten: 1984, oder 2048, oder 2084…! Dass aber diese Privilegien die Kehrseite einer Klassenherrschaft sind, die erst der Maschine ihren Funktionscharakter im Klassenkampf einschreibt, die Maschine zum Repressionsinstrument macht, den Zwang der Maschine totalisiert, ist – wie soll es auch anders sein – ausgeklammert.

So verkümmert die Inszenierung, die viel Applaus erhält und gleichsam die Ränge füllt, zu einem neoliberalen Mausoleum wirkungsmächtiger Bilder, die mit ihren Stichen romantische Emotionen aus dem Herzen bluten lassen, worin der Untergang des radizierenden Gedankens besiegelt wird. Das Spektakel der Bühne wird, mit Guy Debord gesprochen, zum Ereignis für die Gesellschaft des Spektakels.

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