vonMesut Bayraktar 05.08.2019

Stil-Bruch

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Kürzlich lese ich in der Zeitung, dass jede zweite gesetzliche Rente weniger als 900 Euro beträgt. Betroffen sind rund 9,4 Millionen Menschen, alte Menschen, entwürdigt. Und 58,6 Prozent der Rentner bekamen letztes Jahr weniger als 1.000 Euro im Monat, nach Abzug der Sozialversicherung und vor Abzug von Steuern. Vor allem sind Frauen betroffen.

Die meisten müssen noch im Alter schuften, um über die Runden zu kommen. Nicht nur, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt den größten Niedriglohnsektor in der Europäischen Union hat – wegen der herrschenden Wirtschaftsordnung müssen sich in der Bundesrepublik mehr als die Hälfte der Rentner weiterhin ausbeuten lassen. Dabei braucht jemand wie ich etwa 900 Euro, um über die Runden zu kommen, jemand, der gerade einmal 29 ist, sich in einem Zweitstudium befindet, den Konsumsumpf meidet, dann und wann Bücher kauft, ledig und Raucher ist, keine Kinder hat und in einem durchschnittlichen WG-Zimmer mit überdurchschnittlicher Miete wohnt, d.h. die Hälfte seines Einkommens auf die Miete draufgeht und die andere Hälfte auf Mittel für die Lebenserhaltung.

Beim Gedanken, dass hinter den Zahlen 9,4 Millionen trostlose Lebensrealitäten von über 63/67 Jährigen stehen, scheinen Bilder in meinem Gedächtnis auf, die mir aus meinem Viertel in Wuppertal, von Verwandten, von Großeltern meiner Freunde und von Begegnungen aus Mieterinitiativen und anderswo bekannt sind. Diese Bilder haben mit den 9,4 Millionen zu tun. Ich habe, nachdem ich die Zeitung wieder zuschlug, einen ganzen Tag gebraucht, damit diese Wut abkühlt und die Bilder Sprache werden. So verstehe ich sie und kann mit ihnen arbeiten, kann mich gegen ihre Verursacher wehren: Das sind die Lorbeeren, die dir die Klassengewalt als Dank für den Gehorsam nach über sechzig Jahren um den Hals legt, um ihn allmählich zuzudrücken, bis du endlich unter der Erde vergessen wirst und der Tod gesiegt hat. Die Alten werden geschlagen, die Jungen, die nichts tun oder tun können, weil sie nicht wissen was, stehen Schlange.

Meiner Generation wird nicht nur eine lebensfreundliche Erde, sondern auch eine armutsfreie Zukunft verweigert.

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