Nach zwei großen Tragödien, »Vögel« und »Orestie«, wurde am 18.11.2018 in der Spielzeit des neuen Intendanten Burkhard C. Kosminski eine Komödie uraufgeführt. Im Stuttgarter Kammertheater wurde das Auftragsstück vom österreichischen Erfolgsautor Clemens J. Setz »Die Abweichungen« inszeniert. Trotz der anzuerkennenden Bemühungen der Regie von Elmar Goerden war das Stück gähnend langweilig. Das lag vor allem an der Schlaffheit des Textes und der Inkonsequenz seiner Hipsterdramatik. Da liegt die Frage nicht fern, wie so ein mittelmäßiges Stück es auf die Bühne eines Staatstheaters bringen kann, wo es doch berufen zu sein scheint, in einem ländlichen Gemeindetheater provinzielle Kleinbürger zu unterhalten, damit sie beschwingt ins Bett springen können, da ihr Leben doch so hart und anmutig ist.
Kleinbürgerkosmos
Gemeinhin wird Setz gerühmt für seinen grotesken Humor und seiner bitteren Ironie. Zu sehen war davon allerdings nicht viel. Die Dialoge waren hohle Selbstgespräche der Figuren, die im Übrigen – unabhängig von den Schauspielern – den Reichtum von Strichmännchen hatten (beileibe nicht wie Kafkas!), welche man nach einem guten Mittagessen auf das Papier rotzt. Die Sprache, in der man vergeblich nach raffinierter Bühnenpoesie wie bei Stücken über Kleinbürger beispielsweise in Horvaths »Kasimir und Karoline«, in Frischs »Biedermann und Brandstifter« oder Brechts »Kleinbürgerhochzeit« sucht, brillierte mit einer Prosa fatalistischer Plattheit. Weder Lachen noch Trauern und vor allem nicht Denken war ihre Wirkung. Vielleicht sollte man auch gar nicht denken. Vielleicht meinte es Setz ernst, wenn er in der Szene mit der Kunstausstellung durch Lautsprecher sagt, dass es ihm um „ekstatische Wahrheit“ ginge, die, was er nicht bemerkt zu haben scheint, vielmehr in eine ekstatische Langeweile umschlägt. Im Grunde genommen soll der Ausruf, und die gesamte Szenenkonzeption, den Glauben an eine Metaphysik der Kunst entgegen der Profanität der Welt eröffnen. Überhaupt fehlt dem Stück die Aufnahme von Welt. Vielleicht muss man daher Setz beim Wort nehmen, wenn Walter Oesterle (gespielt von Boris Burgstaller) nach gut einer Stunde in eruptiver Selbstaufwallung seiner Tochter zubrüllt: „Man muss mir nicht zuhören.“
Das Stück wirbt damit, dass es eine Komödie sei. Was ist aber eine Komödie, wo niemand lacht? Dabei hat das Lachen in einer Komödie die zentrale Funktion, Verdrängungen im Alltag wie durch ein Ventil als betrübende oder befreiende Wahrheit in Erscheinung treten zu lassen, um mit ihr den Alltag zu verklagen, wo die Verdrängungen unmöglich als das ausgesprochen werden können, was sie sind, ohne sich dabei zu zerreißen. Eine solche Komödie ist nichts als grausame Unterhaltung, vielleicht vergleichbar mit dem Sendungsprogramm von RTL, Sat1, VOX oder wie sie alle heißen; zynisch, kulturindustriell, geldgeil. Dort werden systematisch Verdummte im Bildschirm Dummköpfen vor dem Bildschirm vorgeführt, damit letztere – wenn auch nur für die Länge der Sendung – sich als Kluge missverstehen. Das Risiko eines solchen Missverständnisses ist bei Setz’ Stück nicht zu unterschätzen, sofern sich ins Publikum Dummköpfe einschleichen. Auch die laienhafte Konstruktion eines Konflikts zwischen kleinbürgerlicher Privatsphäre und Kunstfreiheit im Sinne eines Kleinbürgers, worin dieser Konflikt wohlständige Kleinbürger zum Teil in lächerliche Existenzkrisen führt, ist schwerlich ernst zu nehmen oder mit Heiterkeit aufzunehmen. Immerhin stellt das Stück im Kosmos seiner Kleinbürgerlichkeit eine wichtige Frage: Lohnt es sich, über solche Stücke, die nichts Abschaffenswertes in der Welt zeigen, zu schreiben oder zu debattieren? Darüber können Kritiker oder Theaterwissenschaftler nachdenken.
Wenn es jedoch wirklich etwas gab, was die Aufführung in gewisser Weise rettet, dann die lebendige Spiellust und gestische Energie von Josephine Köhler (Emely Osterle/die Kuratorin), die stärkere Stücke braucht, um zu werden, was sie ist. Diese Botschaft hat man ihr angesehen. Solche jungen Schauspieler machen Hoffnung, dass vielleicht mal eine zeitgenössische Dramatik mit politischem und gesellschaftlichem Verständnis aus ihrem Koma erwacht, um solchen Darstellungskünstlern zur vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu verhelfen. Das würde nicht zuletzt Fähigkeiten außerhalb der Bühne freisetzen.
Jassim und Epikur
Was sind die Abweichungen? Ganz leicht. Zum einen billige Kopfkonstruktion, wo die wesentliche Frage unterschlagen wird, nämlich die, warum die einzige Arbeiterin im Stück, die Putzfrau Jassim (auch billig, bloß mit einem ausländischen Namen das Rassismusproblem und die Flüchtlingsdebatte ins eklektische Themenkonglomerat des Stücks einzukleistern), die Wohnungen ihrer Arbeitgeber detailgetreu nachbaut und zugleich minimal verändert (Spielzeugkrokodil im Flur von Familie Schab, bei den Kaindls ein zweites Kind im Kinderzimmer – was auch immer die Verweise zu bedeuten haben, wenn sie nicht bloß formale Funktionen haben sollen), um am Tag x ohne irgendeinen Grund oder irgendeine Begründung Selbstmord zu begehen.
Zum anderen billige Anleihe vom großen Philosophen im Garten, nämlich Epikur, der als Schüler von Demokrit die deterministische Atomtheorie desselben mit der berühmten Deklination des Atoms von der geraden Linie modifiziert hat, um die materialistische Freiheit des Menschen im antiken Leben zu begründen. Die „Zwischenwelt“, in der Jassim gelebt haben und wo sie ihre „Kunstwerke“ in einem kleinen Kämmerchen nach und nach aufgebaut haben soll (einziger Hinweis zu Jassim!), steht für die Intermundien, von denen Epikur behauptet, dass in ihnen die Götter ohne Anteil an der Gestaltung und Regierung der Welt selig und sorglos leben. Diese beiden Gesichtspunkte, die ich hier mit Blick auf das Stück nicht weiter ausführen möchte, bilden den Titel: »Die Abweichungen«, freilich ohne rahmenüberschreitende Deklination von Atomen aus der geraden Linie. Das Stück ist vielmehr die gerade Linie selbst.
Zum Schluss der Inszenierung setzen sich Emily Osterle und Tom Kaindl (gespielt von Julius Forster) in einen rückwendig gelegten Schrank mit aufgeklappter Tür. Sie simulieren unter Dämmung des Lichts und plötzlicher Einsetzung extrem lauter Musik den Start eines Raumschiffs. Die Klaviatur der Gefühle wird bespielt. Ein Manöver gegen das Triebwerk setzt an. Da die Aufführung bis dahin ziemlich unspektakulär verlief, muss man annehmen, dass mit diesem inhaltlosen Spektakel – auch wenn die Szene für sich brauchbar war – der Affektapparat des Publikums aufgereizt werden soll. Warum? Damit man zumindest Gefühle mit nach Hause nehmen kann, die an Burger und Pommes von McDonalds oder Burger King erinnern, welche genervte und unterbezahlte Mitarbeiter in Papptüten über die Theke schieben. Nachdem die Burger im Magen sind und sich dort in Plastik verwandeln, wird einem entweder schlecht oder man bereut es, seinen Hunger damit besänftigt zu haben. Dasselbe Gesetz wirkt nach dem Schluss des Stücks, sobald man das Theater verlassen hat. Fazit: »Die Abweichungen« ist Kleinbürgertheater, das man mit dem nächsten Stuhlgang vergisst.
Titelbild: Copyright Björn Klein